DIE ANALDYNAMIK IN DER GESELLSCHAFT#
Nachdem wir die Dreieckssituation Eltern - Kind in ihrer Bedeutung für Sozialinvestments dargelegt haben, ist es nötig, die fundierenden Erlebniskonstellationen noch um eine Stufe weiter zurückzuverfolgen. Denn dem Drama zwischen Kind und Autorität kann man noch weiter in die Kindheit nachgehen. In einer bestimmten Phase der Entwicklung wird die Reinlichkeit besonders akzentuiert. Würde das Kind nicht zur Reinlichkeit dressiert und zu einer Ablehnung seiner Exkremente gezwungen, würde es ohne weiteres damit spielen, herumschmieren, ja sie sogar in den Mund nehmen. Denn es besteht eine narzißtische Identifikation mit den Produkten des eigenen Leibes - Speichel, Urin und Kot, bei der Frau auch mit der Milch. Verwandt damit ist die Identifikation mit dem eigenen Kind, das ja auch ein Produkt des eigenen Leibes ist. Das Kind ist gleichsam ein Stück des Ich. Dadurch werden alle Tradierungswünsche verständlich.
Den narzißtischen Tendenzen tritt jedoch die autoritative Umwelt entgegen. Die Reinlichkeitsdressur bekämpft die narzißtische Identifikation mit den Ausscheidungen des eigenen Leibes, und das Kind ist genötigt, sich nolens volens zu beugen. Es kann sich aus Liebe zu den Eltern der Reinlichkeitsdressur unterwerfen, aber es kann sich auch andrerseits trotzig widersetzen. Die liebevolle, verständnisvolle Autorität wird zwar auch die Reinlichkeit als einen Wert hinstellen, doch gewissermaßen als einen relativen Wert, so daß die Durchbrechung der Reinlichkeitsschranke keine Katastrophe darstellt. Wenn sich das Kind aus Liebe zu den Eltern der Reinlichkeitsdressur unterzieht, vermag sogar die Tendenz zum Schmutz bewußt zu bleiben, ohne daß man sich ihr überläßt. Die Ekelschranke, die so zwischen den Produkten des eigenen Leibes und der Person aufgerichtet wird, wird in diesem Fall keine aggressive Unbedingtheit erhalten.
Im Falle aber große Gewalt bei ihrer Entstehung mitwirkt und die Übertretung des Reinlichkeitsgebots als ein kolossaler Fehler hingestellt wird, pflegen reaktiv Trotz und Eigensinn zu entstehen. Gegenüber der Autorität entsteht Zurückhaltung und Reserve. Das Kind läßt nichts aus sich heraus, hat die Tendenz den Stuhl bei sich zu behalten. Eigensinn verbindet sich mit Zurückhaltung. Der reaktive Trotz wird einerseits durch die Autorität, andererseits durch die organischen Notwendigkeiten gebrochen. Die Gebote der Eltern werden introjiziert, und das eigene Über-ich wird ebenso starr wie das der Eltern sein. Die Person geht dann auch sadistisch gegen sich selbst vor. Die Reinlichkeits- und Ordnungstendenzen (Disziplin) werden überkompensiert und überspitzt und mit großer Angst aufrechterhalten. Die eigenen Identifikationen mit dem Schmutz werden innerlich verfolgt, ähnlich wie die äußeren.
Als Kompromißbildung zwischen Trotz nach oben und gleichzeitiger Hereinnahme der autoritativen Forderungen ist jene zwangsneurotische Eigenschaftsgruppe zu verstehen, wie sie Freud aufzeigte: akzentuierte Reinlichkeit, Genauigkeit, Gründlichkeit (Identifikation mit den autoritativen Forderungen), Eigensinn, Aggression, Sparsamkeit (Trotzhaltung gegen die Autorität), schließlich Darmstörungen (als somatische Folge der verzögerten Ausscheidung - 46).
In dem zitierten Fall wollte der zwangsneurotische Student den Vater mit der zu genauen - und damit endlosen - Leistung schikanieren. Die Leistung wurde ihm vom Vater abgefordert und erregte seine analsadistischen Aggressionen, die er nun entsprechend seinem introjizierten Vaterbild rationalisierte. Durch seine Leistungsverweigerung quälte er den Vater, er schützte übergroße Genauigkeit als Grund vor. Die Genauigkeit diente der antiväterlichen Aggression als Realisierung und Entschuldigung zugleich.
Die Dialektik zwischen den beiden sich gegenüberstehenden Instanzen, zwischen Autorität und Kind, ist wie folgt gelagert:
Autorität: rein, reich, fordernd, befehlend - oben
Kind: unrein, arm, Forderungen unterworfen, gehorsam - unten
Diese Gegenüberstellung sagt nur formal etwas über die Ausgangslage der dialektischen Auseinandersetzung aus. Nehmen wir den negativen Fall der harten, intensiv Disziplin fordernden Autorität, dann entwickelt sich folgende Konstellation:
Die Autorität fordert Reinheit, fordert die Herausgabe der Fäkalien, fordert Disziplin, Genauigkeit in der Beobachtung und Ausführung der Befehle. Sie erzwingt die Realisierung dieser Forderungen. Gleichzeitig bilden sich Trotz, Eigensinn, revolutionäre Tendenz, die mehr oder weniger verdrängt sein können. Die revolutionäre Tendenz verweigert die Herausgabe der Fäkalien und zeigt demonstrativ Schmutz.
Wenn wir die revolutionäre Seite betrachten, so finden wir folgende Symptomgruppe (Syndrom): Schmutz, Reserve gegenüber der Autorität bis hin zu massiver Aggression (Analsadismus), Verweigerung der Erfüllung autoritativer Forderungen und Disziplinlosigkeit. Aber diese revolutionäre, antiautoritative Seite existiert praktisch nie allein, sondern geht vielmehr mit der autoritativen Identifikation einher: Reinheit, Disziplin, Genauigkeit, Gründlichkeit, Erfüllung autoritativer Forderungen (Hergabe der Fäkalien), Bejahung der Autorität.
Dieses Syndrom über- oder unterlagert die vorher angegebene Schicht. Die beiden Schichten gehen miteinander die verschiedensten Legierungen ein. So gibt es den radikalen Konservativen, der sich mit der reinen Autorität identifiziert, seinen Sadismus gegen die Kleinen, Schmutzigen richtet, sie zu kujonieren trachtet, enorme Disziplin und Unterwerfung verlangt, Leistung und Opfer.
Diese bewußt sich mit der Autorität identifizierenden Typen (Faschisten) stehen psychologisch den radikalen Revolutionären sehr nahe, so daß ein psychologisches Kippen von einer Seite auf die andere leicht möglich ist (Mussolini, André Malraux). Beim rabiaten Konservativen werden die antiautoritativen Aggressionen zum Teil gegen die eigene Person gewendet (asketische Disziplin), zugleich nach außen gegen die Disziplinlosen.
Die Identifikation mit dem Aggressor kann jedoch auch so vor sich gehen, daß man zwar auch die Herrschaft will, jedoch für die Unterdrückten: die Schmutzigen, Kleinen sollen herrschen. Es kommt dann zur Ausbildung ganz analoger Eigenschaften wie bei den radikalen Konservativen, nur besitzen die Aggressionen eine andere Richtung. Der Typ ist »rein« im sublimierten Sinn und erklärt die Oberen als schmutzig. Er ist diszipliniert, demonstrativ schmutzig im primitiven Sinn, jedoch puritanisch-asketisch, aggressiv gegenüber den alten Autoritäten sowie gegenüber jenen, die nicht wie er selbst aggressiv gegenüber den alten Autoritäten sind. In ihm rächt sich gewissermaßen das schmutzige Kind für seine schmutzige Position, haßt die Reinen und denunziert sie als schmutzig.
Bleibt beim radikalen Konservativen die revolutionäre Aggression unbewußt und erfährt sie eine Wendung im Sinn der alten Autorität, so ist sie beim Trotzig-Aggressiven gegen die Autorität Vorgehenden bewußt, die Identifikation mit der Autorität jedoch unbewußt.
Bei Wendung der »Drehbühne« wird der radikale Konservative radikaler Revolutionär und umgekehrt.
In dem Dargelegten kam es darauf an zu zeigen, daß die Dialektik zwischen schmutzig-ausgebeutet (anale Abforderung) und rein-ausbeutend eine intensiv infantile Basis besitzt und daß diese Affekte in spätere gesellschaftliche Bezüge investiert werden können.
Einen sehr interessanten Fall stellt der sozialistische Malermeister 2/319 dar, der eigentlich ein Kapitalist im marxistischen Sinn ist, denn er akkumuliert Kapital und besitzt die Produktionsmittel, um demonstrieren zu können, daß er oberkastig ist. Um möglichst viel Kapital anhäufen zu können, lebt er bescheiden, kauft aber Häuser auf. Er hat es sehr schwer, mit seinen Affekten nach oben zurechtzukommen. Dies gilt vor allem gegenüber Tätigkeiten, die in irgendeiner Form leitend sind, weil er sich selbst als Gewerbetreibender in leitender Stellung fühlt. Diese leitenden Funktionen sind mit Oberkastigkeit verbunden, er muß sie auf heftigste abwerten und gerät so affektiv in eine Zwickmühle, die sich z. B. bei den Produktionen zum Stichwort »Generaldirektor« prompt äußert:
»... wenn der Arbeiter fünf Minuten länger am Klo bleibt, san scho Sicherheitsmaßnahmen da, da leucht' a Licht auf, so wie richtige Sklaven...« (Und die Arbeiter werden zu ihm sagen) »Er ist ein Hundeschwein.«
Andrerseits erwähnt er, daß es auch angenehme Generaldirektoren gäbe, jedoch:
»Gefühlsmäßig wird's schon mehr Schweine (!) geben.«
Auf die rein-schmutzig Problematik weist hier das »Klo« hin und danach wohl der Ausdruck »Hundeschwein« für Generaldirektor. Seine maßlosen Aggressionen gegen die Oberkastigen sind an Derbheit und Ungezügeltheit kaum noch zu überbieten. Er hielt sich im Rahmen der Untersuchung noch relativ zurück, aber im anschließenden Gespräch zeigte sich, daß er vor Tätlichkeiten nur aus Angst vor den Folgen und aus intellektueller Beherrschung zurückschreckt. So erzählte er die Geschichte von einer Frau, die ihm den Auftrag erteilt hatte, ihre Wohnune auszumalen. Sie war dann jedoch mit der Arbeit nicht zufrieden und ließ ihn offenbar ihre sozial überlegene Position spüren. Wie er selbst berichtete, war seine Reaktion die, daß er sie anbrüllte, sie sei nicht um so viel besser als er »Dreck unter einem Fingernagel« habe.
Er haßt die Oberkastigen tief und grimmig, sie sind »Hundeschweine« und so wie sein »Dreck unter dem Fingernagel«. Sie lassen den Arbeiter nicht einmal auf dem Abort in Ruhe. Andererseits sucht der Malermeister selbst oberkastig zu sein, indem er »einen Haufen Geld« sammelt. Wir erkennen die Kombination von Aggression und Identifikation hier besonders gut.
Die Beziehung der Vermögensproblematik zur Analität zeigte einmal eine interessante Karikatur in einer Wiener Zeitung, die sich mit den Wünschen der einzelnen Ressortminister befaßte. Die Wünsche des Finanzministers wurden in Anknüpfung an das Märchen vom »Esel streck dich!« so dargestellt, daß der Finanzminister vor einem aufgebreiteten Tuch auf die Produkte des Esels wartet. Die Identifikation von Geld und Kot wurde hier ganz deutlich:
Der Einwand, es handle sich dabei um einen Witz, ist, wie wir schon zeigten, tiefenpsychologisch nicht stichhaltig, sondern dient gerade als Bestätigung. Er wurde schon von Sigmund Freud in seinem Buch »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten« eindeutig geklärt. Im Witz vollzieht sich nämlich ein Bewußtwerden einer unbewußten Tendenz unter ästhetisch-formaler Rückendeckung.
Daß Besitz in jeder Form oral-anale Akzente aufweist, zeigt auch eine andere interessante Karikatur: »Es geht um die Wurst« (siehe oben):
Diesmal knüpft die Karikatur an eine Redewendung an. Die Wurst hat einerseits orale Akzente, ihrer Form nach jedoch auch anale und genitale. Die Tatsache, daß bei den Würsten Därme als Haut verwendet werden, ist hierbei ein wertvoller Hinweis. Der Wahlsieg wird nun durch eine Wurst symbolisiert. Dieser Wahlsieg bedeutet den Besitz der Macht, und - man sollte dies nicht vergessen - für die Politiker auch noch sehr konkreten Besitz (anal). Das oral-anale Symbol ist also sehr treffend. Der männlich genitale Aspekt der Wurst hat als Penissymbol zudem noch die Bedeutung von Potenz, also Macht; auf diese Weise wird die Wurst zum Symbol der Macht.
DIE ORALDYNAMIK IN DER GESELLSCHAFT#
Wahrend in der analen Phase das Kind jene Seite darstellt, von der gefordert wird, und vom Gesichtspunkt des Kindes aus den gebenden Teil, ist in der noch tieferen Schicht, der oralen Phase, die Relation umgekehrt. Denn in der Stillperiode (orale Phase) ist das gewaltig übermächtige Du (wir wollen nicht mehr sagen: »Autorität«) der ausschließlich gebende Teil, wobei das Kind, allerdings hungrig, einfach begehrt, was ihm zusteht. Das Genießen des Empfangens und die ekstatische Sättigung nennt die Psychoanalyse Oralerotik. Die Oralerotik fundiert spätere genitalzentrierte Sexualität, das Begehren der Mutter in einem differenzierteren Sinn. Das gierige, beißende Saugen, das besonders aggressiv wird, wenn zu wenig Milch da ist, nennen wir Oralsadismus. Es begründet das gierig-aggressive Habenwollen, Habsucht also und Raffgier. Ein überdeterminiertes, aggressives Habenwollen und Fordern von einer Autorität, der man vorwirft, daß sie zu wenig gibt, hat oralsadistische Fundierung. Andererseits hat, wie wir oben andeuteten, das orale »Gestillt-werden« etwas ekstatisch Beglückendes, wenn eine echte Sättigung eintritt. Die Oralität besitzt etwas tief Einigendes mit der Mutter. Von daher verstehen wir die vereinigende, verbrüdernde Wirkung der Tischgemeinschaft. Denn alles Essen und noch mehr Trinken setzt unbewußt eine gemeinsame Mutter voraus - Man erhält gewissermaßen etwas von der gemeinsamen Mutter und verbrüdert sich dadurch wiederum mit dem andern.
Beim gemeinsamen Essen und Trinken klingt die oralerotische Selbstvergessenheit an.
Die oralsadistischen Tendenzen bedingen Aggressionen gegen jene Autoritäten, von denen man Substanz zu erhalten hat. Sie bedingt zugleich leicht Aggressionen gegen jene, die gemeinsam von einer Autorität etwas zu bekommen haben. Nun darf man nicht vergessen, daß in früh kapitalistischen Zeiten de facto Menschen hungerten. Im Kollektiv entstand entsprechend ein orales Trauma, das sich nun in einer überspannten Habtendenz fortsetzt. Das auf Grund einer Unterversorgung entstandene orale Trauma erzeugte eine erhöhte Habtendenz, die tradiert wurde.
Ein Beispiel aus der Tierwelt:
Eine bestimmte Vogelart bekommt normalerweise vier Junge. Diese Anzahl kann die Mutter noch gut ernähren. Sie ist aber nicht gut imstande, fünf zu atzen. Kommt nun ein fünftes Junge zur Welt, stirbt es gewöhnlich. In einem tierpsychologisch gut beobachteten Fall wurde es zwar mit aufgezogen, bekam aber zu wenig. Die Folge war, daß dieses fünfte Junge einen schlechten Charakter bekam, es drängte die andern rücksichtslos von den Futterbehältern weg und kannte beim Fressen keine Grenzen. Wir sehen, daß hier Freßgier mit Aggression verbunden ist (47).
Der typische Oralsadist hat immer zu wenig. Da seine Tendenz mehr auf die Quantität der zu erwerbenden Güter ausgerichtet ist als auf die Qualität, zeichnet sich diese Raffgier auch durch Wahllosigkeit aus. Innerhalb der ödipalen Konstellation kommt der Oralsadist in eigenartig akzentuierter Form auch in Konflikt mit dem Vater. Die Aggression richtet sich insofern gegen diesen, als er die Mutter besitzt und nicht hergeben will. Die ödipale Aggression hat somit eine oralsadistische Fundierung. Wird der ödipale väterliche Widerstand überwunden, so fühlt der Oralsadist ein außerordentliches Anwachsen des Selbstbewußtseins. Nun verstehen wir, daß sich oraltraumatisierte Personen als entsprechend gute Führer eines oraltraumatisierten Kollektivs erweisen. Insofern sich aber die gleichen Typen auch gern unternehmerisch betätigen und »kapitalistisch« raffen, finden wir sie oft auf beiden Seiten.
Die Raffgier kann sich jedoch auch auf nichtfinanziellem Gebiet zeigen, so, wenn jemand nicht nur zwei, sondern gleich drei oder vier Doktortitel errafft, eine Reihe von Orden zu erlangen trachtet und andere Kastenpositiva sein eigen zu nennen wünscht. Die gesamten Akkumulationstendenzen sind also oralsadistisch fundiert. Doch kommt in diesen Fällen zur Habtendenz auch noch ein Großseinwollen, die Tendenz, oben zu sein, die aus anderen tiefenpsychologischen Quellen gespeist wird. Der Oralsadismus braucht sich kollektiv jedoch keineswegs nur gegen die sogenannten Kapitalisten zu richten. Er kann sich genauso gut einem sozialistischen Staat gegenüber bemerkbar machen.
Wir haben in der positiv-oralen Affektivität die Fundierung dei Brüderlichkeit durch gemeinsames Essen und Trinken, ja durch gemeinsam Empfangenes überhaupt erkannt. Die gemeinsam Genießenden - Genossen - sind oral verbunden. Nach Wasserzieher ist ein Genosse etymologisch jemand, »der mit andern das Vieh auf der gleichen Weide hat«, - auch hier ein oraler Akzent (48).
Die negative Seite der Oralität ist, wie wir zeigten, der Oralsadismus, das heißt, die Aggression gegen eine zurückhaltende Autorität, die die Kleinen wirklich oder eingebildet (durch Übertragung) hungern laßt bzw. ihnen zu wenig gibt. Die Mutter kann auf Grund einer analsadistischen Affektivität tatsächlich die Milch psychogen zurückhalten. Die neurotische Form des Nichtstillenkönnens ist bekannt. Daneben kann sie natürlich, wenn sie selbst hungert, zu wenig Milch haben. So wäre der Oralsadismus eine Folge einer analsadistischen Haltung der Mutter, also reaktiv entstanden, oder die Folge der kollektiven Situation der Mutter. Gerade die letzte Schädigung müssen wir beim sogenannten Proletariat annehmen. Die analsadistische Affektivität des sogenannten Kapitalismus führte zu einer hungernden Arbeiterschaft und damit wohl zu erhöhter Oraltraumatisierung der Arbeiterkinder. So führen kollektive Fehlhaltungen zu individuellen Fehlhaltungen; diese aber werden infolge ihrer großen Zahl wieder kollektiv wirksam.
Im analen Trotz ist auch ein Widerstand gegen die Abhängigkeit gegeben. Das Ich der oralen Phase ist jedoch noch völlig triebabhängig, hat keinen Sclbststand gegen die Triebe. Diese richten sich auf die Mutterbrust, die weiteren auf die Mutter, und so bilden die oralen Tendenzen und die Mutter eine assoziative Einheit. Mit Mutter, mit Erhalten, Empfangen wird auch der entsprechende Trieb aktiviert. Wie den eigenen Trieben in der oralen Phase, so ist das Kind auch der Mutter ausgeliefert - alles empfangend und nichts gebend.
Als gegensätzliche Zustände stehen in der oralen Phase einander gegenüber:
schenkende, überquellende Autorität, Inbegriff aller (unverdienten) Gnaden / notwendige, ungenügend spendende Autorität, zurückhaltende, nicht genug spendende Muttter
ekstatisch empfangendes, gnadenhaft beglücktes Kind /gierig hungerndes, verkümmertes Kind
In der Psyche bestehen oft beide, positive und negative Autoritätsbildcr nebeneinander, eines bewußt, eines unbewußt oder beide bewußt. Die natürlich gestillten Kinder müssen sich, um gestillt zu sein, anstrengen, die Flaschenkinder weit weniger. Die Arbeitsabforderung ist also bei den natürlich gestillten Kindern größer. Allerdings gibt es hier unter Umständen eine vergebliche Anstrengung, eine Anstrengung ohne rechte Befriedigung, ohne entsprechenden Lohn, eine tiefe Vergeblichkeit. Hier mündet dann die Anstrengung in Aggression, in den Oralsadismus.
Die tiefe affektive Untermauerung der Trennungslinie zwischen jenen, die haben, und jenen, die nicht haben, liegt wohl hier. Daß sich orale Tendenzen auf anale Objekte richten, ist naheliegend, denn die auftauchende anale Problematik hebt die orale nicht auf. Hat Kot die Bedeutung von Geld und richten sich darauf orale Tendenzen, dann werden diese sublimiert zu Geldsucht. Wir werden davon noch zu sprechen haben.
DIE UTERINE PHASE UND DIE GEBURT - LIEBE, NARZISSMUS UND SCHÖPFERKRAFT#
Gerade zu Anfang dieses Kapitels wollen wir nochmals an das erinnern, was wir zu Beginn des speziell tiefenpsychologischen Abschnitts bereits empfahlen: Jene, die nicht bereit sind, die Überzeugung zu teilen, daß die psychischen Akte der erwachsenen Menschen durch infantile fundiert sind, mögen sich im folgenden gerade auf jene Stellen konzentrieren, die, abgesehen von ihrem tiefenpsychologischen Gehalt, auch als reine Modellvorstellung dienen können.
Besonders im Blick auf die Bedeutung der Zuständlichkeit der Uterinität und der Geburt zeigen viele Menschen ein besonderes inneres Widerstreben, obwohl es unlogisch ist, die Bedeutung der Kindheit zuzugeben, den Stil der Geburt und das Erlebnis der Uterinität jedoch als bedeutungslos für die künftige Lcbensgestaltung anzusehen. Zwischen der Bedeutung von Erlebnissen und der Nähe zum Ursprung des Lebens besteht ein direktes Verhältnis (19). Aber offenkundig müssen besonders harte Widerstände überwunden werden, um Uterinität und Geburt als höchst bedeutsame und gewichtige Grunderlebnisse des Menschen zu akzeptieren. In einem solchen Fall kann die Modellvorstellung dazu dienen, ein Grundgerüst geistiger Ordnung für hochkomplizierte Sachverhalte abzugeben. Nach dieser besonders wichtigen Vorbemerkung wollen wir uns der Problematik selbst zuwenden:
Die befruchtete Eizelle teilt sich, und diese Teilung wird ständig wiederholt; dadurch verdoppelt sich jeweils die Zahl der Zellen. Das ständige Verdoppeln kommt einem Wuchern gleich. Erst etwa nach zwei Monaten verringert sich das stürmische Wachstum. Die Selbstexpansion des Lebewesens wird gedämpft, kanalisiert, wird von der Quantität mehr auf die Qualität umgestellt. Die Entwicklungsdynamik wird mit Hilfe von Hemmfeldern (Woltereck, 50) gesteuert. Die Quantität der Entwicklung nimmt zugunsten intensiver Formqualitäten ab. Der Größenwachstum ist, gemessen an späteren Stadien, zwar noch bedeutend, wird jedoch nach etwa zwei Monaten geringer. Die Sinnesorgane entwickeln sich, und damit wird die qualitative Expansion intensiv. Besonders Tastsinn und Gehör existierten schon in embryonalen Stadien, während der Sehsinn erst nach der Geburt wirksam wird.
Für dieses uterine Stadium ist der Zustand tiefer Unbewußtheit charakteristisch. Nicht umsonst hat Freud gezeigt, daß der Schlaf ein Regreß in die Zuständlichkeit der Uterinität darstellt (51). Die Grenzenlosigkeit, die im Anfangsstadium der Uterinität erlebt wird, der Mangel an Abgrenzung und Isolation, zugleich mit dem totalen Versorgtsein und dem Mangel an jeglicher Verantwortung und Belastung, lassen im affektiven Rückblick diesen ursprünglichen Charakter der Uterinität als paradiesisch erscheinen. Der ursprüngliche Zustand des uterinen Einsseins steht jenseits aller Dialektiken von arm und reich, rein und schmutzig. Er ist ein Zustand, in dem noch nichts von der Existenz des Bösen bewußt ist.
Insofern ist der uterine Affekt nicht nur der der Grenzenlosigkeit, Unendlichkeit, der einer möglichen uferlosen Expansion, der sich keine Widerstände entgegensetzen, er ist der Affekt jenseits der Gegensätze, jenseits der Dialektiken. Die Intensität der Verschmelzung mit dem Du, das im tief Unbewußten nicht vom Ich unterschieden wird, wird auch von der Sexualität nicht erreicht. Vielmehr unterlagert das uterine Erlebnis des Einsseins das der Sexualität. Es ist nur natürlich, daß alle Gemeinsamkeitsgefühle eine uterine affektive Unterlagerung besitzen, nicht nur Schlaf, Ohnmacht und Rausch.
Gemeinsam in eine strukturelle Ordnung eingefügt zu sein aktiviert die Affektivität der Uterinität. Die Verwurzelung in der uterinen Anonymität, in der Ununterschiedenheit, gibt auch dem »Man«, der »Masse« das Entlastende und Entspannte (52). Die Aktivierung der uterinen Affekte durch die moderne Rhythmik ist erklärbar durch die erlebten Herztöne der Mutter, die den Zustand der Uterinität durchpulsen. Auch die einschläfernde Wirkung des Wiegens und des Dunkels läßt sich aus der Regression zur Uterinität erklären.
Das All-Einheitserlebnis unterlagert alle spätere Differenzierung. Gustav Hans Graber verwendet zur Bezeichnung des Uterinitäts-Erlebnisses das von C. G. Jung in die Tiefenpsychologie eingeführte Wort »Selbst« (53). Das Selbst ist »kollektiv unbewußt« und höchst individuell zugleich. Wir haben in früheren Arbeiten vom »Herz« als Symbol für das Selbst und Zentrum des All-Affekts gesprochen (54). Es ist nur verständlich, daß dieser All-Affekt, der das Moment der Unendlichkeit beinhaltet, von Freud »ozeanisch« genannt wurde.
Er bildet die Grundlage der religiösen Affektivität. Denn in jeder Numinosität ist dieser Unendlichkeitsaspekt enthalten. Er durchpulst die Erlebnisweisen der sogenannten »Archetypen« (55). Jeder trennungsfremde Affekt hat einen Bezug zur Uterinität. Die Aktivierung der uterinen Affektivität fördert das alle Trennungsaffekte unterlagernde Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsbewußtsein. Das religiöse Allgefühl ist damit ganz natürlich verbunden. Die Geborgenheit in der Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit ist typisch für die religiöse Affektivität wie auch für das Gemeinschaftserlebnis. Dieses Gemeinschaftserlebnis sollte die Differenzierung spürbar unterlagern und umfassen, damit die Unterschiede keine Kluft schaffen. Mit der Uterinität haben wir jene Affektivität erreicht, die alle Grenzen transzendiert.
Die Allidentifikation ist die Basis für umfassendes Verständnis und für das, was man »Kontakt« nennt. Sie ist die vitale und geistige Integrationsbasis. G. H. Graber verlangt, daß die Integration der Psyche durch eine Aktivierung dieses Grundaffekts herbeigeführt werde. Nach Jung soll das »Selbst« diese Integration vollziehen.
Auf die Gesellschaft übertragen, kann die Transzendierung aller Verschiedenheiten auch nur durch den gleichen Affekt erzeugt werden: durch den Liebesaffekt in seiner umfassendsten Form, der alle Differenzierung nur als unwesentliche Unterschiedlichkeit ansieht. Dieser gemeinschaftsintegrierende Affekt kann die intellektuellen Akte adäquat steuern und fundieren. Der religiöse Aspekt der Allidentifikation ist eine wichtige Seite dieses Erlebnisses.
Auch das Erlebnis der Grenze tritt in der uterinen Existenz auf. Bei zunehmendem Größenwachstum wirkt der Uterus hemmend und beengend. Gerade in dem der Geburt unmittelbar vorausgehenden Stadium tritt die andere Seite der Ambivalenz der uterinen Existenz intensiver hervor. Der bergende mütterliche Schoß wird zum Kerker, zum Gefängnis, in dem man zwar total versorgt, doch zugleich im Bewegungsspielraum stark eingeengt wird. Das »Gefängnis« zeigt gewissermaßen die negativen Aspekte der uterinen Existenz. Die bergende Höhle, die Wohnung, ist der positive Aspekt dieses Stadiums, der einengende Kerker der negative. Die Grenze und Einengung, die Beschränkung und Umgrenzung legt die Umbiegung des Liebesimpulses nahe, die Rückwendung auf sich selbst und damit die Konstituierung dessen, was Freud Narzißmus nannte. Der von einer als viel stärker und überlegen empfundenen Instanz kommende Entfaltungswiderstand löst also die Abwendung des Liebesimpulses aus, so daß sich dieser auf das Wesen, von dem er ausgeht, zurückwendet. Erich Neumann hat als Symbol für diesen Urnarzißmus den »Uroboros« erkannt (56), die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Dieses Symbol diente etwa im Barock für die Unendlichkeit, ein interessanter Hinweis auf die gemeinsame Assoziationsbasis - die Uterinitat - von Unendlichkeitsgefühl und Narzißmus (57). Dem Gefühl einer Unendlichkeit folgt das der Einengung, dies lenkt die zentrifugalen Tendenzen zurück. So erhält das Ich selbst Unendlichkeitsbedeutung: die narzißtische Fixierung.
Soweit jedoch von der Person wegstrebende Tendenzen die Einengung transzendieren, erwarten sie die Unendlichkeit gewissermaßen hinter der einengenden Mauer, die es zu durchbrechen gilt: durch die Geburt. Die von der Person wegstrebenden Tendenzen transzendieren die Schranken, zielen in Richtung auf die offene Welt. Der Ausbruch aus der Pressung - der aggressive Durchbruch - und die positive Möglichkeit - das Entlassen in differenzierte Freiheit der dazu Reifen - sind die beiden Seiten der Geburt.
Aus zum Teil spezifisch neurotischen Gründen gibt es ein psychisches Zurückhalten, Nichtherauslassen des Kindes durch die Mutter. Dieses Insichhaltenwollen führt zu einer Intensivierung der Isolations- und Pressungsgefühle, der Unfreiheit und des Kerkerhaften und intensiviert sowohl den Narzißmus als auch die Durchbruchsaggression.
Die existentielle Bejahung des produktiven Durchbruchs, der Selbstentfaltung des Kindes durch die Mutter entspricht der Bejahung des Großer- und Selbständigerwerdens des Kindes überhaupt. Der Sohnkomplex der Väter, wie wir ihn beschrieben, hat eine Analogie im Kindkomplex jener Mütter (58), die ihre Kinder nicht von sich entlassen wollen. Das Ansichhalten und Ansichbinden stellt die übertriebene Form der Mütterlichkeit dar und fordert zur Revolte heraus. Diese Form der Mütterlichkeit stellt sich gegen den natürlichen Lauf der Dinge, gegen den vorgesehenen Entwicklungsablauf und damit gegen die Produktivität des Lebens. Die Folge ist verstärkte Aggression oder Narzißmus beim Kind, also Insichbleiben. Das Risiko des Ausgriffs der Geburt erscheint als zu groß. Die Kontakthemmungen erklären sich aus einer erhöhten Angst vor dem Umgreifenden. Die Geburt als Pressung durch einen engen Schlund und als Umstellung auf eine neue Lebensform ist als tiefgreifende Um-Organisation aufzufassen. Ein neuer Anfang wird gesetzt, bei dem sich die Entwicklung analog fortsetzt. Die Geburt wird eingeleitet durch eine Steigerung der Herzrhythmik der Mutter, durch stoßartige Wehen, die dann zur intensiven Pressung führen. Die Umstellung des Herzens, das Einsetzen der Atmung stellen intensive Umlagerungen dar, die die gesamte Existenz des Kindes betreffen. Die außerordentlich starke Wirkung, die von sich in Tempo und Lautstärke steigernden Rhythmen ausgeht, mag hier ihre Ursache haben.
Wenn wir die verschiedenen psychischen Stadien der Uterinitat und Geburt aneinanderreihend aufzeigen, dann sind sie roh etwa folgendermaßen zu charakterisieren:
Wenn wir diese Abfolgen betrachten, dann drängt sich uns die Verwandtschaft, Analogie zwischen der uterinen Dialektik von Allidentfikation und Selbstidentifikation, von All-Einheit und Narzißmus mit All-Gemeinschaft und Kaste auf. Wir haben hier wohl die tiefste Wurzel dieser Gemeinschafts- und Isolationstendenzen gefunden.
Nach der zutiefst vereinzelnden Geburt setzt sich die Dialektik differenzierter fort zwischen der oralerotischen Union von Mutter und Kind und dem trennenden Oralsadismus, der zwischen gebender Mutter und nehmendem Kind die Bande zertrennt. Daß in allen Fällen die ursprüngliche Allidentifikation die Kommunikation unterlagert, ist aus dem Vorangegangenen voll verständlich, aber auch die Identität der Allidentifikation mit dem zentralen religiösen Akt. Unsere Erkenntnis ist nun so tief in die menschliche Natur eingedrungen, daß wir eine geschlossene tiefenpsychologische Deutung des kasten-neurotischen Syndroms zu geben vermögen.
TIEFENPSYCHOLOGIE DER KASTE#
Als zentrales, affektives Moment der Kaste haben wir das »Unter-sich« erkannt, die Geschlossenheit eines Menschenkreises im Blick auf wesentliche Momente des Lebens.
Die Abgrenzung erfolgt so, daß Essen und Trinken, Handgeben, also körperlicher Kontakt bei der Begrüßung, vermieden werden. Schließlich wird nur in der eigenen Kaste geheiratet, und die Kinder werden in Erziehung und Spiel von Anderskastigen getrennt. Wenn wir die tiefenpsychologische Grunddetermination der Schaffung von Wesensunterschieden bei den Menschen zu fassen trachten, dann empfiehlt es sich, die Extremisierungen dieser Haltung zu beobachten. Dabei bietet sich die immer gesteigerte Verringerung des »Heiratsmarktes« für Adelige höherer Stufen als Extrembild an. Ein gekröntes Haupt findet, soweit es sich nach dem Normenkodex des Feudalismus zu verhalten wünscht, schon einen sehr eingeschränkten »Heiratsmarkt« vor. Nun sind die Wertzentren in der Feudalhierarchie zwar primär durch die Herkunft bestimmt, doch stünde nach diesem Kodex z. B. der König von England, bei gleich langem Stammbaum mit dem König von Albanien, immer noch weit über diesem. Die Werthäufung beim König von England ist größer. Konsequent blieb für die ägyptischen Pharaonen, die die umliegenden Könige an Position weit überragten, nur die Inzestehe als Ehe unter »Ebenbürtigen« übrig. Die Geschwisterehe ist das realisierbare Maximum des kastenhaften »Unter-sich«.
Diese Tatsache bedeutet nicht, daß sie auch das Maximum der Vorstellbarkeit, der Wunschbildhaftigkeit, des Dranges zum »Unter-sich« bedeutet. In der Phantasie ist das Kastenhafte noch zu steigern. Diese Steigerung finden wir in der ägyptischen Mythologie, wenn es etwa vom ägyptischen Atum heißt:
»Atum, der zum Selbstbefriediger geworden ist in Heliopolis, er nahm seinen Phallus in seine Faust, um damit Lust zu erregen. Ein Geschwisterpaar war erzeugt, Shu und Tefnet.«
Oder:
»Ich begattete in meiner Faust, ich vereinigte mich mit meinem Schatten, und ich ergoß aus meinem eigenen Munde. Ich spie aus als Shu und spuckte aus als Tefnet.« (59)
Der ägyptische Gott braucht also nicht einmal eine Frau. Diese Reinkultur des Narzißmus, der Selbstverliebtheit und Selbstverabsolutierung stellt als Extremwert des In-sich-Bleibens - dessen sanfte Erweiterung das Unter-sich-Bleiben ist - das Maximum des Denkbaren dar und ist als solches instruktiv. Strenggenommen ist jedoch der mythologische Endpunkt im Fiktiven kein Unter-sich mehr, sondern ein In-sich, aber der innere Zusammenhang beider ist offenkundig.
Der Narzißmus ist aber nicht nur in der Basis für die Ehebindung zu finden. Denn wenn das Essen mit einem Andersartigen das Unter-sich verletzt, so zeigt sich hier in der schon erwähnten Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, das narzißtische, mythologisch-fiktive Maximum. Nur das eigene Fleisch essen, nur die eigene Substanz für wertvoll genug zum Essen zu halten, ist die Entsprechung zur onanistischen, mythologischen Zeugung. Wir finden in Psychoanalysen Träume, in denen zum Beispiel ein Tier seinen eigenen Kot frißt. In diesem fiktiven Grenzpunkt wird nicht nur das In-sich, sondern zugleich damit die Isolation am intensivsten. Und die kastenhafte Isolation bedeutet ja auch die Not des Eingeschlossenen und Eingekerkerten. Wir zeigten, daß der Narzißmus eine ungeheuer tiefe Wurzel besitzt, daß er als Rückwendung des Entwicklungsimpulses auf die eigene Person zu verstehen ist und eine unendliche Intention haben kann.
Wir können auch die Fixierung aus dem Narzißmus verstehen, der sich gegen die Erweiterung der Entwicklungsdifferenzierung richtet.
Die biologische Entwicklung geht jedoch eigengesetzlich vor sich und ist durch den narzißtischen Affekt nicht aufzuhalten. Der Narzißmus kann sich aber gegen die Entwicklung richten. Auf diese Weise lassen sich auch verabsolutierte Werte und ihre Stellung in der Kaste verstehen. So gründet das Reinheitsmoment und seine Verabsolutierung im Narzißmus. Die Rein-Unreinheitsdialektik, wie sämtliche Kastenwerte, die entweder Auszeichnungen der Autorität sind oder solche der Infantilposition, können narzißtisch besetzt sein.
Der Kindkomplex der Mütter - das In-sich, An-sich- und Unter-sich-Halten des Kindes und des Kleinen - folgt aus demselben Narzißmus wie die Identifikationen derer, die für sich oder für eine Gruppe sekundär die Kastenposition der Oberen haben wollen.
Wenn zum Beispiel die unteren Schichten in einem sublimierten Sinn für »rein« erklärt werden, wobei man paradoxerweise diese Schmutzigen von Nichtschmutzigen »rein halten« muß, so ist das ein Werk des Narzißmus. Der spezifische Wertinhalt der Kaste ist von sekundärer Bedeutung. Jedenfalls aber wird er mit jenem Unendlichkeits- und Absolutheitsakzent versehen, den wir als Kern der uterinen Existenz aufzeigten, und wird dann heilig gehalten und im Sinn des Narzißmus unter und in sich bewahrt und behalten.
Gegenüber der übrigen Gemeinschaft isoliert sich die Kaste. Das Unter-sich zeichnet sich gegenüber dem reinen In-sich dadurch aus, daß der Narzißmus sich nicht auf die einzelne Person sondern auf die Gruppe richtet. Damit ist das Zielobjekt des Narzißmus differenzierter als beim Urnarzißmus.
Die Kaste ist somit ein Kompromißprodukt - und damit sozialneurotisch - zwischen Narzißmus und Gemeinschaftsaffekt. Nicht allein der primäre Narzißmus, dessen Liebesobjekt die Person selbst ist, noch die ursprüngliche Allidentifikation, sondern die narzißtische Besetzung der Gruppe, mit der sich die Person identifiziert, führt zur Kastenbildung. Die Kaste ist ein Produkt des Gruppennarzißmus.
Theodor Reik schrieb in »Der eigene und der fremde Gott«:
»Was sich als Differenz zwischen den einzelnen Menschengruppen brüstet, ist narzißtischer Stolz, der die gemeinsamen Wurzeln ignorieren möchte, ist das Sträuben gegen die unbewußte Erinnerung an jene Zeit, da alle eine homogene Masse waren.
Alle Differenzierung ist doch nur eine partielle, alle Trennung nur kurzlebig. Es geht den Völkern ähnlich wie den Personen Nestroys, die beschließen: ,Wir wollen uns zusamm' separieren'.« (60)
Das Paradox von »zusammen« und »auseinander« beherrscht die Kaste. Der Gruppennarzißmus ist ihr zugrunde liegender ambivalenter Affekt. Nur in diesem Sinn wollen wir das Wort »kastenhaft« verstehen.
Nicht nur dort, wo eine Kaste im Vollsinn existiert, ist der Gruppennarzißmus am Werk. Er setzt schon viel früher ein und wirkt sich in subtilen Details des Verhaltens aus. Daher gibt es die Kaste als Ansatz, mit latentem Ziel, als wirksamen Faktor auch dort, wo noch keine voll ausgebildete Kaste existiert. Der Gruppenwert bildet gewissermaßen den gemeinsamen Nenner, doch kommt es zu immer wieder analogen Phänomenen, wenn die Verkastung fortschreitet. Der Gruppennarzißmus verquickt sich mit Überlegenheitssymptomen, die an die Autoritäten in der Kindheit anknüpfen.