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Marion Krammer, Andreas Nierhaus, Margarethe Szeless: Das Wiener Zinshaus#

Bild 'Krammer'

Marion Krammer, Andreas Nierhaus, Margarethe Szeless: Das Wiener Zinshaus. Bauen für die Metropole. Fotografien von Nora Schoeller. Residenz Verlag Salzburg. 250 S., ill., € 39,-

Oft rücken Erscheinungen und Dinge erst in das öffentliche Bewusstsein, wenn ihr Ende absehbar scheint. So war es mit den Bräuchen im 19. Jahrhundert, und so ist es in letzter Zeit mit den Wiener Zinshäusern bzw. Gründerzeithäusern

Die rund 10.000 Gründerzeit-Zinshäuser (ca. 1840–1918) machen nur noch 6 % des Wiener Gebäudebestands aus - und ständig werden es weniger. In jüngster Zeit zeigt sich die Gemeindeverwaltung sensibilisiert. Vor 1945 erbaute Häuser müssen vor dem geplanten Abriss von der Magistratsabteilung 19 für Architektur und Stadtgestaltung geprüft werden. Neue Regelungen sollen Gründerzeitbauten vor spekulativem Demolieren aufgrund angeblicher wirtschaftlicher Abbruchreife schützen. Seit kurzem gibt es eine "Offensive Altbauten-Schutz" mit einer Service-Hotline.

Jetzt dokumentiert ein faszinierendes Buch Das Wiener Zinshaus zwischen Stadtentwicklung, Architektur und Sozialgeschichte. Es informiert erstmals umfassend und mit vielen Aspekten über die Materie. Dazu kommen großartige Fotos von Nora Schoeller und ein überaus ansprechendes Layout. Verfasst haben das Werk die Foto-¬ und Medienhistorikerin Marion Krammer, die Kunsthistorikerin Margarethe Szelles, die mit Krammer die Agentur für Geschichte und Kommunikation "wesearch" gegründet hat, und der Kurator der Architektursammlung des Wien Museums, Andreas Nierhaus.

Eingangs lädt das Autorenteam zum Das Wiener Zinshaus sehen und verstehen ein. Den Startschuss für den Bauboom der Gründerzeit bildete die Schleifung der Stadtmauern und die Planung der Wiener Ringstraße. Von hier aus trat das Zinshaus in unterschiedlichen formalen Ausprägungen und sozialen Abstufungen seinen Siegeszug bis in die Vororte an. Das Wiener Zinshaus hat aber nicht nur archtekturhistorische Bedeutung, sondern markiert zugleich den Anfangspunkt des modernen Wohnungsmarkts.

Als "Erfinder" des Wiener Zinshauses gilt der Architekt Ludwig Förster (1797-1863), ein erfolgreicher Planer und Unternehmer, der mit seinem Schwiegersohn Theophil Hansen eine Ateliergemeinschaft bildete. Försters Allgemeine Bauzeitung wurde bald zum einflussreichsten Fachblatt für Architektur im deutschsprachigen Raum. Nachdem seine Pläne für einen neuen Stadtteil im späteren Textilviertel 1839 noch zu früh kamen, konnte "Neu-Wien" ab 1853 realisiert werden. 31 Parzellen zwischen Währinger Straße und Schlickgasse entlang des Glacis wurden zur "Generalprobe" für die Ringstraßenzone, dem europaweit größten Versuchsgebiet für zeitgenössisches Bauen.

Zwischen 1860 und 1914 entstanden entlang des Boulevards 690 Wohnhäuser. Das prominenteste war der Heinrichshof gegenüber der Hofoper, den Theophil Hansen für den Ziegelbaron Heinrich Drasche in Formen eines Renaissancepalastes plante. Im Zuge des Umbaus der Inneren Stadt zur modernen City verschwand die barocke Bausubstanz. Karl Kraus klagte: Wien wird jetzt zur Großstadt demolirt. Mit den alten Häusern fallen die letzten Pfeiler unserer Erinnerungen. Auch die Vorstädte und Vororte wurden verbaut und bis 1875 die Donau reguliert. Wien war nun eine Metropole und die Kritiker blieben nicht aus. Sie rügten "Flitterwerk und Säulenzier" der Neubauten. Hingegen beeindruckte das "Zinshaus der Zukunft" von Otto Wagner, wie an der Wienzeile, die Zeitgenossen.

Mit dem Wachstum der Stadt wurde Wohnen zur Ware. Neben Kirche und Adel traten im 19. Jahrhundert private Investoren und große Baugesellschaften. Im Weltausstellungs- und Börsenkrachjahr 1873 bestanden in Wien 45 Immobilienentwickler. Die Stadt hatte damals mehr als 840.000 Einwohner, um 1910 waren es zwei Millionen. Nicht vergessen wird in der Darstellung das Elend der ZiegelarbeiterInnen, Untermieter und Bettgeher.

Am anderen Ende der sozialen Skala standen die Wohn- und Geschäftshäuser herrschaftlicher und großbürgerlicher Eigentümer. Sie lebten in der Beletage, während sich in den anderen Stockwerken Mietwohnungen, im Erdgeschoß Geschäfte und Gastlokale, im Keller Pferdestallungen befanden. Weniger noble Zinshäuser hatten nur Zimmer-Küche-Kabinett oder Kleinstwohnungen, besonders in den ehemaligen Vororten, wie in Ottakring.

Weitere Kapitel beschäftigen sich mit dem Leben in der Großstadt, dem Mikrokosmos Zinshaus, Prachtfoyers und Fotoateliers im Dachgeschoss. Margarethe Szeless schrieb den Epilog Das Wiener Zinshaus nach 1918: Mit dem Ersten Weltkrieg endete die große Zeit der Wiener Zinshäuser. Neue Gesetze, wie Mieterschutzverordnung (1917) oder Mietengesetz (1922) und die Wohnbausteuer (1923) machte sie unrentabel. Das "Rote Wien" übernahm den kommunalen Wohnbau. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden viele Zinshäuser zu stummen Zeugen des Verbrechens, schreibt die Autorin. Zwischen März 1938 und Oktober 1942 wurden in Wien zwischen 63.000 und 70.000 Wohnungen ihren jüdischen MieterInnen und EigentümerInnen weggenommen. … Im Laufe des Zweiten Weltkriegs erfolgten insgesamt 52 größere Luftangriffe, bei denen Schäden an 21.317 Gebäuden verursacht und 36.851 Wohnungen komplett, und 50.024 teilweise zerstört wurden. Beim Wiederaufbau hatte man andere Prioritäten als ästhetische Aspekte, es fehlten auch die finanziellen Mittel. Seit 1972 kann die Stadt Wien Schutzzonen festlegen, um wertvolle Ensembles vor dem Abbruch zu bewahren. Nach einer Studie der Akademie der Wissenschaften bestanden 2007 in ganz Wien 17.829 klassische Zinshäuser, bis 2019 wurden 2.117 davon "transformiert", nämlich 81,5 Prozent parifiziert und 18,5 Prozent abgerissen. Es bleibt zu hoffen, dass das Verständnis für die komplexe Architektur- und Kulturgeschichte des Wiener Zinshauses, wie sie in diesem Buch dargelegt wird, zur Wertschätzung dieses für Wien so charakteristischen Gebäudetyps beitragen wird.

hmw