Dietmar Grieser: Wege, die man nicht vergißt#
Dietmar Grieser: Wege, die man nicht vergißt. Entdeckungen und Erinnerungen. Amalthea-Signum Verlag Wien 2015. 280 S, ill., € 24.95
Kaum ist Dietmar Grieser von seiner "Landpartie" zurückgekehrt (das gleichnamige Buch erschien 2013), macht er sich literarisch wieder auf den Weg. Der Spurensucher, den man besser Spurenfinder nennen sollte, begibt sich diesmal auf "Wege, die man nicht vergißt" . Zunächst führt die Lesereise der Entdeckungen und Erinnerungen nach Wien, dann in die Orte der Kindheit und Jugend des Autors. Weitere Ziele liegen "Draußen im Land" und "Draußen in der Welt".
Grieser-Fans wissen, dass der vielfach Prämiierte seit 1957 Wahlwiener ist. Die ersten Kapitel widmet er dem Ankommen in der Stadt, in der er seit fast sechs Jahrzehnten lebt. Hier expliziert der Autor die Methode, die er zum Erfolgsrezept perfektionierte: Die Annäherung zu Fuß. "Ich lasse mir dabei Zeit, nehme bewußt auch Umwege in Kauf, schaue genau hin, höre genau zu." Auf den Speisekarten entdeckt er "Exotismen" wie Erdäpfel, Karfiol oder Vogerlsalat. Schnell lernt der damals 23-jährige Hannoveraner Wiener Spezialitäten wie die Durchhäuser schätzen. Deren Zahl ist wahrscheinlich auch Einheimischen nicht genau bekannt: Es gibt 144 "freiwillig bis auf Widerruf gestattete Durchgänge." Gleich vier Kapitel sind den - oft wechselnden - Straßennamen gewidmet, die Spiegel des Zeitgeistes waren und sind. Das jüngste Beispiel ist der Dr.-Karl-Lueger-Ring, der 2013 zum Universitätsring mutierte. So manches Geheimnis wird gelüftet, etwa dass es sich bei der "freudlosen Gasse", der Hugo Bettauer 1923 einen Fortsetzungsroman widmete, um die Neustiftgasse handelt. Der Schriftsteller gab ihr das Pseudonym Melchiorgasse. Veza Canetti nannte die Ferdinandstraße in ihrem Roman "Die gelbe Straße".
Ein Exkurs widmet sich den Straßenhändlern, Hausierern und Schnorrern. Während die "armen Teufel" ihr karges Einkommen mühsam erwerben mussten, reflektieren letztere auf "bargeldlose Verköstigung". Und im Unterschied zu den Straßenhändlern stirbt der in Wien außerordentlich präsente Typ des Schnorrers nicht aus. "Keine Vernissage, keine Pressekonferenz, kein Botschaftsempfang ist vor ihm sicher. … Zum echten Schnorrer gehört, daß er am Gegenstand der Veranstaltung nicht das geringste Interesse hat." Bei der Schilderung seiner Pseudokollegen kann der Autor aus dem Vollen schöpfen und köstliche Begebenheiten zum Besten geben, besonders vom legendären "Schnorrerkönig Poldi Waraschitz" (1900-1970).
Dietmar Grieser schätzt, dass er 15 Mal, nicht immer freiwillig, übersiedelt ist. In den Kindheitsjahren zwischen drei und elf erschien ihm das Haus des Großvaters in der König-Ottokar-Straße im oberschlesischen Leobschütz (Glubczice, Polen) als "Nabel der Welt". 1945 wurden Familien mit Kindern aufgefordert, ihre Häuser für immer zu verlassen. Der Elfjährige landete mit Mutter und Bruder in Bayern. Die Großmutter, die länger in der Heimat bleiben wollte, überlebte die Fahrt im Vertriebenenzug nicht.
Nach den Studentenjahren in Münster begann die Siedlungskontinuität des Bestsellerautors in Wien. Das hindert ihn nicht, vier Kontinente recherchierend zu bereisen. Meist folgt er den Fährten berühmter Berufskollegen, aber auch von Pilgern - Stichworte: Via Sacra, Jakobsweg … - oder Kaisern. "Draußen im Land" handelt vom südmährischen Dorf Slawikowitz, wo Joseph II. den Pflug führte oder dem Kuraufenthalt des Preußischen Kaisers Wilhelm, nach dem Bad Gastein einen Promenadeweg benannte. "Draußen in der Welt" bestehen viele berühmte, alte Verkehrswege - "Von der Via Appia zur Via Mala". Ihnen ist das umfangsreichste, letzte Kapitel gewidmet. Denn, so wusste schon Friedrich Schiller (Wilhelm Tell): "Jede Straße führt ans End' der Welt".
Die literarischen Miniaturen erinnern an eine Bonbonniere. Man kann sich den Inhalt genüsslich Stück für Stück auf der Zunge zergehen lassen. Doch auch wer, (neu-)gierig geworden, alles auf einmal verschlingt, hat seinen Genuss und nimmt keinen Schaden. Die exzellente Qualität bürgt dafür.