Ilse Friesen: Die weiblichen Heiligen im Stephansdom #
Ilse Friesen: Die weiblichen Heiligen im Stephansdom. Ein Nachschlagewerk mit zeitgenössischen Betrachtungen. Verlag Berger Horn 2019. 496 Seiten, ill., € 39,90
Mit dem Material, das Ilse Friese für ihr jüngstes Werk zusammengetragen hat, hätte sie mehrere Bücher füllen können. Doch hat sich die Kunsthistorikerin und Theologin anders entschieden. Für die Geleitworte konnte sie Kardinal Christoph Schönborn, Dompfarrer Toni Faber und Domarchivar Reinhard H. Gruber gewinnen, der ihr "buchstäblich Tür und Tor zum Stephansdom geöffnet hat." So war es auch möglich, die Kunstwerke im nächtlichen, menschenleeren Sakralraum zu fotografieren. Die meisten Aufnahmen stammen, wie im kürzlich erschienenen Dürer-Almanach der Autorin vom Tiroler Werner Schwarz.
Im neuen, 500-seitigen Werk geht es um die weiblichen Heiligen im Stephansdom. Neben 98 heiligen Männern sind dort 33 heilige Frauen in Bildern und Skulpturen dargestellt. Pläne und Diagramme verraten, wo man sie finden kann. Außerdem beantwortet die Allgemeine Einleitung Fragen nach der Heiligkeit, zur Hagiographie und Geschichte der Verehrung. Der Hauptteil Die 33 weiblichen Heiligen im Stephansdom ist alphabetisch gegliedert, von Afra, einer der frühesten Glaubenszeuginnen nördlich der Alpen, bis zur angelsächsischen Adeligen Walburga, die im 8. Jahrhundert in Süddeutschland missionierte. Man lernt die Biografie (so weit vorhanden) und verschiedene Legenden, oft in Originalzitaten, kennen. Es folgt die Erklärung der Patronate, Attribute und Verehrung. Den Kern bilden ausführliche Erklärungen der Darstellungen im Dom und anderen Wiener Kirchen. Jedes der 33 Kapitel schließt mit Anregungen für die Gegenwart, ein Pendant zu den persönlichen Bildbetrachtungen im Dürer-Buch. Ilse Friesen schreibt: Dabei gilt es allerdings, die Werte und Vorstellungen unseres patriarchalischen Kulturerbes im Kontext einer christlichen Spiritualität, die ökumenisch ausgerichtet sein soll, zu hinterfragen.
Zu hinterfragen sind selbstverständlich auch die Legenden, von denen man - im Unterschied zu früheren Generationen - weiß, dass es sich nicht um Tatsachenberichte handelt. Viele Verehrte haben gar nicht gelebt. Von den 33 beschriebenen Frauen im Dom sind weniger als die Hälfte historische Persönlichkeiten. Ausgerechnet die Beliebtesten von ihnen beruhen lediglich auf Legenden, wie Barbara, Katharina, Margarete oder Cäcilia, während Sophia und Veronika sozusagen nur aus ihrem Namen zu Frauengestalten gebildet wurden. Je weniger über eine Person bekannt ist, umso üppiger fallen die Mythen aus. Legendäre Lebensbeschreibungen entsprechen dem christlichen Ideal, dem die Gläubigen nacheifern sollten. Es geht dabei um die Konzentration der Verdienste vor Gott, Gnadenerweise und Wundertaten. Die Vita folgt oft biblischen Vorbildern, daher sind die Schilderungen ähnlich, individuelle Züge selten. Die typische Heilige ist von Anfang an erwählt, schön, klug, würdevoll, demütig und einfach. Sie verschmäht die Freuden des Lebens, betet viel, ist wohltätig, freundlich und friedliebend. Weibliche Heilige verweigern die Ehe mit einem Heiden, sie verstehen sich als „Braut Gottes" und gehen konsequent in den Tod. Ein beliebtes Motiv sind die "Heiligen vom unzerstörbaren Leben". Es findet sich in frühen Überlieferungen als Zeichen besonderer Heiligkeit. Märtyrerinnen wie Barbara oder Dorothea werden vielfältigen Foltern unterworfen und durch himmlische Hilfe bewahrt oder geheilt, bis schließlich das Todesurteil vollstreckt wird. Die danach gewirkten Wunder - die wiederum bestimmten Typen folgen - nehmen breiten Raum ein. Legenden wurden in den Klöstern bei Tisch vorgelesen, daher der Name „legenda“, die zu lesenden Kapitel. Eine der berühmtesten Sammlungen ist die Legenda Aurea des Dominikaners und Erzbischofs von Genua, Jacobus a Voragine (+ 1298). Nach heutigem Verständnis wirken Geschichten und Darstellungen sadistisch, wenn etwa Apollonia ihren ausgeschlagenen Zahn in einer riesigen Zange hält oder Lucia ihre ausgestochenen Augen auf einem Tablett präsentiert.
Mag man dies zur eigenen Beruhigung ins Reich der Phantasie verweisen, so müsste beim Reliquienkult aus heutiger Sicht eigentlich von einer Leichenschändung gesprochen werden. Teile heiliger Skelette galten im Mittelalter als wundertätig, Wallfahrten zu ihnen erwiesen sich als Wirtschaftsfaktor für die betreffenden Kirchen. So soll man schon bei der Aufbahrung der heiligen Elisabeth von Thüringen (1207-1231) versucht haben, Reliquien zu gewinnen. Haare, Fingernägel, Ohren und Finger wurden abgeschnitten, später trennte man ihr sogar den Kopf ab. Mönche präsentierten das Haupt Friedrich II. Der - zeitweise exkommunizierte - Kaiser ehrte es durch eine mit Edelsteinen besetzte Krone und ließ ein wertvolles Reliquiar anfertigen, das sich heute in einem Stockholmer Museum befindet. Einige Gebeine der heiligen Elisabeth kamen 1588 nach Wien, wo der (angebliche) Schädel im Elisabethinenkloster alljährlich für einige Tage ausgestellt ist. Ihre Eindrücke davon - wie auch von der mumifizierten Annahand - schildert die in einer gemischt evangelisch-katholischen Familie aufgewachsene Autorin in persönlicher, respektvoller Weise. Sie studierte in Wien, München und Innsbruck Kunstgeschichte und war Mitarbeiterin des Bundesdenkmalamts, ehe sie vier Jahrzehnte in Kanada lebte und lehrte. Nach Österreich zurückgekehrt, widmet sich Ilse Friesen wieder den hiesigen Kunstschätzen und hat u. a. über die Heilige Kümmernis publiziert.
Im Stephansdom, der als Allerheiligenkirche konzipiert war, machen die heiligen Frauen rund ein Drittel der dargestellten Patrone aus. Am häufigsten (16-mal) ist Katharina dargestellt, gefolgt von Barbara (neunmal) Elisabeth (siebenmal), Margarete und Maria Magdalena (je sechs mal). Die meisten der mehr als 70 Abbilder findet man am Bischoftor, das in das Frauenschiff mit dem Frauenchor führte, in dem seit 1952 der spätgotische Wiener Neustädter Altar steht. 14 weibliche Heilige zieren die Brüstung des 1513 vollendeten Grabmal des Kaisers Friedrich III. 2009 schuf Alfred Hrdlicka eine damals umstrittene Büste der Märtyrerin Sr. Restituta Kafka. Als weitere Kunstwerke folgten Mutter Teresa, Hildegard Burjan, Veronika und Sr. Edith Stein. 2013 wurden in einer temporären Installation sieben Gestalten "ins Licht gerückt". Die Frauen sollten nicht länger im Dunkel des Sakralraums verborgen bleiben.
In Wien gibt es mehr als 200 Kirchengebäude, 90 katholische Kirchen sind männlichen, 27 weiblichen Heiligen geweiht (mit Ausnahme der Marienkirchen). Das Verhältnis der Darstellungen von zwei zu einem Drittel, wie im Stephansdom, ist in den anderen Gotteshäusern noch krasser. Die Autorin schätzt, dass es sich um dreimal so viele männliche wie weibliche Persönlichkeiten handelt. Sie hat nun vor, in einem weiteren Band alle in den mehr als 50 Kirchen Wiens vorhandenen weiblichen Heiligen vorzustellen, deren Zahl über 70 ist. In ganz Wien lassen sich also künstlerische Darstellungen von über 100 heiligen Frauen finden.