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Johannes Sachslehner: Wien#

Bild 'Sachslehner Wien'

Johannes Sachslehner: Wien. Biografie einer vielfältigen Stadt. Molden Verlag Wien. 496 S. ill., € 40,-

Vom Tethys-Meer vor 250 Millionen Jahren bis zur zukunftsweisenden Seestadt Aspern spannt Johannes Sachslehner den zeitlichen Bogen seiner "Biografie einer vielfältigen Stadt". Das 500-seitige Werk ist bei weitem nicht das erste Wien-Buch des Historikers und Verlagslektors. In letzter Zeit erschienen z. B. "Angriff auf Wien", 2015; "Wien, streng geheim", 2016; "Verschlossen", 2019, "Eintauchen in den Wienerwald, 2021. Das neue Buch ist informativ illustriert, aber kein Bild-Text-Band wie manche der früheren. Es stellt einen besonderen Anspruch: Im Fokus steht das Leben in der Stadt. Die Alltagsfreuden und Leiden der Wiener und Wienerinnen, ihre Vergnügungen, Wünsche und Hoffnungen, aber auch Angst und Verzweiflung. Der Glanz der Ringstraße und die Tristesse der Vorstadt, der Gestank und der Lärm, der Kampf gegen Seuchen und das Ringen ums gute Wasser sollen hier erzählt werden.

Der Aufbau folgt einerseits der Chronologie und bietet andererseits Raum für Sonderthemen wie Der Aufbruch der Frauen, Sportstadt oder Nicht-Stadt und Anti-Stadt. Den Einstieg bildet der Mythos der Stadt. Der deutsche Kulturwissenschaftler Jan Assmann hat Mythos als eine "besondere Form der Geschichtspräsentation" bezeichnet. Dies trifft auch auf Wien zu. Wien galt schon früh als außergewöhnliche Stadt und die Hymnen auf Wien sind beinahe so alt wie die Stadt selbst - auch wenn sie nicht, wie andere, auf eine Gründungslegende verweisen kann. Viele der bis heute gültigen Vorurteile entstanden in josephinischer Zeit, als Reiseschriftsteller ihre Eindrücke von Wien schilderten. Johannes Sachslehner fasst sie als Stadt der Phäaken und Mischmasch der Nationen zusammen. Im Modernisierungsschub der Gründerzeit und dem Zusammenbruch der Monarchie bot Alt-Wien den Enttäuschten Trost, ebenso wie im und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Schon den ersten Siedlern der Steinzeit war klar: Dies ist ein guter Platz zum Leben. Es ist eine irrige Annahme, dass der Feldherr Gaius Iulius Caesar (100 v. Chr. - 44 n. Chr.) Wien gegründet hätte. Hingegen ist die Identität des römischen Wien mit dem in antiken Quellen genannten Ort "Vindobona" gesichert. Die ältesten Ziegel des gleichnamigen Legionslagers stammen aus der Zeit des Kaisers Nero (54-68 n. Chr.). Außer dem Kastell bestanden eine Lagervorstadt und eine Zivilstadt, in denen bis zu 35.000 Menschen lebten. Am Beginn des 5. Jahrhunderts schlägt die Schicksalsstunde des Legionslagers Vindobona. Kastell und Zivilstadt werden von einem der durchziehenden "Barbarenheere" weitgehend zerstört.

Manche Bewohner überlebten in den Ruinen. Der Ortsname Vindobona wandelte sich zum althochdeutschen "Wenia" aus dem dann "Wien" wurde. Unter den Babenbergern entstanden Straßenzüge wie Hoher Markt und Graben, Kärntner Straße und Wollzeile, der Donauhandel blühte auf. Als Residenz der Habsburger wuchs die Bedeutung Wiens. Die Gründung der Universität und der Bau von St. Stephan blieben sichtbare Zeichen. Doch gab es auch schreckliche Ereignisse, wie die Pestepidemie von 1349 und die Wiener Geserah von 1420.

1529 und 1683 sah sich die Residenzstadt vom "Erbfeind", dem Osmanischen Reich, bedroht. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts zählte Wien rund 50.000 Einwohner. Maximilian II. ließ Schloss Neugebäude als "Renaissance-Erlebniswelt" mit weitläufigen Terrassengärten und Menagerie errichten. Der Kaiser förderte die Naturwissenschaften. Er engagierte den Gelehrten Carolus Clusius (1526-1609) als Hofbotaniker, der Rosskastanie, Tulpen und Kartoffel nach Wien brachte. Mit dem Orientreisenden Gislenius Busbequius (1522-1592) kam der Flieder. Inzwischen hatte die Reformation Österreich erreicht. Maximilian II. förderte den Dialog zwischen Katholiken und Protestanten. Seine Religionskonzession gestattete den evangelischen Adeligen die Ausübung ihrer Konfession auf ihren Gütern. Da aber Wien ein landesfürstliches Kammergut war, mussten die lutherischen Gläubigen in Herrschaften wie Hernals und Inzersdorf "auslaufen". Auch in der Landhauskapelle durften sie ihre Gottesdienste feiern.

Nicht nur die - nach dem Tod des einigermaßen toleranten Kaisers einsetzenden - religiösen Verfolgungen machten vielen Menschen das Leben schwer. Hexenwahn, Geldentwertung, Judenvertreibung und eine Pestepidemie, die 10.000 Tote forderte, kennzeichneten das 17. Jahrhundert. Die folgenden Kapitel charakterisieren Kaiserstadt und Bürgerstadt. Johannes Sachslehner schreibt: Nie zuvor und nie nachher wurde so viel Geld in den Bau von Kirchen und Klöstern, Palästen und Schlössern, Garten- und Brunnenanlagen investiert. Der Autor würdigt die Aktivitäten Maria Theresias - Bautätigkeit, Industrialisierung … - spart aber auch die "Schattenseiten" nicht aus. In der Innenstadt lebten rund 59.000 Menschen, in den Vorstädten mehr als 175.000. Obwohl schon Maria Theresia die Notwendigkeit von Reformen erkannt und vieles auf den Weg gebracht hatte, gilt ihr Sohn Joseph II. als der große Erneuerer.

Nach Josephs Tod machte sich Enttäuschung breit. Die Angst vor der Revolution wurde zur Angst vor neuen Ideen … Und neue Lösungen für drängende Infrastruktur-Probleme mussten gefunden werden - die Moderne stand bereits vor der Tür. 19. Jahrhundert war Wien Hauptstadt der Reaktion ebenso wie Hort der Revolution und Industriestadt. Mit der Schleifung der Basteien begann 1857 die Ringstraßenära. Die Weltausstellung sollte 1873 die Errungenschaften der Monarchie international präsentieren. Im Zentrum des Ausstellungsgeländes im Prater erhob sich die Rotunde, lange Zeit der größte Kuppelbau der Welt. Das 84 m hohe Wahrzeichen mit 108 m Durchmesser fiel 1937 einem Großbrand zum Opfer. Die Weltausstellung konnte die Erwartungen nicht erfüllen. Statt zehn Millionen Besuchern zählte man nur sieben Millionen. Schon wenige Tage nach der Eröffnung kam es zum Börsenkrach. 60 Industriefirmen, 48 Banken und acht Versicherungen gingen bankrott. Außerdem brach die Cholera aus und forderte 3000 Opfer. Um die hygienischen Missstände zu beenden, baute man die Erste Hochquellen-Wasserleitung. Ihre feierliche Eröffnung mit dem Hochstrahlbrunnen fand gegen Ende der Weltausstellung statt. Die Donauregulierung (1870-1875) war in vollem Gange. Auch das erste Reisebüro - Cook & Son - etablierte sich damals in Wien und begründete das internationale Tourismusgeschäft. 1881 nahm das Telefonnetz den Betrieb auf. 1892 trat das Eingemeindungsgesetz in Kraft. Dadurch vergrößerte sich das Stadtgebiet von 55 auf 178 km², die Einwohnerzahl stieg um eine halbe Million auf 1,341.579.

Wien reüssierte als Kulturmetropole, untrennbar verbunden mit der Wiener Secession, Otto Wagners Architektur, der Literatur von Arthur Schnitzler oder den Theorien von Sigmund Freud. Zeitgeschichte findet sich in den Kapiteln Das rote Wien, nach den Sonderthemen in Stadt des Terrors und Ruinenstadt. Den Trümmerjahren folgte der Aufstieg zur Weltstadt. Mit Visionen für das Wien von morgen schließt Johannes Sachslehner das vielseitige Werk. Er schreibt: Sich mit der Geschichte Wiens eindringlicher auseinanderzusetzen ist … durchaus sinnvoll. Wer die Vergangenheit der Stadt kennt, ihre Wege und Irrwege, wird wissen, worauf es ankommt, um ihre Zukunft zu sichern. In diesem Sinne die Empfehlung: Bitte lesen!

hmw