Technisches Museum Wien (Hg.): Österreichs Radiogeschichte#
Technisches Museum Wien (Hg.): Österreichs Radiogeschichte. Vom Detektorempfang zum Streamingprogramm. 100 Jahre Radio 1924-2024. Kral-Verlag, Berndorf. 172 S., ill., € 24,95
100 Jahre Radio in Österreich - dieses Jubiläum ist nicht zu überhören. Der ORF veranstaltet eine Reihe von Aktivitäten, Bücher erscheinen, wie "Das Mikrofon im Dorf", Ausstellungen werden gezeigt, wie im Technischen Museum Wien (TMW) in Kooperation mit dem ORF. Zu dieser Schau ist ein informatives Begleitbuch erschienen, die meisten Beiträge stammen von KuratorInnen des Hauses. Radiodirektorin Ingrid Thurnher schreibt im Vorwort: "In den letzten 100 Jahren hat das Radio turbulente und dramatische Phasen erlebt. … Dabei hat es immer wieder seine besondere Bedeutung für die Menschen in Österreich unter Beweis gestellt. … Das Radio wurde zu einem verlässlichen Begleiter im Alltag."
Österreich war ein frühes Radioland. In den USA wurden 1920 erstmals Programme übertragen. Hierzulande brachte bereits 1923 "Radio Hekaphon auf Welle 600" eine Ansprache des Bundespräsidenten. Die Firma Czeija, Nissl & Co betrieb den Sender auf eigene Kosten, in der Hoffnung, Apparate zu verkaufen. Der Techniker fungierte auch als Sprecher und Pianist. Die Empfangsgeräte waren - zumeist selbst gebastelte - Detektoren mit Kopfhörern. "Die Ära des offiziellen österreichischen Rundfunks beginnt im Gebäude des vormaligen Kriegsministeriums am Wiener Stubenring, wo eine Funkanlage steht, " schreibt Ausstellungskurator Wolfgang Pensold. Nach einem Jahr stellt Radio Hekaphon den Betrieb ein und die Radio-Verkehrs-AG (RAVAG) nimmt am 1. Oktober 1924 "mit Musik von Richard Wagner den regulären täglichen Sendebetrieb auf. Die Station meldet sich mit den Worten 'Hallo, hallo, hier Radio Wien, Welle 530'." Das neue Medium wollte unterhalten, belehren und in der ganze jungen Republik Österreich Identität stiften.
Ausstellungskurator Mirko Herzog skizziert die rasche Entwicklung der Anfangszeit: Wer Radio hören will, braucht eine Genehmigung und muss Gebühren zahlen. Innerhalb eines Jahres verzehnfacht sich die Zahl der Anmeldungen, wobei die Behörde mit der Hälfte an Schwarzhörern rechnet. Von den Berggipfeln der Bundesländer aus verbreiten immer mehr Sender das Programm von Radio Wien. Bald gibt es in der Steiermark eigene Produktionen. Die Detektor-Apparate werden zunehmend von Röhrenempfängern (mit Lautsprechern) abgelöst, die man auf Raten kaufen kann.
Von Anfang an hatte sich das Radio der Bildung verschrieben. Als eine Art Volkshochschule brachte es von Fachleuten vorgelesene Vorträge, die beim Publikum schlecht ankamen. Künstler fühlten sich in dem 6 x 6 m großen Studio nicht gerade wohl. Eine Opernsängerin klagte über ihren Live-Auftritt, sie käme sich ohne Publikum einsam vor: "Man weiß nicht, ob es denen, die gerade zuhören, nicht ganz gleichgültig ist, wie und was man singt." Ab 1929 waren Übertragungen von verschiedenen Schauplätzen möglich, von Sportveranstaltungen ebenso wie Reportagen mit dem "wandernden Mikrophon". Eine Zeitschrift schwärmte. "Radio ist das Ohr des Heimes … Radio ist uns schon so unentbehrlich geworden wie Elektrizität oder Gas im Haushalt."
Es sollte nicht lange beim Bildungs- und Unterhaltungsprogrammen bleiben. "Diktatur aus dem Lautsprecher" schien angesichts verbesserter Technik unvermeidlich. "Aus dem einen kleinen Sender der Anfänge sind mittlerweile sieben Sender in ganz Österreich geworden, die mehr als eine halbe Million Abonnenten erreichen. Die tägliche Sendezeit hat sich auf 13 Stunden erhöht," erfährt man 1934. In diesem Jahr "wurden bei einem Putschversuch österreichischer Nationalsozialisten neben dem Kanzleramt auch die Räumlichkeiten der RAVAG in der Johannesgasse gestürmt. … Der Putsch kostet 200 Menschen das Leben, darunter Kanzler Dollfuß, "berichtet Wolfgang Pensold. Er weiß auch, dass der Ständestaat religiöse Programme und der Schulfunk "vor den patriotischen Karren spanne." 1938 wurde die RAVAG zerschlagen und der Radiobetrieb der Reichsrundfunkgesellschaft in Berlin unterstellt. Sie nahm auch das kurz zuvor nach Plänen von Clemens Holzmeister errichtete monumentale Funkhaus in der Argentinierstraße in Beschlag. Mittels billiger Volksempfänger sollte "ganz Deutschland den Führer hören können." Das Empfangen von "Feindsendern", um der Propagaganda zu entkommen, galt als "mit schweren Zuchthausstrafen" geahndetes Verbrechen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Österreich in vier Besatzungszonen und damit vier Sendergruppen geteilt. Radio Wien, der so genannte Russensender, agierte vom Funkhaus aus. Sendungen unterlagen der Zensur. Wünsche der Kommandatur wurden von dieser als Befehle verstanden. "Bei Nichteinhaltung droht Sibirien", schreibt ORF-Archivar Michael Liensberger. Die Kennmelodie der Propagandasendung "Russische Stunde" (16 Stunden wöchentlich) bildete für viele HörerInnen einen Abschaltimpuls. Jedoch nahm das Publikum "Was gibt es Neues" mit Heinz Conrads gerne an. Die Sendergruppe West in der französischen Zone umfasste Tirol und Vorarlberg. Hier war die Programmgestaltung nicht vorgegeben. Durch Zusammenschluss der Sender Graz und Klagenfurt entstand 1945 die Sendergruppe Alpenland, 1948 kam der Sender Schönbrunn in der britischen Zone Wiens dazu. Hier hatten die Rundfunkschaffenden viele Freiheiten. "Jeder, der einen Einfall hatte, konnte ihn auch verwirklichen," erinnerte sich ein Pionier jener Zeit. Unter amerikanischer Aufsicht gründeten 1945 die Sender Salzburg und Linz (1946 auch mit einem Studio in Wien) "Rot-Weiß-Rot", um den ÖsterreicherInnen den Amercan Way of Life schmackhaft zu machen. Diese nahmen die propagandistischen Botschaften anfangs skeptisch auf. Doch zunehmend schätzten sie an "Rot-Weiß-Rot" die moderne, abwechslungsreiche Musik und seine Stars - u.a. Marcel Prawy als Deutschlehrer. Der Sender erhielt die Übertragungsrechte an den Salzburger Festspielen. "Die große Chance" mit Maxi Böhm etablierte sich als beliebte Konkurrenz von "Was gibt es Neues". Die "Radiofamilie" entwickelte sich zum Erfolgsformat.
1952 war eine Live-Übertragung vom Einzug der neuen Pummerin zu hören. 1955 wurde das Publikum Zeuge der Unterzeichnung des Staatsvertrags und der berühmten Rede von Außenminister Leopold Figl: "Österreich ist frei". Noch herrschte herrschte "die Ära des Proporzes, der konsequenten Machtaufteilung zwischen Rot und Schwarz." Wolfgang Pensold beschreibt den Weg zur Rundfunkreform. 1962 unterzeichneten mehr als 800.000 Menschen das erste Volksbegehren der Republik. Vier Jahre später beschloss die ÖVP-Regierung das neue Rundfunkgesetz. Der erste Generalintendant, Gerd Bacher, erhielt weitreichenden Kompetenzen über Personal, Programm und Budget. Er veränderte die Corporate Identity grundlegend. Dazu zählte der Bau von sieben Landesstudios nach Plänen des Stararchitekten Gustav Peichl, auch "Peichl-Torten" genannt. Ein innovatives Sendeschema mit drei Programmen und die "Informationsexplosion“ boten gänzlich neue Hörerlebnisse. 1967 ging der Jugendsender "Österreich 3" an den Start. Traditionelleres Publikum konsumierte das Regionalprogramm, wo sich "Autofahrer unterwegs" größter Beliebtheit erfreute. Die älteste, tägliche Livesendung der Welt kam ins Guinness Buch der Rekorde. Österreich 1 liefert bis heute ein anspruchsvolles Kulturprogramm.
Weitere Beiträge behandeln Speichermedien, Radiopiraterie und die digitale Radiowelt, die ungeahnte Überraschungen bringen wird. Ingrid Thurnher schließt den Bogen mit dem Beitrag "Beyond Radio. Wie das Radio über sich hinauswachsen wird." Angesichts von 4,5 Millionen Hörerinnen zeigt sich die Radiodirektorin trotz neuer Herausforderungen optimistisch: "Denn das Radio hat Stärken, an die kein anderes Medium herankommt. … Es wird sich verändern. Es wird sich … weiterentwickeln, es wird über sich und seine bisherigen Ausspielwege hinauswachsen. Radio wird weiter senden."