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Dr. Karl Renner und der Antisemitismus#

Karl Renner – auch nur ein Mensch und kein „Säulenheiliger“#

Franz Schausberger

Am 13. Dezember 2020 veröffentlichte der STANDARD einen umfassenden Kommentar von Frau Doris Bures, Zweite Präsidentin des Nationalrats (SPÖ) und Präsidentin des Karl-Renner-Instituts. In dieser Lobeshymne auf Karl Renner wirft Frau Präsidentin (bzw. ihr Ghostwriter) mir nicht mehr und nicht weniger als unlautere Methoden vor, um dieses „Denkmal“ zu beschädigen oder gar einzureissen. Dieser sehr politische Vorwurf würde mich als Politiker (der ich lange nicht mehr bin) nicht kratzen, als habilitierter Historiker für Neuere Österreichische Geschichte kann ich ihn allerdings so nicht stehen lassen. Die Aussage von Frau Präsidentin Bures: „Eine Bewertung bloß aus heutiger Sicht, in Wohlstand und angenehmer demokratischer Sicherheit, sowie ohne seriöse historische Einordnung vorzunehmen, muss klarerweise zu verzerrten und selbstgefälligen Beurteilungen führen“, kann ich nur voll und ganz unterstreichen, allerdings muss dies dann für alle historischen Persönlichkeiten gelten. In diesem Sinne muss bei aller Notwendigkeit der klaren Ablehnung etwa des populistischen Antisemitismus Karl Luegers auch die sachbezogene Diskussion über einen Antisemitismus Karl Renners geführt werden können. Dabei dürfen die großen Verdienste beider Persönlichkeiten um die Republik Österreich und die Stadt Wien nicht geschmälert werden. Ich habe die historische Leistungsbilanz Karl Renners nie in Abrede gestellt, ihn aber auch nicht – wie Frau Bures – zu einem „Säulenheiligen“ oder zu einem „Denkmal“ emporgehoben, weil dies für Politiker einer demokratischen Republik grundsätzlich keine passende Kategorisierung ist.

Nun zu dem Vorwurf, ich hätte Zitate Renners aus seinen parlamentarischen Reden verkürzt und aus dem Zusammenhang gerissen wiedergegeben, obwohl sie von Renner nur provozierend und sarkastisch gemeint gewesen seien. Das sind grundsätzlich immer jene Argumente, die verwendet werden, wenn man keine sachlichen Argumente vorzubringen in der Lage ist. Herausgegriffen wird dabei eine Rede Renners vom 23. November 1920, in der er in extrem zynischer Weise, die durchaus auslegungsfähig ist, die Christlichsozialen, die nun die Regierung stellten, zur Lösung des Judenproblems auffordert. „Während sie (die Juden) in unserer Jugend, Herr Kollege Kunschak, noch bescheiden in der Leopoldstadt wohnten, haben sie jetzt Mariahilf und alle Bezirke überschwemmt, sie sind gediehen unter Ihrem glorreichen antisemitischen Regime“.

Wann immer er konnte, verband Renner die Begriffe „jüdisch“ oder „Juden“ mit negativen Konnotationen. Es ging ihm nicht um die Schleichhändler in Wien generell, es waren immer die „jüdischen Schleichhändler“, die er anklagte, obwohl es nach dem Krieg eine große Zahl nicht-jüdischer Schleichhändler gab. (23. November 1920)

Es ging ihm nicht darum – wie man es von einem Sozialdemokraten durchaus erwarten konnte – das Großkapital, den Manchesterliberalismus generell und die Banken zu kritisieren, es ging ihm um das „jüdische Großkapital“ um die „jüdischen Banken“ und den „jüdischen Manchesterliberalisus“. (15. April 1921)

Karl Renner geriet schon 1910 wegen seiner antisemitischen Äußerungen ins Visier der „Jüdischen Volksstimme“: „Die sozialdemokratischen Führer, die während der Wahlperiode um unsere Stimmen betteln und von uns Geld für ihren Wahlfonds schnorren, pflegen dafür die Juden zu beschimpfen. Es ist nicht die erste antisemitische Flegelei, wenn am letzten Dienstag der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Renner im niederösterreichischen Landtag von einem ‚jüdischen Dreh‘ sprach. Dieser Parlamentsbibliotheks-Beamte, der sich so gern auf den Gelehrten herausspielt, glaubt sich damit wahrscheinlich die Gunst seiner Favoritener Wähler zu erringen. Er stellt aber damit nur sich und seinen Wählern das ärgste Zeugnis aus: dass sozialdemokratische Gesinnung mit antisemitischem Pöbelton vereinbar ist.“ (20. 10. 1910) Kein Wunder, dass der prominente Sozialdemokrat Friedrich Adler schon 1917 Renner als „Lueger der Sozialdemokratie“ bezeichnete.

Renner ritt zahlreiche Angriffe auf die Christlichsozialen und vor allem Bundeskanzler Seipel und warf ihnen „in ungewohnt drastisch antisemitischem Ton“ (so der Renner-Biograf Walter Rauscher) ihre Verbindung zu den Juden vor, unter deren Einfluss sie stünden: „Sie (Die Christlichsozialen) stehen heute in der Gefolgschaft des jüdischen Großkapitals, ganz offen gesagt, der jüdischen Banken.“ (15. April 1921) Er kritisierte heftig die Verbindung Seipels zum jüdischen, wirtschaftsliberalen Redakteur der „Neuen Freien Presse“, Moritz Benedikt, den er noch dazu wegen seines jüdischen Idioms diffamierte: „Benedikt der Jüngere, das war der Einbläser des Professors Seipel, und alle Ideen, die Benedikt der Jüngere mit den Verrenkungen seines Stils in jenem grotesken Deutsch produziert hat, alle diese Ideen Benedikts des Jüngeren sind in dem salbungsvollen Priestertone wiedergekehrt im Munde des Professors Seipel.“ (7. März 1921)

Renner attackierte Seipel wegen dessen jüdischen Finanzberaters Dr. Gottfried Kunwald, durch den das gesamte Kleinbürgertum unter das jüdische Großkapital gezwungen werde. (26. November 1922). Er warf Finanzminister Gürtler die Heranziehung des jüdischen Volkswirtschaftlers Dr. Wilhelm Rosenberg als Experten vor. Damit habe sich das Herausgehen der Sozialdemokraten aus der Regierung als richtig herausgestellt. Der zähen Taktik Seipels sei es gelungen, das ganze Kleinbürgertum unter die Führung des jüdischen Großkapitals unterzuordnen, „indem Sie Seipel endlich auf den Thron unserer Finanzen das edle Paar gesetzt haben: Christ und Jud, Doktor Gürtler und Dr. Rosenberg.“ (13. Oktober 1921)

Das, was Renner in den 1920er Jahren im Nationalrat von sich gab – so der Journalist und Politikwissenschaftler Herbert Lackner schon 2013 - stehe „den antisemitischen Sagern des notorischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger nicht nach…Renners Antisemitismus hatte wieder andere Wurzeln: Er verschmolz mit jenem verschwörungstheoretisch aufgeladenen Antikapitalismus, den sowohl die Linke wie auch die extreme Rechte pflegten, zu einem bösen Konglomerat“.

Karl Renner trat vom Beginn der 1. Republik an bis zu ihrem Ende 1938 immer vehement für den Anschluss an den Staat Deutschland ein, "zu dem wir der Natur der Dinge nach gehören".

Das nicht gedruckte Plakat#

Renner unterbreitete nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten 1938 dem Wiener NS-Bürgermeister Hermann Neubacher das folgende Angebot: „Ja, ich möchte sie bitten, dass sie mir die Möglichkeiten verschaffen, entweder in der Zeitung oder in Aufrufen, die man auf Plakaten drucken könnte, die alten Sozialdemokraten Wiens in meinem Namen aufzurufen, am 10. April für Großdeutschland und Adolf Hitler zu stimmen.“ Er verwendete nicht den neutraleren Begriff „für den Anschluss“ sondern „für Adolf Hitler“.

Das Plakat wurde zwar gedruckt, aber nicht ausgeliefert. Die Parteikanzlei der NSDAP erlaubte nur ein von ihnen autorisiertes Interview. In dem Interview mit der Neuen Wiener Zeitung am 3. April 1938 mit dem Titel „Ich stimme mit Ja“ erklärte Renner, dass er seit 1919 in zahlreichen Schriften und Versammlungen den Kampf um den Anschluss weitergeführt habe. Den nunmehr vollzogenen Anschluss – obschon nicht mit jenen Methoden, zu denen er sich bekenne – betrachte er „als wahrhafte Genugtuung für die Demütigungen von 1918 und 1919, für St. Germain und Versailles. Ich müßte meine ganze Vergangenheit als theoretischer Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wie als deutschösterreichischer Staatsmann verleugnen, wenn ich die große geschichtliche Tat des Wiederzusammenschlusses der deutschen Nation nicht freudigen Herzens begrüßte. Nun ist diese zwanzigjährige Irrfahrt des österreichischen Volkes beendigt, es kehrt geschlossen zum Ausgangspunkt, zu seiner feierlichen Willenserklärung vom 12. November zurück. Das traurige Zwischenspiel des halben Jahrhunderts 1866 bis 1918 geht hiemit in unserer tausendjährigen, gemeinsamen Geschichte unter. Wie werden also Sie und Ihre Gesinnungsgenossen stimmen? Als Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, als erster Kanzler der Republik Deutschösterreich und als gewesener Präsident ihrer Friedensdelegation zu St-Germain werde ich mit Ja stimmen.“

Renner wusste sehr wohl, dass die Volksabstimmung nicht mehr frei und geheim war und was Hitler seit 1933 in Deutschland angerichtet hatte und er wusste auch, dass seine prominenten Genossen Robert Danneberg, Felix Kanitz und Paul Schlesinger gleich nach dem Einmarsch der NS-Truppen in Österreich verhaftet und ins KZ gebracht worden waren, wo sie später umkamen. Den Österreichern des sogenannten Prominententransports vom 1. April 1938 in das KZ Dachau, darunter auch Leopold Figl, wurde die Erklärung Renners von den NS-Schergen mit Spott und Hohn vorgelesen.

Sowohl 1938 wie auch noch nach 1945 bekräftigte Renner selbst, dass er die Erklärungen aus freien Stücken abgegeben habe. Seinem Freund Ferneböck sagte Renner auf die Frage, ob er dies unter Zwang getan habe: „Nein, das ist meine Überzeugung“. Darauf sein Freund: „Dann war das das letzte Wort, das ich mit Dir geredet habe.“

In der englischen Zeitschrift „World Review“ begründete Renner im Mai 1938 seine „Ja“- Erklärung, die vor allem bei ausländischen Sozialisten auf Unverständnis gestoßen war: „In deren Presse ist da und dort die Vermutung aufgetaucht, die Erklärung sei in einer Zwangslage abgegeben. Um Mißverständnisse auszuschließen, stelle ich fest, daß ich spontan und in voller Freiheit mich geäußert habe, allerdings ohne mich mit Parteifreunden vorher beraten zu können…Ich sprach somit ausdrücklich nur für meine Person, jedoch in dem Bewußtsein, daß mein Wort viele ehemalige Parteimitglieder bestimmen wird.“
Marko Feingold, KZ-Überlebender und Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg, erklärte 2013 in einem Interview anlässlich seines 100. Geburtstags: „Ich habe einen Zorn auf Renner, er musste als Politiker genau gewusst haben, was in Deutschland passiert ist. Renner war aber begeisterter Befürworter des ‚Anschlusses‘ an Hitler-Deutschland.“

Im Dezember 1938 verfasste Renner das Manuskript „Die Gründung der Republik Deutschösterreich, der Anschluß und die Sudetendeutschen - Dokumente eines Kampfes ums Recht“, in dem er den „Anschluss“ Österreichs und der sudetendeutschen Gebiete – und die Handlungsweise Hitlers sehr ausführlich positiv darstellte. Renner lobte darin die „beispiellose Beharrlichkeit und Tatkraft der deutschen Reichsführung“. Das Manuskript blieb damals unveröffentlicht, da Hitler der Herausgabe der Broschüre durch die rasche Annexion des Sudetenlandes zuvorkam.

Der Text wurde erst 1990 von Eduard Rabofsky ediert und kommentiert. Anton Pelinka merkte dazu 2009 an, dieser zweite Anpassungsschritt Renners sei von der Sozialdemokratie nach 1945 de facto unterschlagen worden, er sei in keiner der sozialdemokratischen Renner-Biographien aufgetaucht. 2012 äußerte der Historiker Oliver Rathkolb die Ansicht, Renner hätte 1945 nicht österreichischer Staatschef werden können, wäre dieser Text damals bekannt gewesen. Die Bezeichnung „Säulenheiliger österreichischer Unabhängigkeit und Freiheit“ ist nach all dem wohl etwas weit hergeholt.

In der Zweiten Republik#

Auch nach 1945 änderte Renner seine Haltung gegenüber den Juden nicht. Die Österreichische Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, von Karl Renner mitentworfen und unterschrieben, erwähnte das Schicksal der jüdischen Österreicher in der NS-Diktatur nicht. Es ging ihm darum, etwaige Reparationszahlungen an die NS-Opfer zu verhindern. Renner: „Für den Judenschaden soll grundsätzlich die Volksgesamtheit nicht haftbar gemacht werden“. Auch gegen die Rückkehr von Vertriebenen bzw. geflüchteten jüdischen Österreichern leistete Renner hinhaltenden Widerstand.

In der Kabinettsratssitzung am 29. August 1945 ging Renner auf die „kleinen“ Nationalsozialisten und die Juden ein und stellte fest, „dass alle diese kleinen Beamten, diese kleinen Bürger und Geschäftsleute bei dem seinerzeitigen Anschluss an die Nazis gar nicht weit tragende Absichten gehabt haben – höchstens, dass man den Juden etwas tut ! –, vor allem aber nicht daran gedacht haben, einen Weltkrieg zu provozieren.“ Wenn diese schwer bestraft würden, würde die Stimmung umschlagen – so Renner – und dies umso mehr „als es fast keine Familie, auch keine sozialistische Arbeiterfamilie gibt…die nicht in der näheren oder ferneren Verwandtschaft Leute hat, die mit den Nationalsozialisten mitgegangen sind.“

Diese Aussage Renners wurde von den Renner-Biografen Siegfried Nasko und Johannes Reichl als eine unglaubliche Entgleisung Renners bezeichnet.

In einer Ansprache vor dem Palästina-Komitee im Februar 1946 sagte Renner zur Zukunft von Juden in Österreich: „Was auch immer die Regierung tun mag, die jüdische Gemeinde kann sich nie erholen…Unter russischem Einfluss werden nun verstaatlichte Volkswirtschaften aufgebaut, die jüdischen Familienfirmen keinen Platz einräumen werden. Und selbst wenn es Platz gäbe… glaube ich nicht, daß Österreich in seiner jetzigen Stimmung Juden noch einmal erlauben würde, diese Familienmonopole aufzubauen. Sicherlich würden wir es nicht zulassen, dass eine neue jüdische Gemeinde aus Osteuropa hierher käme und sich hier etablierte, während unsere eigenen Leute Arbeit brauchen.“

Dazu Marko Feingold 2013 in der Wiener Zeitung: „In Wien hatte sich schon die provisorische Regierung unter Karl Renner etabliert. Sie hat dort Befehl gegeben, uns nicht durchzulassen. Es hat geheißen, auf Befehl dürfen keine KZler, keine Juden und keine Vertriebenen zurück. Denn insbesondere Renner hat sich hervorgetan, man müsse sich jetzt um die Wiener Bevölkerung kümmern, weil sie hat doch ihren Führer verloren. Und so entstanden dann die Freibriefe, die Persilscheine und alles Mögliche. Renner war vor dem Krieg der Erste, der mit fliegenden Fahnen zu den Deutschen übergelaufen ist. Was der sich geleistet hat ... Der Renner-Ring muss weg!“

Im Jahr 2018 wurde Feingold – selbst SPÖ-Mitglied – noch deutlicher: „Karl Renner, immerhin erster Bundespräsident der Zweiten Republik, war in der Partei schon lange bekannt gewesen als Antisemit. Er hat uns KZ’ler nach dem Krieg nicht in Wien haben wollen und er hat auch offen gesagt, dass Österreich ‚denen‘ nichts zurückgeben werde. Aber das war Diebstahl! Damit war er für mich erledigt.“

Franz Schausberger, Historiker, Universitätsprofessor für Neuere Österreichische Geschichte.
Ehemaliger Landeshauptmann von Salzburg.