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KASTE UND RELIGION#

Wenn wir von Religion sprechen, wären wir berechtigt, auch jene Lehren einzuschließen, die sich zwar nicht als Religion direkt zu erkennen geben — wir meinen die -ismen —, die trotzdem aber um einen Sakralwert strukturiert sind und das Insgesamt der Realität zu deuten versuchen. Es sind die Religionen« im weiteren Sinn, sie beanspruchen aber die religiöse Affektation ebenso wie die eigentlichen Religionen. Wir besprechen diese Sekundärreligionen jedoch in einem eigenen Abschnitt, den wir «Kaste und Ideologie« betiteln.

KASTE UND CHRISTENTUM 1#

Obwohl zu diesem Thema eigene Arbeiten vorliegen, haben wir allen Grund, uns auch in dieser umfassenden Arbeit genauer mit ihm zu beschäftigen. Denn wenn auch das geschichtliche Christentum immer wieder kastenfreundliche und kastenfördernde Züge aufweist, so darf doch nicht übersehen werden, daß mit Christus, wie nie zuvor, die Kastenfremdheit, ja Kastenfeindlichkeit in die Welt gekommen war und damit der entscheidende Ansatz zur Integration der Menschheit. Um uns dem Christentum entsprechend vorbereitet zuwenden zu können, wollen wir uns zunächst mit seinem Ursprung, dem Judentum, beschäftigen. Danach soll das Grundverhalten Christi, das seiner Apostel und zuletzt das des historischen Christentums betrachtet werden. Unsere Feststellungen sind eindeutig psychologischer Art und nicht theologischer; das heißt jedoch nicht, daß sie theologisch uninteressant sind. Doch dies zu beurteilen, ist Sache der Theologen. Heilsgeschichtlich theologische Gegebenheiten können psychologische umgreifen.

Das gilt von allen wissenschaftlichen Feststellungen der Bibel gegenüber. Wenn den Israeliten ein Sturm das Meer wegbläst und der Sturm gerade dann aufhört, wenn die Ägypter im Meeresbett sind, so kann dies durchaus meteorologisch erklärt werden, hat jedoch darüber hinaus einen heilsgeschichtlichen Sinn, der jedoch nicht in die Kompetenz der Meteorologie fällt.

Das Judentum#

»Ich bin... dein Gott, der dich hin weggeführt hat aus Ägypten, dem Haus der Sklaverei.« Ex 20,1 - 2

Wenn wir uns um die Eigenart und damit um die Fähigkeiten und um die Aufgabe des Judentums bemühen, so empfiehlt es sich, das tradierte Kernerlebnis dieses Volkes - sein historisches Schicksal - besonders zu beachten. Beim Judentum ist bis heute ein Grunderlebnis in aller Tradition herausgestellt worden - Hinweise darauf tauchen immer wieder in den Schriften beider Testamente auf - , und zwar das Grunderlebnis des Ausbruchs aus der ägyptischen Sklaverei.

Der »Exodus« ist das Heldenlied des Judentums, des Ausbruchs aus einer in vieler Hinsicht überlegenen Herrschaft. Dieser Ausbruch ist das Werk des Moses, und es ist daher verständlich, wenn Sigmund Freud gerade an ihm ein tiefes Verständnis fUr das Judentum und damit auch ein vertieftes Selbstverständnis zm erlangen trachtete (70). Freuds Mosesdeutung, so genial sie im einzelnen sein mag, muß jedoch verschiedene Teile des Berichts für unhistorisch erklären. Das wäre wissenschaftstheoretisch nur dann erlaubt, wenn es nicht anders möglich wäre, die inneren Vorgänge des Moses psychologisch befriedigend zu erklären.

Aber wir können uns mit den erarbeiteten Begriffen sehr wohl innerhalb der psychologischen Problematik des Moses orientieren. Ja, die affektive Lagerung der Kastenproblcmatik wird auf Grund des gegebenen historischen Berichts sogar sehr verständlich.

Moses ist der Freiheitsheld des Judentums schlechthin. Ein ursprünglich freies Nomadenvolk befand sich in ägyptischer Gefangenschaft und Sklaverei. Moses führte es aus dieser Gefangenschaft in die mühsame und riskante Freiheit der Wüste. Der Durchbruch und Ausbruch aus der ägyptischen Sklaverei ist also sein Werk. Er führte die Israeliten auf Grund einer Identifikation mit dem Willen seines Gottes, der die Freiheit von aller Knechtschaft will, der in seinen Gesetzen immer wieder darauf Bezug nimmt, daß er sein Volk aus dem »Haus der Knechtschaft« befreite.

Betrachten wir nun die affektive Lagerung bei Moses. Nach Exodus 1 gab es einen ägyptischen Befehl, alle neugeborenen israelitischen Knaben zu töten, indem man sie in den Nil warf, die Mädchen jedoch leben zu lassen. Dieser Befehl wäre typisch für exzessives Verhalten von Ober-kastigen. Denn bei Befolgung eines solchen Befehls blieben die Mädchen als das ungefährlichere Geschlecht und als Triebobjekte für die oberkastigen Ägypter übrig, die sie nicht einmal (wie beim Recht der ersten Nacht) mit den Unterkastigen zu teilen hätten. Nun finden wir die feudalistische Herkunftswertung, die Verkastung, gerade bei den Ägyptern besonders ausgebildet (Inzestehe bei den Pharaonen).

Nach Exodus 2 versuchte die jüdische Mutter des Moses, ihn vor der ägyptischen Aggression zu schützen. - Ähnlich wird später Christus von Herodes bedroht. - Sie setzt das Kind aus, es wird von der Pharaonentochter gefunden und als Sohn angenommen, die wirkliche Mutter des Knaben wird seine Amme (77). Diese Situation besitzt verschiedene Aspekte.

Erstens zeigt sie das unbezweifelbare Durchbrechen des ägyptischen Kastennarzißmus durch die Pharaonentochter. Wäre diese dem ägyptischen oberkastigen Affekt gefolgt, so wäre ihre Reaktion zumindest so gewesen, daß sie sich nicht weiter um das Kind gekümmert hätte. An dem Verhalten dieser Hochfeudalen zeigt sich, wie sich die menschliche Natur gegen die Kastenschranken wehrt. Die Pharaonentochter steht als Verkörperung der Kastenfremdheit am Beginn der geschichtlichen Konsolidierung des Judentums. Ihr fehlt der Sohnkomplex der Pharaonen, so wollte sie den Tod des israelitischen Knaben nicht. (In der Chronos-Zeus-Mythologie nimmt sich die Frau des Chronos des künftigen Revolutionärs an.)

Die Juden waren bei den Ägyptern offensichtlich etwas Ähnliches wie zwangsangesiedelte Zigeuner, die ja von den Seßhaften immer als fragwürdige Erscheinungen angesehen werden. Der Knabe Moses gelangte also von der Kaste her gesehen a priori in eine Zwischenposition. Der Herkunft nach kam er von unten - der Erziehung nach war er jedoch oben. Er bekam eine hochfeudale Erziehung, wurde mit dem Bildungsgut der Zeit vertraut gemacht wie nur wenige, andererseits war er jedoch kein »richtiger« Pharaonensohn. In der Familie des Pharao wird er eine ähnliche Rolle gespielt haben, wie sie etwa ein zusätzlich angenommenes Kind in einem Königshaus unter lauter Prinzen (Erzherzögen) spielen würde.

Auf Grund der historischen Geschehnisse dürfen wir auf eine außerordentliche Intelligenz des Moses schließen. Und in diesem hochfeudalen Milieu mußte er wohl erkennen, daß er den ägyptischen Prinzen überlegen war, daß aber die Herkunft ungerechtfertigterweise einen entscheidenden Unterschied darstellte.

So, als fünftes Rad am Wagen, und durch seine Herkunft mit den unterkastigen Israeliten verbunden, mußte ihn schließlich die Mißhandlung eines Israeliten durch einen Ägypter entsprechend reizen. Es kam zu der entscheidenden Identifikation nach unten, die für das Judentum wohl überhaupt als archetypisch zu gelten hat. Moses, außer der Herkunft mit allen positiven Attributen der Oberkasten ausgestattet, identifiziert sich also nach unten und wird so zum Führer der unterkastigen Israeliten und zu ihrem Befreier.

Das numinose Erlebnis, das in ihm den Entschluß zur Befreiungstat endgültig werden läßt, ist das der Konfrontation mit dem brennenden Dornbusch. Der brennende Dornbusch ist an sich ein Symbol lodernden (= brennenden) Widerstandes (Dornen). Im Gespräch mit dem Gott der Freiheit, der der einzige und somit allverbindlich ist - wir haben dieses Gespräch wohl auch als inneren Dialog des Moses mit seinem Gewissen zu verstehen -, empfängt er den Revolutionsauftrag. Nicht die Götter der Ägypter rechtfertigen den Aufstand gegen das ägyptische Gesetz, sondern der Gott der Freiheit, der sich durch eine existentielle Tautologie selbst definiert. Ich bin, der Ich bin, lautet eine Übersetzungsvariante. Dieses Erlebnis mit dem brennenden Dornbusch ist einer der zentralen Momente der Weltgeschichte. Denn von hier an datiert die Erhebung des Judentums, das damit die erste große Schlacht für die Freiheit und Menschenwürde schlägt. Von nun an sollte der Ruf nach Freiheit von der Sklaverei nie mehr verstummen.

Moses wird bedrückt vom Selbstzweifel und der inneren Not aller Revolutionäre. Aber der Ausbruch aus der Sklaverei gelingt. Der Gott, der über all dem Geschehen thront, ist ein Gott der Freiheit von Bedrückung. Seine Normen, die Moses empfängt, sollen eine Verkastung, wenigstens zunächst innerhalb des Volkes Israel, verhindern. Immer wieder finden wir den Hinweis, daß sich Gott mit den versklavten Israeliten identifizierte und sie in die Freiheit führte, daß der Gott der unterkastigen Israeliten stärker war als die Götter der Feudalvölker.

Moses ist, was die Möglichkeit einer Erklärung seiner psychischen Haltung betrifft, ein Umwelttypus. Er entspricht durchaus der Umweltmythologie (Kind einfacher Eltern in hochfeudaler Umgebung ergibt Führerpersönlichkeit!). Er erzieht die Israeliten zu freien Menschen, zeigt gewissermaßen an ihnen, daß es möglich ist, aus Sklaven Freie zu machen. Und in der jüdischen Gesetzgebung wird immer wieder auf die Befreiung aus der Sklaverei hingewiesen. Adam Müller sagte hier schon sehr einsichtige Worte:

»Moses gründete ein Volk von Priestern und erklärte zum obersten Gesetzgeber und König desselben den einzigen Gott, Je-hova, und als erstes Reichsgrundgesetz den Glauben an diesen einzigen, unsichtbaren König. Die Modeliebhaberei unserer Zeit für das griechische und römische Altertum hat diesen größten Gesetzgeber aus dem Andenken der Gebildeten verdrängt... Lassen Sie uns diesem Unverstand einigen Verstand entgegensetzen ... Wie konnte man ein Volk von Sklaven für die Freiheit erziehen? Moses löste die ungeheure Aufgabe. Was sind all die Helden der Freiheit... - was sind Leonidas mit seinen Spartanern und alle Brutusse der Welt für Pygmäen gegen diesen riesenhaften Helden der Freiheit...« (78)

Die Juden sind nicht, wie manche Antisemiten es wollen, ein Sklavenvolk, sondern ein befreites Volk, das in Ritus und Kultus die Tatsache dieser Befreiung institutionalisierte, ja in vieler Hinsicht in dieser antiautoritären Aggression steckenblieb. Die Situation, Sklave gewesen zu sein, führte zu einer geradezu übervorsichtigen Haltung menschlichen Autoritäten gegenüber. Es gibt eine durchgehende Haltung im Judentum bis zu Karl Marx, die antiautoritativ, antiväterlich ist und die Brüderlichkeit und Gleichheit unter den Menschen betonte. Dieser antiautoritäre Affekt, die Erfahrung des Sklaventums, macht die Aufgabe und auch das spezielle Auserwähltsein des Judentums aus. Der Gott, der die Sklaven liebt, beauftragt zur Identifikation nach unten.

In der Vererbungsmythologie wird demgegenüber ein Kind aus königlichem »Geblüt« in ein einfaches Milieu gestellt, der junge Königssohn betrachtet jedoch bereits die andern Kinder »herrisch« und legt Herrschertalent an den Tag. Auf Grund unseres Wissens ist es sicher, daß Moses im israelitischen Milieu nicht die Bildung erhalten hätte wie im phara-onischen. Seine Begabung wäre natürlich die gleiche gewesen. Weiterhin hätte er auch nicht im gleichen Maß die Fähigkeit zum Volksführer erhalten, da ihm die innere Struktur der Oberkasten nicht im gleichen Maß geläufig gewesen wäre. Daß an der Spitze des Freiheitsausbruchs der Juden ein milieugeprägter Typus steht, wirft auf den ganzen antikastenhaften und antifeudalen Ansatz des Judentums ein bedeutsames Licht. (Wir befinden uns ja im Pharaonenreich, in dem der Feudalismus auf die inzestuöse Spitze getrieben wurde.)

Die Einrichtung des Sabbats wird dreifach motiviert. Die Sklaven sollen verschnaufen können, erstens weil auch Gott verschnauft hat (Identifizierung Gottes mit den nicht unterkastig sein sollenden Sklaven). Zweitens, weil Israel selbst Sklave in Ägypten war und um die Wohltat des Verschnaufens weiß (das auserwählte Volk soll sich mit den unterkastigen Sklaven identifizieren). Drittens, weil Gott die unterkastigen Sklaven liebt. Er hat ja auch die Israeliten am meisten geliebt, als sie »Sklaven waren im Lande Ägypten« (Lv 19,34; Dt 10,18 f.)(79).

Das Gesetz vom Berg Sinai beginnt - bemerkenswert genug - gleichsam als Rechtfertigung für die Gesetzgebung mit einer Selbstcharakterisierung Gottes: »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich hinweggeführt hat aus Ägypten, dem Haus der Sklaverei«, und dann wird fortgesetzt: »Du sollst neben mir keine anderen Götter haben ...« (Ex 20,1 ff.). Das Gesetz vom Berg Sinai ist gleichsam der Abschluß des Exodus. Die Erfahrung der Sklaverei und die Bejahung der Freiheit soll für alle Zeiten fixiert werden. Im kommunistischen Sprachgebrauch würde man sagen: Die Errungenschaften der Revolution sollten tradiert werden. Noch im revolutionären Ansatz Karl Marx' ist das Faktum, Sklave gewesen zu sein in Ägypten, wirksam. Das Gesetz, das das Leben anderer heiligt, ist zum Teil als transzendente Verankerung der Befreiung aus der Sklaverei zu verstehen.

Die Geschichte des Judentums ist ein einziger großer Kampf - beispielhaft für die Geschichte der Menschheit - um die Allgemeingültigkeit und Unteilbarkeit dieser gewonnenen Freiheit gegen Angriffe von innen und außen. Israel wurde zur Theokratie, Gott ist sein König. Daß ein solches Gottkönigtum mit der landläufigen Monarchie nur das Wort »König« gemeinsam hat, ist einsichtig. Es ist durchaus vertretbar, der »Sklave Gottes« zu sein, niemals aber der Sklave eines Menschen.

Das Land, das Israel in Besitz nahm, ist nicht sein eigenes Land. Es ist ihm von Gott zu Lehen gegeben. Denn alles ist Eigentum Gottes. Nach der Landverteilung sollte es dem Judentum nicht möglich sein, die Besitzverhältnisse wesentlich zu ändern. Es soll sich keine reiche Oberkaste bilden können und kein Proletariat. Die Leviten und Priester erhalten kein Land: »Denn mein ist das Land, Gäste und Pächter seid ihr bei mir« (Lv 25, 23). Man sieht, die Theokratie gilt auch im Bereich der Wirtschaft (eine etwa hier anschließende Diskussion um Gemein- oder Privateigentum wäre aber verfehlt und würde am Wesentlichen vorbeigehen!)(80). Wenn ein Israelit verarmte und sein Land verkaufen mußte, dann war er, falls er wieder zu Geld kam, berechtigt, sein früheres Eigentum wieder zurückzukaufen. Blieb er weiterhin arm, mußten seine Verwandten es für ihn tun. War auch dies nicht möglich, bekam er (oder seine Erben) das Grundstück im 50. Jahr unentgeltlich wieder zurück. Alle Eigentumsübertragungen wurden im siebenmal siebenten Jahr (Jubeljahr) hinfällig erklärt (81). Den Armen gehörte die Nachlese auf den Feldern. Daß die tatsächlichen Verhältnisse oft andere waren als die gesetzlichen, ist selbstverständlich, denn Abweichungen vom Gesetz gibt es immer. Aber man sollte zunächst die Tendenzen der Gesetzgeber zu erkennen trachten. Wie gegen die Verkastung, ist das beste Judentum auch ursprünglich gegen einen festen Tempel. Die Bundeslade soll symbolisch immer zum Aufbruch bereit stehen: »In den Hülsen des Schreins sollen die Stangen sein, sie sollen von ihm nicht weichen!« (Ex 25, 15).

Im Prophetismus besaß das Judentum ein erstes Sichtbarwerden schöpferischer Elemente. Wie echte Genialität weder vererbt noch tradiert werden kann und aus jeder Schicht des Volkes zu kommen vermag, so auch die Propheten. Vom Pflug weg oder von der Tenne ruft Gott den Propheten und führt ihn hinweg. Das Charisma bleibt weder in der Familie noch kann man es institutionalisieren. Man kann es nur anerkennen und fördern oder verdrängen, oder sogar bis zu einem gewissen Grad kontrollieren. Erzeugen oder tradieren kann man es nicht (82). Wir verstehen daher auch den Widerstand, den die Propheten zuerst einmal der Einsetzung, dann der inneren Expansion eines Königtums entgegensetzten. Denn eine Kultur des Schöpferischen widerspricht zutiefst der Herkunftswertung.

In diesem Zusammenhang ist es hochinteressant, die Reaktion des Richters Gedeon zu beachten, als man ihm das Königtum anbietet. Da kommt der »Bote Jahves« zu Gedeon, dem »Geringsten in Manasse und dem Letzten in seiner Familie«, der gerade auf der Tenne Weizen drischt, und beruft ihn (der »Geist« Jahves »bekleidet« sich mit ihm)(83). Dies heißt einfach, Gedeon hat das Erlebnis, auserwählt zu sein. Der (nichtlevitische!) Gedeon opfert ein Ziegenböckchen und ungesäuerte Brote auf einem Felsen, reißt den Baalsaltar »seines Vaters« um und verbrennt in der Nacht auf einem neu errichteten Höhenaltar (»hoch oben auf der Burg«) einen Stier, sammelt ein Heer und siegt. Der Kriegsschrei des Heeres war: »Das Schwert (kämpft) für Jahve und für Gedeon!« Nach dem Sieg boten die Israeliten dem »Richter« die erbliche Königswürde an. Er aber lehnte ab: »Ich kann nicht euer König sein. Auch mein Sohn darf nicht über euch herrschen. Jahve ist euer König!« (Ri 8, 23( (84).

Daß Gedeon nicht nur für sich, sondern auch für seinen Sohn die Königswürde ablehnt, entspricht der tiefverankerten Überzeugung: das Königtum kommt nur Gott zu und ist daher, von Menschen realisiert, antigöttlich. Die Faszination der Macht reicht ebensowenig wie der Tradierungsdrang aus, sein Gewissen zu bestechen. Kein Mensch darf über Menschen herrschen. Niemand darf Pharao sein.

Wie sehr sich die besten Kräfte des Judentums gegen die Einsetzung eines Königtums wehren, zeigt die Zwiesprache Samuels mit dem Gott seines Gewissens, nachdem ihn die Israeliten dazu gedrängt hatten, über sie einen König einzusetzen:

»Als Samuel sich beim Herrn beklagte, antwortete der Herr dem Samuel: ,Höre auf das Verlangen des Volkes in allem, was es von dir fordert! Nicht dich haben sie verworfen, sondern mich, daß ich nicht länger König über sie sei. Sie machen es mit dir genau so wie sie es mit mir gemacht haben seit der Zeit, da ich sie aus Ägypten weggeführt habe, bis auf diesen Tag: sie verließen mich und dienten andern Göttern. Höre nur auf ihr Verlangen, aber verwarne sie ernstlich und stelle ihnen die Ansprüche des Königs vor, der über sie herrschen wird!« (1 Sam 8, 7-9).

Hier wird das Königtum direkt dem Götzendienst gleichgesetzt. Nur um der Achtung vor der Freiheit willen läßt Samuel sie in die Unfreiheit fallen, aber er sagt ihnen vorher, was sie erwartet. Er macht dem Volk klar, daß es mit seiner Forderung eigentlich Jahve untreu werde. Er stellt ihm auch ganz richtig vor Augen, welche sozialen Folgen die Einführung der Monarchie haben werde: der König werde die Söhne der Israeliten zum Kriegsdienst zwingen, sie als Knechte auf seinen Gütern beschäftigen (die Töchter als Mägde). Er werde Land enteignen und seinen Dienern geben, werde einen Zehnten erheben und »ihr selbst werdet Knechte sein«.

»Wenn ihr dann über den König, den ihr euch erwählt habt, Klage führt, so wird euch der Herr an jenem Tage nicht erhören!« (1 Sam 8, 7-9) (85). Diese pessimistische (aber wahre) Zeichnung des Königtums wäre das Gegenstück zur richterlichen Jothamfabel (86), die zeigt, daß »das Königtum kein produktiver Beruf ist, daß es müßig, aber auch verwirrend und zersetzend ist, daß Menschen über Menschen herrschen« (87).

Als dann schließlich doch das Königtum eingeführt wird - Saul begeht als erster israelitischer König, wohl unter dem seelischen Druck Samuels, Selbstmord - gelingt es David, sich jene Sakralität anzueignen, wie dies die mittelalterlichen Könige und Kaiser bis zur »apostolischen Majestät« ebenfalls zu tun verstanden. Feierlich holt daher David die »Lade des Bundes« aus dem Exil und tanzt in liturgischem Kleid vor ihr. Das war weder herzlich kindliche Frömmigkeit noch empörend lächerliche Narretei, wie es die königliche Frau annahm, sondern ein kluger politischer Schachzug, wobei politische Klugheit und religiöse Hingabe einander nicht ausschließen (88). David machte sich zum kirchlichen Diakon (vgl. die Diakonatsweihe der »heilig-römischen« Kaiser!) und wurde dadurch selbst kirchlich legitimiert (89). Mit der Bundeslade besaß er die Zentralreliquie, sein Sohn Salomon baute den berühmten Tempel. Der Gott des Wanderzuges, der das Festgemauerte verachtete, sollte in einer Tempelcella begraben werden (110). So jedenfalls mußte es die prophetische Opposition verstanden haben, die, nach der Zustimmung zum Tempelbau, die schon von Nathan gegeben war, den Propheten mit einem neuen, gegenteiligen Spruch noch einmal zu David schickte. Wir glauben, daß wir diese Annahme, obwohl der biblische Text von einer Beeinflussung des Nathan durch andere Propheten nichts weiß, doch aus der berichteten Situation erschließen dürfen. Wir sehen, daß die nomadische Freiheit samt ihren Sublimationen mit dem Erlebnis des Befreiungsausbruchs und der speziellen prophetischen Elitebildung in Israel zutiefst zusammenhängt. Wir verstehen den Gegensatz zwischen den Freipropheten - zum Unterschied von den Hofpropheten - und dem institutionalisierten Königtum, das mit der Einführung der Vererbung öffentlicher Rechte den Weg zur Verkastung beschreitet. Dieser Gegensatz ist außerordentlich tief. Besonders heftig ist er zwischen Elias und Achab bzw. dessen Frau Jezabel. Unehrerbietig wünscht Elias den Majestäten, als diese sich durch einen Mord fremdes Eigentum angeeignet hatten, daß »sie die Hunde fressen« sollten (1 Kön 21, 17 - 26).

Der Feudalismus hatte jedoch schon damals einen internationalen Zug. Die Fürsten distanzieren sich gemeinsam von unten, heiraten auch innerhalb ihrer Schicht, da sie sich durch eine Ehe mit unten besudeln würden. Daher zeigen auch die jüdischen Hochfeudalen einen Zug zur Internationalität. Salomon heiratet eine Pharaonentochter - allerdings in einer Zeit der Schwäche Ägyptens - und gelangt so in den Kreis der Hochfeudalen. Seine internationalen Kontakte zeigen sich auch im Kontakt mit der Königin von Saba. Der jüdische Feudalismus tendiert nicht zur Abgrenzung des Judentums, sondern sucht und findet Eingang in die Königskaste, um sich mit den anderen Königen gegenüber unten zu isolieren. Achab schenkt Banadad, dem König von Aram, mit der Begründung »Er ist mein Bruder«, das Leben.

Der Feudalismus war nicht die einzige Form der Abweichung vom theokratisch-prophetischen Ideal. Denn dem Grundthema »Du warst Sklave im Lande Ägypten« standen sowohl die Verkastungstendenzen innerhalb des Judentums - der Feudalismus ist hier nur ein Teilproblem - als auch die sekundärfeudalen National- und Rassenarzißmen gegenüber. Die sich aus der Erfahrung der ägyptischen Sklaverei ergebende Aufgabe, Sendung, Auserwählung, ist, wie wir schon zeigten, die Identifikation nach unten. Nicht ein Herausgehobensein zum Zweck der Beherrschung oder der sakrosankten Überlegenheit, sondern eine tiefe Identifikation mit den Intentionen des Gottes der Freiheit, der die Sklaven liebt, ist jenes Auserwähltsein des Juden-Volkes.

Umgekehrt jedoch wurde von einem Teil des jüdischen Volkes diese Auserwählung als ein Herausgehobensein aus der Masse ekelhafter, dummer, unmoralischer und niedriger Gojim verstanden. Die Nationalarroganz, das Herausisolieren des Judentums aus den andern Völkern, war eine gefährliche Tendenz.

Feudalisierung und Verkastung des Judentums#

So sehr zunächst der Ausbruch aus Ägypten, die revolutionäre, ödipal-sadistische Antwort auf den Sohnkomplex, berechtigt erscheinen mag, so sehr dürfte diese antiautoritative Aggression nicht fixiert werden. Die massive Isolierung als Abwehr, Sicherung und Bewahrung ist zunächst verständlich. Aber wie in jeder Revolution neben der Aggression auch die Identifikation mit der angegriffenen Autorität eine wichtige Rolle spielt, so brach als eine wesentliche Determinante auch eine Identifikation mit der pharaonischen Autorität durch. Die Errichtung einer institutionellen Ekelschranke - das koschere Essen - , die Nationalendogamie, die Abwertung alles Heidnischen, wurden wesentliche Komponenten einer jüdischen Zwangsneurose, die zur Verurteilung Christi wohl wesentlich beigetragen haben. Wir müssen diese Erscheinungen als Sekundärpharaonentum verstehen, mit den entsprechenden Übertreibungen aller Sekundärtypen. Das Judentum wird feudalisiert, sieht seine Auserwählung nicht in einem speziellen Dienst an unteren Schichten, sondern sieht sich gegenüber den anderen als etwas Besseres, von Gott her besonders gezeichnet. Nicht mehr Zeugnis für die göttliche Freiheit, sondern für die eigene Größe wurde gegeben.

Das Judentum hat erst in der heutigen Zeit die christliche Einehe voll realisiert, hatte also bis dahin in der Frage der Geschlechter nicht den entsprechenden Standort gefunden (91). Wenn wir die Abgrenzungsformen des Judentums nach außen betrachten, so erkennen wir deutlich die Kastenbildung in allen möglichen Aspekten. Die Nicht-Juden werden gegenüber dem »reinen« Judenvolk als schmutzig betrachtet. Der gesellige Verkehr mit den Nichtjuden zog levitische Verunreinigung nach sich. Jede Tischgemeinschaft ist unmöglich. Es ist verboten zu essen, was ein Goi gekocht hat. Höchstens kann man eigene Speisen mitbringen (sehr gewagt). Die Gojim verunreinigen durch »Berührung, Tragen und Bezeltung« (gemeinsames Aufhalten im geschlossenen Raum). Daher sollten auch Juden zu keinem heidnischen Arzt in Behandlung gehen (92)! Eine Jüdin darf eine Nichtjüdin zur Geburtshilfe heranziehen (aber Vorsicht, sie könnte dem Kind den Kopf zerdrücken!), nicht aber umgekehrt, denn man hat kein Interesse an der Geburt eines »Götzendieners«! Will eine Nicht-Jüdin ein jüdisches Kind stillen, große Vorsicht! Sie könnte die Brust mit Gift bestreichen! Da die Nichtjuden auf Unzucht aus sind, darf eine Jüdin mit nichtjüdischen Männern nicht allein sein, auch nicht ein jüdisches Kind mit einem heidnischen Lehrer bzw. Lehrherrn (93).

War die jüdische Frau schon tief gestellt, so die Nicht-Jüdin noch viel mehr. Die jüdische Frau galt zur Menstruationszeit als unrein, die heidnische war es dauernd. »Menstruierende« wurde ein jüdisch-kirchenjuristischer Fachausdruck für alle nichtjüdischen Frauen und solche, die als nichtjüdisch gelten sollten (94). Der Umgang mit ihnen machte levitisch »unrein«, ihre Kinder galten (aus der Sicht der Israeliten) als in »Blutschande gezeugt«. Die Minderwertigkeit der Frau, ihre juristische Diffamierung wirkte sich ausnahmsweise in der Herodesfamilie - ihre Frauen griffen sehr aktiv in die Politik ein (allerdings über die Erotik)- und in den nichtorthodoxen ländlichen Gegenden (Galiläa zum Beispiel, die Heimat Jesu!) nicht aus (95). Die »Söhne Abrahams« sollten »unter sich« bleiben, unter sich heiraten, unter sich essen und trinken. Natürlich finden wir dafür auch entsprechende Rationalisierungen. So sollten jüdisch und nichtjüdische Kinder nicht miteinander spielen, damit die jüdischen »nicht an die Päderastie gewöhnt werden« (96). Weiter sollte in einem heidnischen Gasthof kein Vieh eingestellt werden, denn dem Heiden »ist das Vieh der Israeliten lieber als ihre eigenen Weiber« (97)! Deshalb auch keinem heidnischen Hirten Vieh zum Hüten anvertrauen!

Der anale Aspekt der jüdischen Reinheits-Unreinheitsneurose zeigt sich auch noch in den folgenden Auffassungen: Die Welt ist in zwei Bereiche geteilt, in den »Lagerbereich Israels« und in die »Welt der Feinde«. Zum ersteren gehört Gott, der levitisch reine Mensch, die Sauberkeit; zu letzterem die bösen Geister die Dämonen, die Feinde (alle Heiden), die levitisch unreinen Israeliten - die aber nach einem Reinigungsbad etc. wieder »heimkehren« dürfen - der Kot (98).

Wer außerhalb ist, ist also unrein. Außerhalb des Lagers wurd der Kot abgelagert, daher ahnt man die Möglichkeit von Verschiebungen Kot - Welt der Feinde bzw. die der Identifizierung eklig - levitisch unrein - fremd schon in der Lagervorschrift Dt 23, 10:

»Wenn du gegen deine Feinde ein Lager beziehst, so hüte dich gewissenhaft vor allem Ungehörigen! Ist jemand unter dir, der durch ein nächtliches Begegnis levitisch unrein geworden ist, so entferne er sich aus dem Lager ... Außerhalb des Lagers sollst du einen Platz haben, wo du austreten kannst... Denn der Herr, dein Gott, zieht in deinem Lager einher.« (99)

Diese Haltungen schafften oder verstärkten auch die inneren Spannungen in Israel. Denn die kastenhaften Tendenzen innerhalb des Volkes werden durch die Abgrenzungen nach außen verstärkt. Wir werden sogleich sehen, warum.

Den Gojim in der Unreinheit gleichgesetzt war das Am-ha-arez (das gemeine Volk, das sich um die Reinheitsgesetze genauso wenig kümmerte wie die Gojim!)(100). Der Am-ha-arez (die unreine »plebs«, die Paria) hatte nämlich keine Neigung und war auch zu arm, um alle pharisäischen Gebote halten zu können. Auch heute kann sich strenge Orthodoxie nur ein verhältnismäßig wohlhabender Jude leisten (zweierlei Geschirr, heidnische Dienstboten für die am Sabbat anfallende Arbeit, zum Beispiel Ofen heizen, Licht anzünden etc.). Weil sich diese Plebs nach außen verunreinigte, wurde sie um so mehr nach innen unrein. Sie stand also in der sozialen Gliederung ganz unten, war aber dennoch nicht ohne Macht. Die galiläischen Festpilger haben zum Beispiel bis zuletzt immer wieder die Verhaftung Jesu in Jerusalem verhindert! Innerhalb Israels gab es verfemte, unreine Berufe. Es gibt Aufstellungen davon, wir kennen sieben (101). Danach waren verachtet: Hundekotsammler, Kupferschmelzer, Gerber, Fleischhauer, Bader, Hirten, Fuhr- und Fährleute etc. (zum Beispiel auch Goldschmiede und Bibelschreiber, darüber aber geteilte Meinung). Besonders unterkastig waren Hirten (unehrlich und diebisch)! Es war verboten, von Hirten Milch etc. zu kaufen. Man denke dabei an die Hirtengleichnisse Jesu, die sicher dem Volk sehr, den Pharisäern wenig gefallen haben, besonders das vom »guten Hirten« (102) Oder: Hirten waren es, die zuerst zum neugeborenen Gottessohn kamen! Auch die Steuereinnehmer und Zollpächter galten als unterkastig. Beide waren exkommuniziert. Sie waren Hochverräter, infam und durften keinen Eid leisten. Denn sie halfen mit, das Einkommen des »Heiligen Volkes« in fremde Hände gelangen zu lassen. Steuer und Zoll flossen ja in die Hände der Römer und der Herodianer, die keine echten Juden, sondern »heidnische« Halb-Araber waren.

Die »schwärzesten Schafe« Israels wohnten freilich - wie wir Wissen - in Samaria, das exkommuniziert und interdiziert war (103). Diese Haltung ist aus der sozialen Nahdistanz sehr wohl verständlich. Die kastenhafte Isolation wurde also vom Judentum bis auf die äußerste Spitze getrieben. Allerdings - und dies ist äußerst wichtig festzustellen - gab es gegen diese verkasteten Tendenzen immer wieder starke Kräfte, und im Lager der Freipropheten wurde dieser jüdische Sekundärfeudalismus intensiv angegriffen. Typisch ist der Spruch des Arnos:

»Sollt ihr mir denn mehr gelten als die Kuschiten, ihr Söhne Israels? - Spruch Jahves - Wohl habe ich Israel aus Ägypten geführt, doch ebenso die Philister aus Kaftor (Kreta) und die Aramäer aus Kir.« Am 9, 71«4

Und Johannes der Täufer schließlich kämpft aggressiv gegen die jüdische Herkunftswertung, die zeitweise zur Forderung nach einer Art »Judennachweis« führte, ein trauriger Vorläufer des Ariernachweises aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts:

»Ihr Schlangenbrut! ... wähnt ja nicht, sagen zu dürfen: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen da Kinder erwecken!« (Mt 3, 7-9).

Wir erkennen also die Entfaltung des Judentums aus der Wurzel des revoltierenden, versklavten Nomadenvolkes unter der Führung des Moses. Grundbestimmt von diesem Erlebnis zieht sich bis zu Christus und auch weiter der Befreiungsdrang und die Identifikation mit den Elenden dieser Welt.

Aber so sehr es wenigstens innerhalb Israels zu einer kastenlosen Gesellschaft kommen sollte - hierauf zielte wohl das theokratische Ideal - , so sehr gab es den Abfall von diesem Ideal; er ist im Judentum immer auch einer von Gott. Die Isolierung des Volkes - Sekundärpharaonentum - wie auch der Feudalismus im Innern sind verschiedene typische Möglichkeiten des Ausgleitens, und beide wurden begangen. Doch bis heute wirkt der ursprüngliche Imperativ des Judentums aus dem geburthaften Ausbruch aus Ägypten immer noch.

Christus#

»Er vernichtet die Herzen voll Hochmut, Mächtige stürzt er vom Throne, Er erhöht die Niedrigen. Hungrige erfüllt er mit Gütern, Reiche läßt er leer ausgehn.« Maria, nach Lukas 1, 51-53

Fast am Beginn des Lukasevangeliums stehen gewaltige, prophetische Sätze, von einem triumphierenden Affekt getragen. Sie werden von einer Frau gesprochen. Fühlt man sich in diese Affektivität ein, dann spürt man den Jubel der ungebrochenen Frauennatur heraus. Wenn auch verschiedene Sätze Zitate sind, so wird doch Mariens Identifikation mit dem Inhalt deutlich. Im Gegensatz zu den lieblichen Madonncndarstellungen, die oft geradezu von Sanftheit, Zartheit und Freundlichkeit überfließen, steckt in diesen Sätzen ein unerhört revolutionärer Affekt, zugleich mit einer Siegessicherheit, gegen die es keinen Einwand gibt, in der schon der Triumph des Sieges leuchtet. Man verharmlose dieses revolutionäre Moment nicht. Maria erwartet von Gott gewissermaßen eine Umstülpung aller Verhältnisse. Und der Durchbruch zu dieser neuen Welt geschieht durch die Empfängnis eines ganz bestimmten - ihres - Kindes:

»Hoch preiset meine Seele den Herrn Und mein Geist frohlockt in Gott meinem Heiland; Herabgesehen hat er in Gnade auf seine niedrige Magd. Seht, von nun an werden mich seligpreisen alle Geschlechter« (Lk r, 46-55).

Hier erfüllt sich gewissermaßen die jüdische Revolution, denn Maria identifiziert sich später mit »Israel, Gottes Knecht«. Und die Inkubationszeit dieses Neuen, das sich in Israels Schoß vorbereitet, ist zu Ende. Das Seligpreisen durch »alle Geschlechter« kündet schon, an Stelle der noch eingeengten Volksreligion, die Weltreligion an.

»Großes hat an mir getan der Mächtige,
Sein Name ist heilig.
Sein Erbarmen waltet von Geschlecht zu Geschlecht
Über denen, die ihn fürchten.«

Und nun kündet sie mit einer triumphierenden Gewalt die Taten des Gottes, der Israel aus der ägyptischen Sklaverei befreite:

»Machtvoll waltet sein Arm.«

Und er vollzieht die gewaltigste Revolution der Weltgeschichte.

»Er vernichtet die Herzen voll Hochmut, Mächtige stürzt er vom Thron, Er erhöht die Niedrigen.«

Es ist höchst bemerkenswert, daß es sich hier nicht etwa um einen Dichter der französischen Revolution handelt, sondern um Maria. Sie fährt fort:

»Hungrige erfüllt er mit Gütern, Reiche läßt er leer ausgehn.«

Auch hier sind wieder bedeutende revolutionäre Ansätze. Und nun identifiziert sie sich mit dem Volk Israel, dem »Knecht«, dessen er sich angenommen hat wie seiner »niedrigen Magd«:

»Angenommen hat er sich Israels, seines Knechts, Eingedenk seines Erbarmens
Mit Abraham und seinen Nachkommen auf ewig, Wie er unsern Vätern verheißen.«

Diese Relativierung alles Oben und Unten in der Gesellscha als Vollendung der jüdischen Verheißungen, von Abraham über Moses bis zu Johannes dem Täufer, die Freiheit von aller autoritativen Unterdrückung soll Christus bringen. Die Fundierung des Christentums durch das Judentum ist unleugbar, und es is unmittelbar evident, daß Christus in der Tradition der Freipropheten steht.

Es ist kein Widerspruch zu dem eben Gesagten, wenn wir er klären, Christus habe nicht primär auf die Fragen der soziale Gerechtigkeit abgezielt. Primär ging es ihm um das rechte Verhältnis des Menschen zu Gott, aber auch um die Prinzipien des Zusammenlebens der Menschen untereinander, nicht um Einzelheiten des Erb- oder Strafrechts, sehr wohl aber um den Geist echter Menschlichkeit, der sich zu den verschiedenen Zeiten, je nach den jeweils gegebenen Verhältnissen, diesen anpassend, realisieren sollte. Das grundlegende Verhältnis der Menschen zueinander umgreift alles Institutionelle. Es umfaßt alles andere, wie das Ganze den Teil, und hat immer neu zur Geltung gebracht zu werden.

Die von Christus gemeinte Brüderlichkeit unter einem Vater - Gott - führt jeweils zur Zersetzung der Kasten.

Die primäre Frage ist für ihn die Änderung der Einstellung der Menschen zueinander; die Sozialreformen sind sekundärer Natur, erwachsen jedoch von selbst aus den Prinzipien. Wenn etwa ein christlicher Herr Sklaven hat, so dürften sie, wenn er sein Christentum ernst nimmt, im Vollsinn des Wortes eben keine Sklaven sein, - wie sollte er sie töten dürfen!

Es kann nicht die Aufgabe dieser Arbeit sein, alle Beziehungen Christi zur Kastenfrage darzustellen. Aber an Hand einiger Beispiele können wir zeigen, daß Christus kastenfremd, ja kasten-feindlich ist, allerdings ohne jede revolutionäre Verkrampfung. Mit einer natürlichen Leichtigkeit setzt er sich über die Schranken hinweg, die das starre Gesetz des Judentums errichtet hatte. Man beachtet zwar häufig das milde, keineswegs herablassende Verhalten Christi zu den moralisch Defizienten. Christus betont keinen Wesensunterschied zwischen sich und den Verbrechern. Man beachtet aber weit weniger, daß er auch sonst keinerlei Wesensunterschiede macht. Differenzierungen existieren für ihn durchaus. Er spricht mit Gebildeten anders als mit dem ungebildeten Volk, aber er spricht ohne jeden Bildungsdünkel mit den Vertretern jeder Bildungsschicht. Er hat kein Ressentiment gegen die Herren, obwohl er sie angreift; er spielt nicht den Herrn, obwohl er um seine Übelegenheit wohl weiß.


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