Peter Payer: Der Klang der Großstadt#
Peter Payer: Der Klang der Großstadt. Eine Geschichte des Hörens. Wien 1850–1914. Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar. 313 S., ill., € 30,-
Das Buch beginnt mit einer Warnung: Bei der Lektüre "kann es zu einer vorübergehenden Stimulierung Ihrer akustischen Fantasie kommen, bis hin zu einer gesteigerten, möglicherweise nicht immer angenehmen Sensibilität gegenüber akustischen Reizen." Der "belauschte Lärm" gebe seine Geheimnisse nicht ohne Opfer preis.
Klagen über die "Plagen des Großstadtlärms" sind nicht neu. Der Schriftsteller Felix Salten (1869-1945) nannte die Wiener Geräuschkulisse "Großstadtwirbel". Der Philosoph, Journalist und Burgtheaterdirektor Alfred Berger (1853-1912) beobachtete 1907 die "Hauptgeräusche", die er in seinem Hietzinger Garten wahrnahm. Selbst in dieser als ruhig geltenden Gegend waren es mehr als zwei Dutzend, vom Rauschen des Windes und Tierstimmen bis zu Fabrikssirenen und Verkehrslärm. Durch wirtschaftliche, technische und soziale Veränderungen entstanden im ausgehenden 19. Jahrhundert viele neue Geräusche. "Antilärmvereine" hatten dagegen keine Chance.
Der Stadtforscher und Technikhistoriker Peter Payer widmet dem Wiener Lärm sein jüngstes Buch. (Zuletzt hatte er über die Kulturgeschichte des Aufzugs publiziert. ) "Das Hauptinteresse richtet sich dabei auf jene unerwünschten Geräusche, die unter dem Begriff 'Lärm' zusammengefasst werden. Der Untersuchungszeitraum von 1850 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs umfasst jene historische Periode, in der Wien sich zur modernen Großstadt und letztlich viertgrößten Metropole Europas mit über zwei Millionen Einwohnern entwickelte. … Die Modernisierung und Großstadtwerdung Wiens verlangte neue Strategien im Umgang mit Lärm, die - so meine These - im Wesentlichen bis heute aktuell sind."
Der erste Teil des Buches, das großteils wissenschaftliches Neuland erschließt, bietet Basisinformationen wie "Der Gehörsinn und seine Stellung in der Hierarchie der Sinne", über die Erforschung des Hörens oder die Phänomenologie des Lärms. So erfährt man u. a., dass die 1925 eingeführte Maßeinheit Dezibel nach dem Erfinder des Telefons, Alexander Graham Bell, benannt ist.
Das Hauptkapitel "Hörraum Wien" verdeutlicht die Zusammenhänge zwischen Stadtentwicklung und akustischen Eindrücken. Bis in die 1890er Jahre bewahrte die Stadt ihre Gliederung in Innere Stadt, Vorstädte und Vororte. Die dann einsetzende, zunehmende Trennung von Wohn- und Arbeitsstätten verlangte erhöhte Mobilität und Verkehrsaufkommen. Seit 1817 verkehrten Stellwagen ("Omnibusse") auf bestimmten Strecken. 1865 kamen schienengebundene Verkehrsmittel dazu, zuerst die Pferdetramway, seit den 1880er Jahren die Dampftramway, 1898 die Stadtbahn. Um 1900 waren aber immer noch an die 1000 Fiaker, dazu ein Mehrfaches an Einspännern und Lohnkutschen unterwegs. Sie alle beteiligten sich am "immer vielstimmiger werdenden Chor der Straßengeräusche".
Galt die Straßenbahn, deren Pferde anfangs Glocken trugen, um die Passanten vor dem Herannahen zu warnen, als "Signum des Urbanen", so waren ihre Geräusche längst nicht die einzigen. In das traditionelle Läuten der Kirchenglocken mischte sich bald der Ton von Autohupen und Fahrradschellen, während Kaufrufe und Straßenmusik verklangen. Interessant ist die "akustische Topographie", die Peter Payer, belegt mit zeitgenössischen Zitaten, zusammengestellt hat. Die "prunkvolle, lärmdurchraste Ringstraße" umgab das Zentrum, in dem sich auch "winkelige, lautlose Gassen" und "stille, stimmungsvolle Höfe" finden ließen. Geschichte ist das klingende Spiel der "Burgmusik". Ihr mittägliches Platzkonzert im Inneren Burghof war eine Attraktion. Hunderte Menschen hörten zu und begleiteten die Kapelle auf ihrem Rückweg in die Kaserne. In den Vorstädten dominierten die Geräusche der zahlreichen Handwerksbetriebe, nur die Mariahilfer Straße, die sich als moderne Geschäftsstraße etablierte, zeigte "die verzerrten Züge der Hast". In den Vororten außerhalb des Linienwalls dominierte der Lärm der Fabriken und Bahnhöfe. In Floridsdorf bestand zudem Landwirtschaft, verbunden mit "Ferkelgequitsche, Gänsegeschnatter und Hühnergegacker". In der Lobau konnte man die leise Natur erleben, auch Parkanlagen und Friedhöfe stellten Oasen der Ruhe dar. Hingegen konnte es in Heurigenorten und Vergnügungszentren recht laut werden, was die Besucher jedoch mehr freute als störte. Auf Märkten als Brennpunkten städtischen Lebens ging es stets lebhaft zu. Militärische Anlagen, wie der Exerzierplatz, hatten ihre spezielle Klangkulisse. Neue Töne ergaben sich auf Bahnhöfen und in ihrer Umgebung.
Die ungeheure Dynamik veränderte nicht nur das Stadtbild nachhaltig, sie ließ auch einen neuen Hör-Diskurs entstehen. Immer intensiver wandte sich die öffentliche und private Aufmerksamkeit dem Lärm zu. Die Darstellung dieser Konfrontationen, der Lärmschutzbewegung, Maßnahmen zur Bekämpfung der "großstädtischen Kakophonie", Kultur- und Zivilisationskritik und internationale Vergleiche runden die umfangreichen Ausführungen zu einem komplexen Phänomen ab. So wird die Beschäftigung mit dem Klang der Großstadt keineswegs zu einem Opfer, sondern zu einem äußerst lohnenden Unterfangen.