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Gerhard Tötschinger: Von St. Stephan nach St. Marx#

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Gerhard Tötschinger: Von St. Stephan nach St. Marx. Die Wiener Bezirke I, II und III. Wiener Geschichten für Fortgeschrittene. Amalhea Signum Verlag, Wien 2016. 256 S., ill., €: 22.95

Eigentlich muss man Gerhard Tötschinger nicht vorstellen. Aber was wäre ein Buch ohne Autorenporträt? Dieses enthält neben der üblichen Biographie ein weiteres Foto. Es zeigt den Autor "als Kasperl beim Fest im Kindergarten Sacre Coeur" und schlägt so die Brücke zum Kapitel über den Bezirk Landstraße - auch wenn das Kloster mit seinen Schulen im Text dann nicht vorkommt. Der Autor, Schauspieler, Intendant und Schriftsteller, kann auf eine rege Vortragstätigkeit verweisen, das vorliegende Buch ist aus einer Vortragsreihe hervorgegangen. Bei der Lektüre meint man, die sonore Stimme des "begnadeten Geschichtenerzählers" (Klappentext) zu vernehmen.

Innere Stadt, Leopoldstadt, Landstraße – die ersten drei Bezirke Wiens bilden den ältesten Kern der Stadt. Somit ist ihre Geschichte die Geschichte der Stadt selbst, und das gilt vor allem dem 1., dem zwei Drittel des Buches gewidmet sind. Es will kein Reiseführer sein oder den Anschein von Vollständigkeit erwecken, schreibt der Autor im Vorwort. Weniger bescheiden klingt der Anspruch des Verlags, "Wien, wie man es noch nicht kennt" vorzustellen oder "Geschichten für Fortgeschrittene" anzubieten. "Unerwartetes und Skurriles" (Klappentext) steht am Beginn der Zeitreise, hier wohl unabsichtlich: "Um 2000 v. Chr., in der Altsteinzeit, hat es im Wiener Raum erste Siedlungen gegeben". (Die Altsteinzeit ist in Österreich ab 300.000/250.000 bis 8.000 vor Christus nachgewiesen).

Dem Alltag im römischen Wien ist breiter Raum gewidmet, ehe die Epoche der Babenberger - Heinrich Jasomirgott, Walther von der Vogelweide, Richard Löwenherz … - und das Zeitalter der Habsburger - Neidhart von Reuental und das Veilchenfest, der Pfaff vom Kahlenberg, Rudolf der Stifter und St. Stephan, der erste Elefant im Wien des 16. Jahrhunderts, Glaubenskriege, osmanische Belagerungen, Pestepidemien, spanische Hofreitschule, barocke Baukunst, Napoleon, der Biedermeier-Mörder Jaroszynski, das Attentat auf Kaiser Franz Joseph, der Makart-Festzug…- anbrechen. Originell sind die 50 Farbbilder, wie virtuelle Rekonstruktionen, etwa des Lagertors von Vindobona, aktuelle Fotos, Figurinen, Zinnfiguren. Der Autor reiht Gehörtes und Erzähltes, Daten, Fakten und Geschichten, gekonnt verknüpft, unterhaltsam aneinander. Das Buch der Geschichte verzeichnet nicht nur Erfreuliches, auch dunkle Seiten werden keineswegs ausgeblendet, wie die durch Jahrhunderte erfolgten Pogrome.

Besonders beklemmend wird deren Erwähnung im Kapitel über den zweiten Wiener Gemeindebezirk. 1624 gestattete Kaiser Ferdinand II. die Errichtung einer Judengemeinde im Unteren Werd. Sie umfasste 132 Wohnhäuser, Synagoge und Krankenhaus. Die Bewohner arbeiteten im Ghetto selbst oder in der Inneren Stadt. Doch schon 1669/70 wurden sie wieder vertrieben, inzwischen herrschte Kaiser Leopold I. Er ließ die Synagoge abtragen und an ihrer Stelle eine Kirche zu Ehren seines Namenspatrons errichten, auch die Gegend erhielt einen neuen Namen, sie heißt seither Leopoldstadt. Doch gibt es von dort auch Erfreuliches zu erzählen, besonders im Zusammenhang mit den veritablen Grünanlagen Augarten und Prater. Beide ließ Kaiser Joseph II. für die Allgemeinheit öffnen. Der Prater entwickelte sich zum großen Freizeit- und Vergnügungsareal, wie Ende des 18. Jahrhunderts als Schauplatz für Ballonaufstiege und Feuerwerke und 1873 der Wiener Weltausstellung mit der Rotunde. Dann zählte der 1895 eröffnete Themenpark "Venedig in Wien" zu den Attraktionen. Das Publikum strömte in die Zirkusgebäude, Ballsäle, das Leopoldstädter Theater und zur Galopprennbahn Freudenau. Die Donau samt ihrer Jahrhunderte langen Überschwemmungsgefahr gehört ebenso zur Leopoldstadt wie der alte Nordbahnhof - einer der prächtigsten Europas - und die Strauß-Dynastie.

Das dritte Kapitel ist dem Bezirk Landstraße gewidmet. Gerhard Tötschinger stellt es unter das Generalthema Vielfalt: "Das macht das Erzählen nicht leichter - zu viele divergierende Themen treffen aufeinander, vom Gasthaus bis zum Militär." Die "Goldene Birne" und der "Rote Hahn" fanden Konkurrenz durch den "Drehersaal" des Brauereibesitzers, wo die Deutschmeister spielten. Im Militär-Reitlehrinstitut unterrichtete Willy Elmayer-Vestenbrugg, der legendäre Tanzschulbesitzer. Eine prominenter Landstraßer war der Künstler Josef Engelhart, der den Karl-Borromäus-Brunnen im Bezirk schuf. Zu dessen bekannten Anlagen zählen Palais wie Rasumofsky oder Harrach, die Sofiensäle, der ehemalige Wiener Neustädter Kanal und der St. Marxer Friedhof. Hier schließt das Buch, mit einem Foto der Witwe Wolfgang Amadeus Mozarts aus dem Jahr 1840. (Constanze Mozarts ausgestreckter Zeigefinger wurde von Kulturhistorikern als Abwehrgeste gegen das damals neue Medium der Fotografie gedeutet.) "Kein Platz mehr … und ich würde so gerne weitererzählen." Die Feststellung im Nachwort glaubt man dem Autor sofort. Die Fortsetzung seiner "Wiener Geschichten für Fortgeschrittene" "Vom Schaumburgergrund ins Lichtental"über die Bezirke 4 bis 9 ist kürzlich erschienen.