Gerhard Tötschinger: Vom Schaumburgergrund ins Lichtental#
Gerhard Tötschinger: Vom Schaumburgergrund ins Lichtental. Die Wiener Bezirke IV bis IX.
Amalthea Signum Verlag Wien. 256 S., ill., € 22,95
Es ist noch nicht lange her, als der Verlag ankündigte: "Wien, wie man es noch nicht kennt … Gerhard Tötschinger, der begnadete Geschichtenerzähler, nimmt Sie mit auf eine aufregende Entdeckungsreise … Freuen Sie sich auf die Fortsetzung der Reihe!" Und schon ist es so weit. Hatte der 1. Band in die Innere Stadt, den zweiten und dritten Bezirk geführt, so geht es nun in die restlichen Vorstädte.
Der Autor beschreibt seine Exkursionen in bewährt lockerer Art: "Wir werden nicht chronologisch vorgehen, was heißt hier überhaupt logisch ? Eine wörtlich logische Ordnung kann es in solch einem Buch nicht geben. Auch werden wir nicht exakt von Gasse zu Gasse wandern … wir schlagen keine Wanderrouten vor. Da oder dort wird der Ton sehr persönlich werden, wenn der Autor von seiner eigenen Wien-Geschichte eingeholt wird."
Die erste dieser persönlichen Wien-Geschichten ereignet sich gleich auf der Wieden, auf dem Naschmarkt: "Meine Urgroßmutter, von Krakau nach Wien umgezogen, kannte die Bräuche noch nicht so genau, ging mit ihrer Köchin einkaufen und lehnte den genannten Preis ab. Einige Schritte - dann kam der Schlag ins Kreuz. Frau Sopherl hatte ihr die beanstandete Melone nachgeworfen, treffsicher. Die Köchin hätte es wohl besser gewusst, blieb aber wohlweislich still. Die Sopherl war solidarisch mit der dienenden Klasse und zielte erfolgreich auf die Herrschaft. Die hatte noch Glück und es wurde eine durch Jahrzehnte weiter gereichte Familienanekdote daraus." Der von der Wien durchflossene vierte war ein Bezirk der Mühlen, etliche Straßenbezeichnungen erinnern daran. Die Heumühle in der gleichnamigen Gasse gilt als ältester Profanbau Wiens. Wenngleich kräftig renoviert, lässt sich die mittelalterliche Bausubstanz noch gut erkennen. Größtenteils verschwunden sind hingegen die zahlreichen barocken Lustschlösser mit ihren Parks. Ein Relikt ist das Palais Schönburg, das Gundacker Graf Starhemberg nach Plänen von Johann Lucas von Hildebrandt auf dem Schaumburgergrund errichten ließ. In diesem Zusammenhang wird das Geheimnis um den Namen der Vorstadt gelüftet: "Das oberösterreichische Adelshaus der Schaunberger, fälschlich Schaumburger, hatte hier im 15. Jahrhundert die Herrschaft inne."
1850 kamen die 34, zwischen Bastei und Linienwall gelegenen, Vorstädte zu Wien. 1861 wurden die Bezirke neu eingeteilt und im Zuge dessen vom vierten der seither fünfte Bezirk abgetrennt. Man nannte ihn Margareten, nach der Patronin der mittelalterlichen Schloßkapelle, Margareta von Antiochia. Ihr zu Ehren erhielten auch ein Platz, eine Straße und der historistische Margaretenhof ihre Namen. Berühmte Häuser des Bezirks sind unter anderem der secessionistische Rüdigerhof, das "Vorwärts"-Gebäude und das Hochhaus Matzleinsdorf aus den 1950er Jahren. Im 20. Stockwerk gab es, als besondere Attraktion, ein Restaurant mit Aussichtsterrasse. Zu den prominenten Bewohnern des Gemeindebaus zählte der spätere Bürgermeister und Unterrichtsminister Helmut Zilk.
Die Geschichte des 6. Bezirks kann man am besten im Bezirksmuseum Mariahilf kennenlernen. Dort weckt sin 9 m² großes Modell Erinnerungen an den "Ratzenstadel". Die Gegend wurde im 18. Jahrhundert von "Raitzen", Serben, bewohnt. Den weitläufigen Gebäudekomplex in der Mollardgasse 8 ließ sich die Arbeiterkrankenkasse kurz vor dem Ersten Weltkrieg errichten. Außer dem Bezirksmuseum haben das Glasmuseum, das Phonomuseum und das Naschmarktmuseum in dem in Wiener-Werkstätte-Manier gestalteten Haus ein stilvolles Ambiente gefunden. Gerhard Tötschinger erzählt Interessantes über die Mariahilfer Straße, die Tramway und den Kaiser. Der Autor hatte auch seinen Großvater, Jahrgang 1894, darüber befragt, der zu Protokoll gab, wie er Franz Joseph erlebte: "Um 8 Uhr früh fuhr der Kaiser jeden Tag im offenen Wagen über die Mariahilfer Straße in die Burg und um 5 Uhr Nachmittag wieder zurück. … (Ich) war sehr stolz, wenn der Kaiser meinen Gruß, wie dem der anderen Passanten, durch Kopfnicken oder Salutieren dankte." Ein Foto des Vaters des Autors als "pfeifenrauchender Zeitungsleser" im Spiegel des Café Sperl folgt wenige Seiten später.
Beim Bezirk Neubau denkt man zunächst an die Textilmanufakturen vom "Brillantengrund" und an den Spittelberg. Während erstere im Wienerlied "Unser Vater ist ein Hausherr und ein Seidenfabrikant" jugendfrei besungen werden, ist dies beim einst übel beleumundeten Altstadtensemble nicht der Fall. Die Spittelberglieder fallen unter "Scandalosa" oder "Cochonnerien". Doch der 7. Bezirk hat auch sehr, sehr viel Kultur zu bieten, beispielsweise fast ein Dutzend Museen, darunter mehrere "von Weltruf - auch das älteste des Bezirks, das Museum der Mechitaristen." Seit 1811 betrieb der Orden eine Buchdruckerei, die bis 1998 Bücher im orientalischen Satz, wie kyrillisch und armenisch, herstellte und die Lettern selbst goss. Wer Unterhaltung vorzieht, fand bzw. findet sie im "Filmviertel" rund um die Neubaugasse und auf mehreren Bühnen. Breiten Raum nimmt die Geschichte des Volkstheaters ein. "Seit seiner Gründung 1889 ist es ein Haus mit wechselndem Glück, zeitweise sehr erfolgreich, dann wieder von allen guten Theatergeistern verlassen."
Stichwort Theater: "Die Josefstadt" hat im allgemeinen Sprachgebrauch den Bezirksnamen an sich gezogen. Die Gründung der ältesten bestehenden Bühne Wiens geht auf das Jahr 1788 zurück. Das Haus ist auf das Engste mit dem Regisseur und Theaterdirektor Max Reinhardt und der Schauspielerdynastie Thimig verbunden. Im 8. Bezirk haben sich einige Palais erhalten, deren Parks in der Barockzeit wie ein grünes Band die Vorstädte durchzogen: Trautson, Strozzi, Auersperg, Schönborn, seit 1917 Standort des Österreichischen Museums für Volkskunde. Stilvolle Kirchen sind hier zu finden, wie jene der Piaristen, in der Anton Bruckner seine legendäre Orgelprüfung ablegte. Richtung Alsergrund, beim alten AKH, erhebt sich die Pfarrkirche Alser Vorstadt, deren Matrikenarchiv das umfangreichste Europas sein soll. Das Kloster nannte man jenes der "Weißspanier", nach dem Ordenskleid der Trinitarier, die es gründeten. Diese Bezeichnung sollte sie von den nahen "Schwarzspaniern" unterscheiden, nach denen im angrenzenden 9. Bezirk eine Straße und ein großes Zinshaus benannt sind, von ihrer Kirche steht nur noch die Fassade. Bei diesem Orden ist dem Autor ein gravierender Fehler unterlaufen: Es waren Benediktiner und nicht Jesuiten.
Die historische Entdeckungsreise zwischen Ring und Gürtel endet auf dem Alsergrund. Er entstand 1850 aus sieben Vorstädten mit höchst unterschiedlicher Sozialstruktur. Die Alservorstadt war und ist als Ärzteviertel bekannt. Zu diesem zählen das Alte AKH, wie der darin errichtete "Narrenturm" eine Großtat Kaiser Joseph II., der auch die benachbarte medizinisch-chirurgische Akademie zur Ausbildung von Militärärzten gründete. Das Josephinum gilt als das bedeutendste Beispiel klassizistischer Architektur in Wien. Eine besondere Sehenswürdigkeit bildet die Sammlung anatomischer und geburtshilflicher Wachspräparate, die der Kaiser in Florenz herstellen ließ. Dass der Großteil der 1.192 Modelle erhalten und in sechs Räumen des Josephinums in den originalen Vitrinen aus Rosenholz und venezianischem Glas ausgestellt ist, erfährt man im Buch leider nicht. Die erwähnten "anatomisch-pathologischen" Präparate sind - wie dort richtig bemerkt - im Narrenturm zu sehen. Weit weniger nobel, teilweise richtiggehend arm, waren viele Bewohner der Vorstädte Thurygrund, Lichtental und Himmelpfortgrund. Der Vater von Franz Schubert hätte davon ein Lied singen können - wenn auch nicht gerade "Drunt in Lichtental, hint' am Alserbach steht a alte Kraxn mit an Schindeldach …" Franz Schubert sen. unterrichtete Kinder unentgeltlich, weil ihre Eltern das Schulgeld nicht aufbringen konnten. Sein Sohn Franz, dessen Geburtshaus in der Nußdorfer Straße 54 zum Museum wurde, war anfangs sein Gehilfe in der Trivialschule, man kennt ihn als weltberühmten Komponisten. Der neunte Bezirk weist noch viele interessante Bewohner auf, wie Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Theodor Billroth, Friedrich Torberg, Heimito Doderer, die Malerfamilie Alt … Ludwig van Beethoven und neun Nobelpreisträger, die auf dem Alsergrund wirkten, sucht man vergeblich. Andere einst Berühmte sind fast vergessen, wie der Fotopionier Albin Mutterer, dessen Atelier sich an Stelle (nicht: in) der Markthalle befand, der Großindustrielle Georg Sigl, dessen Maschinenfabrik (heute WUK) dem Börsenkrach von 1873 zum Opfer fiel, oder die Gebrüder Gräf, die in der Nußdorfer Straße das erste Automobil der Welt mit Vorderradantrieb bauten. Auch zu deren Nachfolgefirma - Gräf & Stift - hat Gerhard Tötschinger eine besondere Beziehung. Sein Vater, der dort in leitender Position tätig war, erwarb für die Firma jenes Auto Kaiser Karls wieder, das nun in der Wagenburg in Schönbrunn steht, nachdem man es in der Schweiz gefunden hatte.