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Martin Czapka: Wien 1900#

Bild 'Czapka'

Martin Czapka: Wien 1900. Ein lexikales Sammelsurium rund um das Wien der Jahrhundertwende. Amalthea Verlag Wien. 288 S., ill., € 40,-

Im Vorjahr hat Martin Czapka - international tätiger Autor, Grafiker und Designer - mit einem "lexikalen Sammelsurium" angenehm überrascht. Ging es damals "rund ums Kaffeehaus", so ist nun "Wien 1900" Thema des unkonventionellen Bilder-Buches. Von "Abdecker" bis "Zylinderhut" dreht sich diesmal das bunte Kaleidoskop. Wie bei dem Spielzeug, bei dem durch mehrfache Spiegelung von bunten Glassteinchen im Inneren wechselnde Muster erscheinen, zeigt sich hier eine Fülle optischer Effekte. Dieses Buch lebt vom Charme der Handschrift seines Autors. Man darf es als Glücksfall bezeichnen, dass Martin Czapka für Layout, Konzept, Text und die unverkennbaren Illustrationen verantwortlich sein konnte. Dem Verlag sei Dank! Das Publikum darf sich freuen. Im Zeitalter automatisierter, künstlich-intelligenter Bild-Kreationen sind die individuell angefertigten, farbigen Zeichnungen besonders wertvoll. Die historischen Vorbilder lassen sich gut erkennen, doch entscheidet der persönliche Blickwinkel – man könnte sagen "augenzwinkernd". So finden sich Architektur und Geschäftsportale ebenso wie nostalgische Reklame und Menschen aus allen sozialen Schichten.

Das Wien der vorletzten Jahrhundertwende wird meist als glanzvolle, goldene Jugendstil-Zeit und Epoche wegweisender Entwicklungen charakterisiert. Der Autor blickt aber auch in die Alltagskultur und bringt damals typisch wienerische Ausdrücke, wie "allerhand – unglaublich, unfassbar", "Bagage – Gesindel", "dalkert – dumm, einfältig, ungeschickt", "fesch – chic, attraktiv, gut aussehend, hübsch, flott", "Grant – Schlechte Laune, Missmut, Groll", "Haberer – Freund", "Klampfn – Doppelhalsgitarre", "Leibspeis – Lieblingsspeise", "Mezzie – Gutes Geschäft, günstige Gelegenheit", "Negerant – vermögensloser, verarmter Mensch", "paschen – applaudieren", "Schmäh – Witzige Redensweise, durchaus auch geistreich, unterhaltsam", "Vatermörder – Ein steifer, hoher, vorn offener Stehkragen des Herrenhemds".

So genannte Volkstypen – "das andere Wien" - viele von ihnen traditionelle Wanderhändler aus der Monarchie, sind gut vertreten: Aufhackknecht (Fleischergehilfe), Badeschwammverkäufer, Dienstmann, Fiaker, Grabennymphe, Hundehändler , Lumpensammlerin, Maronibrater, Orangenverkäufer, Planetenverkäufer, Salamucci-Mann oder Wasserer.

Ihnen stehen – heute mehr oder weniger bekannte – Persönlichkeiten aus Kunst, Literatur und Wissenschaft gegenüber, wie Viktor Adler, Ludwig Boltzmann, Carl Czeschka, Max Fabiani, Heinrich Goldemund, Ludo Hartmann, Franz Kafka, Jacob Lohner, Rosa Mayreder, Friedrich Ohmann, Adelheid Popp, Roda Roda, Anna Maria Sacher, Gebrüder Thonet, Otto Wagner, Bertha Zuckerkandl-Szeps. Auch die Wirtschaft findet ihren gebührenden Platz, von der kleinen Handlung bis zu prominenten Geschäften, meist k. k. Hoflieferanten: Kunsthandlung Artaria, Innenausstatter Backhausen, Konditorei Demel, Buchhandlung Frick, Herrenausstatter Goldmann & Salatsch, Juwelier Halder, Wäschesalon Ittner, Spezereiwarenhandlung Kattus, Glaswaren Lobmeyr, Lebensmittelkonzern Julius Meinl, Parfümerie Nägele & Strubell, Ottakringer Brauerei, Spielkartenfabrik Piatnik, Juwelier Rozet & Fischmeister, Schuhmacher Rudolf Scheer, Buffet Trzesniewski, Prägeanstalt August Ulrich, Delikatessen Zum Schwarzen Kamel. Selbstverständlich dürfen Cafés, Restaurants und Hotels nicht fehlen.

Den einzelnen Kapiteln sind Cartoons – z.B. "Beim Heurigen" – und zeitgenössisches Zitate vorangestellt. "Was wir heute tun, entscheidet darüber, wie die Welt morgen aussieht", meinte Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) prophetisch. Sie gilt als "eine der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts" und ist erfreulicherweise nicht die einzige Frau, die das Buch würdigt. Man kann sich vorstellen, dass es schwierig gewesen sein muss, aus dem unzähligen Stichworten eine Auswahl zu treffen. Der Autor hat diese Aufgabe bravourös gelöst, wenngleich man sich manchmal längere Erklärungen gewünscht hätte. Für die "Vorstadt" hat er offenbar wenig übrig. Sie "galt als Gürtel der Hoffnungslosigkeit, der existenziellen Ausweglosigkeit, der sozialen Implosion und der Immobilität." Oder sollte eine Verwechslung mit den Vororten vorliegen, wie beim Kapitel "Wiens Stadterweiterung" (1850) ? Jedoch sind und die grafische Aufbereitung des Wachstums der Stadt und der Ausdehnung der k. u. k. Monarchie aufschlussreich. Eher zum Schmunzeln verlockt die Zeitungswerbung um 1900. Von Milch-Chokolade bis "Zähne und Gebisse", von der Wellenbadschaukel bis zur Waschmaschine, vom Filzhut bis zum Rassehund war hier wohl für jeden etwas dabei. Interessant auch das Angebot an Lebenshilfe-Büchern: "Wie werde ich energisch ?", Broschüren gegen "Schwinden der Gedanken", sogar hypnotisieren und bauchreden konnte kam lernen.

Das Vorwort zu "Wien 1900 – Ein Panoptikum zwischen Tradition und Erneuerung" schrieb die Sachbuchautorin Barbara Sternthal. Sie nennt die Jahrhundertwende einen "Kosmos des Wundersamen, ein Kaleidoskop der sonderbaren Details … Martin Czapka ist es nicht nur gelungen, eine formidable Ordnung in dieses unerhörte Universum zu bringen. Es ist ihm vor allem dafür zu danken, dass er dem facettenreichen Spektrum namens 'Wien um 1900' ein bibliophiles Denkmal der Extraklasse gesetzt hat." Diesem Lob kann man sich nur vollinhaltlich anschließen.

hmw