Marie-Theres Arnbom Die Villen von Pötzleinsdorf#
Marie-Theres Arnbom: Die Villen von Pötzleinsdorf. Wenn Häuser Geschichten erzählen.
Amalthea Verlag Wien 2020. 272 S., ill., € 26,-
Familienforschung ist schön, kann aber auch traurig werden. Oft erfordert die Veröffentlichung Mut. Die Historikerin und Kulturmanagerin Marie-Theres Arnbom hat mehrere Bücher zu zeit- und kulturhistorischen Themen verfasst, wie "Die Villen vom Attersee", 2018. Mit ihrem jüngsten Werk beweist sie Mut. Es geht um Pötzleinsdorf, einen Teil des 18. Wiener Gemeindebezirks, in dem sie aufgewachsen ist und auch jetzt lebt.
Um 1850 war der Vorort am Rand des Wienerwalds eine beliebte Sommerfrische. Bald entstanden Villen für wohlhabende Familien. Unter den Besitzern - Bankiers, Künstlern, Rechtsanwälten und Unternehmern - waren zahlreiche Juden. "Wenn Häuser Geschichten erzählen", so der Untertitel, geht es weniger um deren eigene Geschichte(n), als um jene ihrer Besitzer. Diese enden meist in den Gräueltaten der NS-Zeit. Unvorstellbares ereignete sich in der Familie der Autorin. Ihr Urgroßvater, Robert Winterstein, Generalprokurator und Justizminister, gilt als prominenter Vertreter des Ständestaates und prononcierter Antinazi. Am Tag der Machtübernahme verhaften die neuen Herren alle politischen Gegner, so auch ihn. Das Leben des alten Mannes fand 1940 in Buchenwald ein grausames Ende. Ein halbes Jahrzehnt zuvor war er mit seiner Frau und drei Söhnen in die von Architekt Hubert Gessner geplante Villa am Rand des Pötzleinsdorfer Schlossparks übersiedelt. Der Jurist und der Architekt kannten einander von der Jagd. Robert Winterstein hatte am nahen Exelberg ein Revier gepachtet, in dem er fast täglich auf die Pirsch ging. Ein ständiger Gast war Konrad Mautner, Volksmusikforscher am Grundlsee, von dem die Sammlung "Steyerisches Raspelwerk" stammt. Robert und Magda Winterstein fungierten auch als Taufpaten seiner Söhne - "eine enge Familienreundschaft".
Das Kapitel über die Familie Mautner trägt den treffenden Titel "Kunstsinn und Grandezza". Ihre Angehörigen lebten ein halbes Jahrhundert im berühmten Geymüllerschlössl und drei Villen in unmittelbarer Nachbarschaft. Isaak Mautner war Unternehmer im ostböhmischen Nachod, er belieferte Weber mit Garn und verkaufte das Leinen. Sein Sohn Isidor erweiterte das Textilimperium, eröffnete die Zentrale in Wien, betrieb in Böhmen und Niederösterreich Fabriken für Weberei, Färberei, Bleicherei, Appretur und Konfektionswaren. Er versorgte die k.u.k. Landwehr mit Stoffen und hielt Patente für Offiziers- und Mannschaftszelte. Nicht zuletzt verdankte er die Expansion seiner Heirat mit der Seidenhändlers-Tochter Jenny Neumann. Ein Geburtstagsgeschenk Isidor Mautners für seine Frau war das Geymüllerschlössl. Das kostbar eingerichtete Biedermeiergebäude, das in einem großen Park liegt und jetzt museal genutzt wird, war ein Treffpunkt der Wiener Gesellschaft. Man feierte Feste, pflegte Kultur und Sport. 1916 war die Aktiengesellschaft von Isidor Mautner mit 20.000 Arbeitern und Angestellten in vielen Ländern die größte Europas. 1921 gründete er die Neue Wiener Bankgesellschaft und erwarb wenige Jahre später die Textilfabrik in Marienthal, Niederösterreich. Der Konzern konnte der Weltwirtschaftskrise nicht standhalten. Die soziologische Studie über die Arbeitslosen von Marienthal ging in die Geschichte ein.
Pötzleinsdorf erweist sich als Sammelpunkt verschiedener Textilfabrikanten. Die Familien Mautner und Spiegler, Moller und Lemberger, ebenso wie Kallberg und Kornfeld. Die Fabrik von Bernhard Spiegler befand sich in der Nähe der Mautner'schen in Nachod. Sie war Mitte des 19. Jahrhunderts für die Herstellung strapazfähiger "Gebirgsware" bekannt. Auch besaß Bernhard Spiegler in Wien Patente für Baumwollzwirn und "Doppelstoffe". Eines seiner neun Kinder, Heinrich, der nach dem Tod des Vaters mit einem Bruder das Unternehmen führte, war mit einer Irin verheiratet. Sie ließen 1895/96 in der Pötzleinsdorfer Straße 34 eine Villa im englischen Landhausstil errichten. Es war eine der ersten Arbeiten des Architekten Alexander Neumann, der nach einer Anstellung als Atelierchef der Theaterarchitekten Helmer und Fellner sein Büro eröffnet hatte und sich als Gestalter moderner Bankpaläste einen Namen machte. Auch das Versicherungsgebäude am Hohen Markt, das durch die "Anker-Uhr" zur Touristenattraktion geworden ist, ist sein Werk. Die Villa Spiegler fand in das AzW-Architektenlexikon Eingang. Dort heißt es: "Bauten im Grünen verliehen Bauelemente in Holz, Fachwerk, eine asymmetrischen Baugestalt und der Einsatz ländlich anmutender, teilweise dem heimischen Bauen entlehnter Formen den Charakter des Landhauses (Wien 18, Pötzleinsdorfer Straße 34). " Seine innerstädtischen Miethäuer konnten " den gehobenen Ansprüchen eines auf Repräsentation bedachten Bürgertums bestens entsprechen." Nicht nur die Persönlichkeiten von Bauherr und Architekt, sondern auch eines Freundes der Familie verleihen der Villa besondere Bedeutung: der Komponist Gustav Mahler.
Ich möchte mit diesem Buch einen Gedankenanstoß geben, sich mit der nächsten Umgebung zu beschäftigen, zu überlegen, wer denn früher in diesem Haus gelebt hat, welche schönen und traurigen Ereignisse stattgefunden haben, schreibt Marie-Theres Arnbom. Sie hat 31 Objekte ausgewählt und in fünf Spazierwege gegliedert. Ich bin mir dieses Buch ergangen, erklärt die Autorin. Doch nicht nur das, sie hat weite Reisen unternommen, Überlebende interviewt, in Archiven und im Internet geforscht. Bewundernswert, wie detailliert ihre Ergebnisse sind und wie rasch sie zu diesen gelangt ist. Nicht einmal ein Jahr ist von der Idee bis zum fertigen Buch vergangen. Für sie besonders erfreulich: Zwei Damen, deren Großeltern in Pötzleinsdorf fast Nachbarn waren, lernten einander durch Arnboms Recherchen kennen: Wie wunderbar, durch ein Buch Menschen zusammenbringen zu dürfen.