Brigitta Schmidt-Lauber u. a. (Hg.): Wiener Urbanitäten#
Wiener Urbanitäten. Kulturwissenschaftliche Ansichten einer Stadt. Herausgegeben von: Brigitta Schmidt-Lauber, Klara Löffler, Ana Rogojanu und Jens Wietschorke. Ethnographie des Alltags, Band 1. Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar 2013. 392 S., 67 Abb., € 39.00
Der Begriff Alleinstellungsmerkmal, die Lehnübersetzung eines 1940 entstandenen englischen Ausdrucks, hat sich etabliert. Als Alleinstellungsmerkmale gelten Besonderheiten, die nur einem Produkt, einer einzigen Stadt oder Einrichtung eigen sind und daher für Werbezwecke genutzt werden können. Für Wien ließen sich etwa Kaffeehaus, Schnitzel, der Mythos von der Musikstadt oder historistische Prunkbauten nennen. Vor fünf Jahren hat sich der Soziologe Lutz Musner mit jenem speziellen "Geschmack von Wien" beschäftigt. Inzwischen ist die "typisierende und typisierte Alltagserfahrung der medial und literarisch vielfältig inszenierten Spezifik Wiens wissenschaftlich legitimiert", schreibt Brigitta Schmidt-Lauber in ihrem Artikel im Sammelband "Wiener Urbanitäten".
Univ. Prof. Brigitta Schmidt-Lauber leitet seit 2009 das Institut für Europäische Ethnologie an der Universität Wien. Ethnographische Stadtforschung ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Nun hat sie, mit Klara Löffler, Ana Rogojanu und Jens Wietschorke, einen Sammelband herausgegeben, der die Wien-Klischees kritisch befragt. In einer Reihe 19 ethnographischer und historischer Fallstudien, bebilderter Essays und Momentaufnahmen über und aus Wien beschreiben ebenso viele Autor/innen städtische Handlungsorte und Lebenswelten. Es geht um die Stadt und Phänomene in der Stadt ("Anthropology of the City" bzw. "Anthropology in die City"). Ein Ereignis, das in einer Stadt stattfindet, muss nicht als aussagekräftig für diese und vice versa gedeutet werden. Die Stadt, lernt man, "ist weder zufälliges noch planbares Produkt, sondern wird auf komplexe Weise … ausgehandelt und geschaffen." Dem trägt schon der Buchtitel "Urbanitäten" Rechnung. Die Vertreter/innen der Alltagskulturwissenschaft Europäische Ethnologie, die am Wiener Institut tätig sind, tragen damit der Heterogenität städtischer Lebensweisen Rechnung.
Heterogenität sei in mehrfacher Hinsicht ein Prinzip des Buches, liest man im Vorwort. Die Beiträge "bilden kein gezielt gestecktes Blumenbouquet, sondern eher eine Art bunten Wiesenblumenstrauß, in dem aktuell Vorhandenes beziehungsweise Entstandenes locker zusammengestellt ist." In unterschiedlichen Formaten und Stilen betrachten sie Orte, Szenen, Bewegungen und Eindrücke. Der Besuch der "Orte" beginnt im Volksgarten. Elke Krasny nimmt Anstoß an der 1921 von Josef Müllner geschaffenen Figur des "Atlethen" vor dem Theseustempel. (Der Bildhauer ist heute wegen seiner Unterstützung des Nationalsozialismus umstritten.) Herbert Nikitsch untersucht die Genese der Straßenbenennungen des Nibelungenviertels in Rudolfsheim-Fünfhaus. Sie erfolgte 1912 und wird vom Autor mit der damals aktuellen Mittelalter- und Wagner-Begeisterung in Beziehung gesetzt. Jens Wietschorke besucht "Die Staatsoper und ihr kulturelles Souterrain", die Opernpassage. Birgit Johler und Magdalena Puchberger arbeiten an einem Forschungsprojekt über das Volkskundemuseum in der Zwischenkriegszeit. Sie bringen erste Ergebnisse über das Zusammenwirken von Laien und Experten in der volkskundlich-pflegerischen Arbeit. Lukasz Nieradzik und Anton Tanter stellen zwei ehemalige Wiener Institutionen in ihrem historischen Kontext vor: Die im 19. Jahrhundert etablierte Großschlächterei in St. Marx bzw. das Wiener Frag- und Kundschaftsamt, das im 18. Jahrhundert entstand.
Der zweite Abschnitt, "Szenen", beginnt mit einer Ethnographie des Abschieds. Daniela Schadauer hat die letzten Wochen des Südbahnhofs den Bau und seine Besucher beobachtet. Ein besonders spannendes Kapitel sind die Analysen von Brigitta Schmidt-Lauber zum akademischen Ritual der Sponsion an der Universität Wien. Es erklärt darüber hinaus Grundsätzliches, was zum Verständnis der Europäischen Ethnologie, wie sie jetzt in Wien gelehrt wird, notwendig ist: "Aus der Fachgeschichte der Volkskunde sind wir sensibilisiert für vermeintliche Überbleibsel aus uralten Zeiten. Wir verstehen es, sie genauer unter die Lupe zu nehmen und vielfach als neue Erfindung zu erkennen ...," verweist die Ordinaria auf die "invention of tradition". (1984 hatten die englischen Historiker Eric Hobsbawn und Terence Ranger die Erfindung von Traditionen betont.) "Die Deutung kultureller Zeichen und Handlungen ist unser Geschäft." Die Europäische Ethnologie fragt "nicht nach der vermeintlichen Authentizität und weniger nach dem Ursprung eines Rituals, sondern nach der Bedeutung, die das Ritual und die Inanspruchnahme von Geschichte heute für Einzelne, für die Gruppe und für die Institution hat. … Demnach schafft rituelles Handeln das, was es bezeichnet." Ganz andere als akademische "Szenen" behandeln Svenja Reinke ("Straßentauben als teilhabende Akteure des Wiener Stadtraums") und Anna Stoffregen ("Als Volonteer bei der Fußballeuropameisterschaft in Wien"). Siegfried Mattl beschreibt "Urbane Sequenzen in Wiener Amateur- und Gebrauchsfilmen". Das dritte Kapitel, "Bewegungen" übertitelt, vereint vier Beiträge. Birgit Johler: "Möbel und Körper im Museumsquartier Wien", Charlotte Räuchle: "Lebende Statuen auf dem Stephansplatz", Monika Hönig: "Im Lift", Klara Löffler: "Streckenänderung".
Die "Eindrücke" im vierten Abschnitt sind vor allem akustischer Art. Ana Rogojanu hat das Atmosphärenkonzept im Sinne der "parcours commentés" erprobt. Sie ging mit drei Personen durch die Josefstadt und ließ sich deren spontane Eindrücke erzählen. Jochen Benz untersuchte das "Gesprächssummen" auf dem Sportclub-Fußballplatz. Peter Payer hat Abhandlungen über "Wiener Lärm" um 1900 schon andernorts publiziert. Hier legt er den Fokus auf die Bestrebungen des Volkskundlers Michael Haberlandt, der hoffte, der Lärmproblematik durch Erziehung beizukommen. Der Museumsdirektor forderte anno 1900: "In jeder Schule sollte als elftes Gebot gelehrt werden: 'Du sollst nicht lärmen.'" Der Band schließt mit dem Artikel von Malte Bolsdorf: "Der gedehnte Blick auf ethnographisches Material zu Gehörlosigkeit in Wien". Dazu hatte er mit Svenja Reinke, die Tauben im Park beobachtete, ein "Ethnographisches Tandem" gebildet. Notizblock, Kamera und persönliches Forschungstagebuch dienten dabei als Hilfsmittel.
Zeitgenossen Jacob Grimms (1785-1865) hatten dessen philologische Vorgangsweise als "Andacht zum Unbedeutenden" charakterisiert. Der Ausdruck des Spotts wurde bei ihm zum "Ehrennamen". Auch manche Forschungsgegenstände der "Wiener Urbanitäten" erscheinen unbedeutend, doch wurden sie nicht "andächtig" beschrieben, sondern ideologie- und historisch-kritisch analysiert. Dabei stehen zu bleiben, wäre nicht die Aufgabe kulturwissenschaftlicher Forschung. "Vielmehr gilt es gerade in der Arbeitsweise der Europäischen Ethnologie, den verschiedenen Bedeutungsdimensionen nachzuspüren und speziell die Perspektive und Erfahrung der unterschiedlichen Akteure zu fokussieren", schreibt Brigitta Schmidt-Lauber. Mit dem vorliegenden, stattlichen Sammelband hat sie unter dem Titel "Ethnographie des Alltags" eine neue Schriftenreihe ihres Instituts begründet. Die Reihe versteht sich als Publikationsforum für qualifizierte kulturwissenschaftliche Arbeiten aus dem Vielnamenfach Volkskunde / Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Empirische Kulturwissenschaft, die Fragen der Alltagskultur aus ethnographischer Perspektive reflektieren. Dabei ist an Studien zu alltagskulturellen Themen in Geschichte und Gegenwart, Monographien, Tagungs- und Sammelbände gedacht. Auf die Themen der weiteren Bände darf man gespannt sein. „Wiener Urbanitäten“ jedenfalls, wirbt der Verlag, "sind eine Fundgrube für alle, die an Wien und der Vielfalt des Städtischen allgemein interessiert sind."