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Harald Havas und Reinhard Mandl: Die schönsten Wiener Grätzel#

Bild 'Havas'

Harald Havas und Reinhard Mandl: Die schönsten Wiener Grätzel. 20 Streifzüge durch die Stadt. Elsengold-Verlag Berlin. 160 S., ill., € 25,20

Und wieder ein neues Wien-Buch, diesmal kommt es aus Berlin. Der auf schöne Stadtbücher spezialisierte Elsengold-Verlag hat zwei erfahrene und ortskundiger österreichische Autoren dafür gefunden. Während der Wiener Journalist Harald Havas in den 1990er Jahren eine treibende Kraft des Retro-Phänomens "Wickie, Slime und Paiper" war, bereiste. Reinhard Mandl - seit mehr als 40 Jahren in Wien daheim - Nordamerika. Der Fotograf hat sich mit seinen Diashows einen Namen gemacht. In letzter Zeit konzentriert er sich auf geographisch näher liegende Ziele wie den Jakobsweg im Weinviertel oder die Gegenden "Rund um Wien". Beide Bücher sind 2021 erschienen.

Nun ist die Stadt selbst Anlass für 20 Streifzüge die in fast alle Bezirke führen. Im Vorwort versehen die Autoren ihren Buchtitel Die schönsten Wiener Grätzel mit einem Fragezeichen. Das mittelhochdeutsche Wort "Grätzel" bedeutete etwas Abgetrenntes. Im übertragenen Sinn meint es den (eigenen) Umkreis, eine zentrale Häusergruppe. Klare Grenzen gibt es nicht, kann es gar nicht geben, denn Grätzel sind gefühlte Wohnviertel, lokale Einheiten, in denen man sich zu Hause fühlt. Noch schwieriger ist es, zu sagen, was "schön" ist, auch hier entscheidet die persönliche Einschätzung. Die Autoren stellen Grätzel vor, die sie faszinierend, kurios, interessant oder sehenswert finden. Die Perspektive ist eine sehr weite und Auswahlkriterien sind zwangsläufig subjektiv. Leider kommen nicht alle Bezirke zum Zug und von den 300 vielsagenden Fotos sind die meisten auf die Größe einer Sonderbriefmarke geschrumpft. Schade, man würde sie gerne eingehender betrachten.

Es war eine originelle Idee in jedem Kapitel einen "Grätzelzeugen", zu Wort kommen zu lassen. Menschen, die mit ihrer Gegend verbunden sind. Viele von ihnen zählen zum Kunst-und Kreativbereich. Doch auch ein Rechtsanwalt und eine Hausmeisterin aus der City erzählen ihre Erfahrungen. Diese sind überwiegend positiv. Fast alle loben das spezielle Flair ihrer Umgebung und verraten ihre Lieblingsgastronomen und Geschäfte. Streckenweise erinnert das schöne Buch an einen Restaurantführer.

Ein türkischer Lebensmittelhändler, der als Teenager ins Fasanviertel kam, freut sticht über den Kontakt zu seiner Kundschaft, die wiederum die Qualität seines Gemüses lobt. In diesem Teil des 3. Bezirks tut sich nicht allzu viel, sieht man vom Botanischen Garten und dem "Zwanzigerhaus" (Belvedere 21) ab. Doch entsteht Richtung Gürtel ein neuer Stadtteil. Ehemalige Bahngründe werden zum "Village im Dritten". Eine Gegend Wiens, die wohl zunehmend weniger übersehen werden wird und kann.

Gut bekannt sind hingegen u. a. der Spittelberg, das Servitenviertel, Alt-Hietzing oder der Brunnenmarkt. Überall lässt sich historisch und zeitgeistig Interessantes entdecken Im Servitenviertel z. B. die namengebende, barocke Klosterkirche, das weltberühmte Freud-Mueum oder der älteste israelitische Friedhof. In der Nähe befinden sich Strudlhofstiege, Summerstage und das Gartenpalais Liechtenstein mit seiner ausgedehnten Parkanlage (nicht zu verwechseln mit dem Stadtpalais nächst der Hofburg).

Das nächste und übernächste Kapitel bilden ein Kontrastprogramm dazu. Noch ist das Sonnwendviertel in Favoriten auf dem Areal des ehemaligen Süd- und Ostbahnhofs ein "zukünftiges Grätzl". Das Stadtausbaugebiet ist trotz seiner relativen Nähe zur Innenstadt eigentlich vollkommen isoliert und für sich abgeschlossen. Ein Ehepaar das vor sieben Jahren unter den ersten Mietern war, zählt zu den begeisterten Joggern. Da ist das Laufen abwechslungsreich. Ja, wir leben gerne hier, meinen die beiden. Einige Jahre mehr sind seit der Revitalisierung der Gasometer in Simmering vergangen. 1896 erbaut, wurden sie in den 1970er Jahren stillgelegt und nach langen Diskussionen - auch der Abriss drohte - um die Jahrtausendwende einer gemischten Nutzung zugeführt. Wohnungen, Büros, Veranstaltungsräume, Schulen … und nicht zu vergessen: das Wiener Stadt- und Landesarchiv . Immerhin lagert hier in mehr als 55.000 Regalmetern das historische Gedächtnis Wiens.

Die abschließenden Kapitel sind dem 21., 22. und 23. Bezirk gewidmet. Die örtliche Struktur von Alt-Leopoldau (früher Eipeldau genannt) erinnert an jene Zeiten, als Joseph Richter (1749-1813) die satirischen "Briefe eines Eipeldauers" herausgab. Während der 21. Bezirk durch Satellitenstädte charakterisiert wird, bildet im benachbarten 22. die Seestadt Aspern auf dem früheren Flughafen-Areal eines der größten Stadtentwicklungsgebiete Europas. Knapp ein Drittel ist bisher fertig. Baubeginn für die Infrastruktur und Phase 1 war 2009. … Ein gewollter Mischmasch, eine geplante Heterogenität und ausgesprochen ungewohnt für ein Neubauviertel.

Die letzte Tour führt auf den Liesinger Platz. Er ist ein Teil des 10 ha großen Areals der Liesinger Brauerei, die von 1839 bis in die 1970er Jahre produzierte. Als kärgliches Relikt steht die von den Theaterarchitekten Helmer & Fellner 1898 errichtete Brauhaus-Restauration. Mit einem großen Tanzsaal war sie für Generationen ein beliebtes Ausflugsziel und der historistische Turm ein Wahrzeichen von Liesing. 2008 bis 2012 entstanden das Einkaufszentrum Riverside mit 60 Geschäften sowie mehr als 450 Wohnungen. Die für viele Wiener eher unbekannte Welt "Liesing" und auch das Grätzel Liesinger Platz selbst sind durchaus eine Reise wert. Letzteres nicht wegen einer städtebaulichen Einheitlichkeit, die so viele andere Grätzel auszeichnet, sondern gerade wegen der zerwürfelten Diversität, die einen um jede Ecke und ein paar Meter weiter Neues und oft wirklich Überraschendes entdecken lässt. Überraschendes haben Harald Havas und Reinhard Mandl im Vorwort angekündigt. Wie man sieht, haben sie nicht zu viel versprochen.

hmw