DIE KASTE UND DAS KASTENHAFTE - PHÄNOMENOLOGIE DER KASTE#
Inhaltsverzeichnis dieses Kapitels
DAS KASTENSYNDROM#
Gleich zu Anfang dieser Arbeit haben wir die Kaste als eine Menschengruppe gekennzeichnet, die in bestimmter Weise »unter sich« bleibt. Die Mitglieder einer Gruppe, die man als Kaste bezeichnet, so sagten wir, heiraten nur untereinander, geben sich nur untereinander die Hand, verkehren gesellschaftlich nur untereinander, essen und trinken vor allem nur miteinander, lassen womöglich ihre Kinder nur miteinander spielen. Wir können hinzufügen: Sie haben einen eigenen Sprachton, ein Idiom, eigene Vokabeln usw. Die Tendenz, sich von der übrigen Bevölkerung abzuheben, kann sehr intensiv werden und sich auf sehr verschiedene Dinge beziehen. So gibt es Kleidungsstücke, Umgangsformen, ja Haartracht und anderes, das eine Kaste auszeichnen kann.
Die wesentlichen Merkmale wollen wir Kastensyndrom nennen. Diese Merkmalsgruppe hat einen gemeinsamen Nenner, der sich hinter dem »unter sich« verbirgt. Der gemeinsame Trend zur Herausgrenzung kann selbst dort bestehen, wo es die Möglichkeit zu einer vollständigen Kastenbildung nicht gibt, so im katholischcn Klerus, bei dem es infolge des Zölibats zu keiner erblichen Sonderstellung - die Erblichkeit ist ein sehr wichtiges Moment der Kaste - kommen kann. Man vergleiche hier etwa die Herausbildung der Priesterkaste im Hinduismus.
Die Tendenz zu einem distanzierenden Unter-sich-Bleiben hat es jedoch im katholischen Klerus lange Zeit intensiv gegeben, wovon die Chorschranke und vor allem der Lettner heute noch Zeugnis ablegen. Wenn der katholische Klerus im Vollsinn des Wortes keine Kaste zu werden vermag, dann aber doch in einem abgeschwächten Sinn. Er kann den affektiven Kern des distanzierenden »Unter-sich« realisieren, dieses »Unter-sich« jedoch nicht auf Generationen ausdehnen. Schließlich gibt es außer unvollständigen Kasten noch eine Tendenz zur Bildung von Kasten. So führt eine bestimmte Haltung in letzter Konsequenz zur Kaste. Solche Haltungen wollen wir kastenhaft nennen.
DIE KASTE#
Wenn wir den Affektgehalt des Wortes »Kaste« sowie des »Un-ter-sich-Bleibens« zu erfassen trachten, so erfahren wir eine komplexe Haltung, die phänomenologisch etwa folgendermaßen zu bestimmen wäre:
Zunächst finden wir eine Gruppenidentifikation und eine Stellung gegen das Gruppentranszendente, das außerhalb der eigenen Gruppe Liegende, von dem man sich abhebt. »Wir« und die »anderen« stehen einander so gegenüber, daß jene, die »unter sich« bleiben, eine Berührungsscheu gegenüber den andern haben und eine Distanz von kühler Überlegenheit entwickeln. Die Berührungsscheu drückt extrem ein Angeekeltsein aus, ein mißmutiges Angeekeltsein durch die kastentranszendenten Personen. Weiterhin geht die Distanzierung mit einer überlegenen Haltung einher, so unecht diese Überlegenheit auch sein mag. Die Überlegenheit wird mit einem Wert oder einer Wertkombination begründet, der oder die angeblich der Kaste zukommt, den anderen Menschen jedoch nicht. Es kann sich hier um sehr verchiedene Werte handeln. Immer aber wird ein Wert als das Fundament, die Rechtfertigung für die überhebliche Distanzierung angegeben. Weil dieser oder jener Wert der Gruppe zukommt und man diesen Wert gleichsam vor der Beschmutzung, der Verunreinigung schützen muß, schließt man sich ab und sieht auch auf die andern hinunter. Der Zentralwert der Kaste wird nun bei einer echten Kaste übernommen, tradiert und weitergegeben.
Der Wortbedeutung nach kommt »Kaste« vom lateinischen castus, das »unvermischt«, »rein« bedeutet. Das Wort »kasteien« ist mit ihm verwandt; es hat die Bedeutung: durch Bußübungen sich abtöten, reinigen, innerlich säubern. Bedeutsam ist der Affektgehalt, der für verschiedene Personen beim Wort »Kaste« anklingt. 2/504 sagt:
»Stelle mir darunter verschiedene Schichten vor, was so Menschen sind, die unter sich sind und die eine fremde Welt gar nicht aufnehmen dort; so Art wie ein Verein ist für mich eine Kaste, die wollen unter sich allein sein, die sich von der übrigen Weh vollkommen abschneiden.«
Interessant ist der Gebrauch des Wortes »abschneiden« statt abschließen. Die Begrenzung erhält dadurch ein aggressiv-sadistisches Moment. 2/204 akzentuiert die aggressive Seite noch mehr:
"Ich denk mir immer eine abgeschlossene Gesellschaft, die ihre Interessen hier so begrenzen und daraus Vorteil ziehen wollen in jeder Weise, so stell ich mir es halt ungefähr vor. Ein größerer Begriff wird ja oft geprägt, diese ganze Kaste Verbrecher und so, daß sich die zusammenschließen, das ist ein ganzer Ring...«
er sieht also in der Abgeschlossenheit etwas Verbrecherisches gegenüber der Gesellschaft. Sehr interessant ist das Symbol »Ring«, denn die Eigenart des Kreises ist ja das »In-sich«-Bleiben.
Auch was bei 2/216 anklingt, ist sehr bemerkenswert:
»Ku-Klux-Klan. Die Adeligen früher. Die was sich irgendwie verschwören. Wenn man sagt: der Kastengeist! Die was sich irgendeine Verschwörung auferlegen, die was ,nur wir und die andern nix'! Die Kirchlichen auch. Kirchenkasten. Einzelne Sekten. Die Reichen kann man eigentlich auch zu den Kasten rechnen. Die was nur in eahna (ihren) Kreisen verkehren wollen. Und der Ärmere ist schon der Niemand bei ihnen.«
Kasten sind also verschworene Gemeinschaften, Geheimbünde, Ku-Klux-Klan. Bei dieser Versuchsperson klingt auch das religiöse Moment an. Beachten wir wieder das Wort »Kreisen« und, daß der Außenkastige der »Niemand« sei. Versuchen wir kurz, die bisherigen Aussagen miteinander zu kombinieren. Dann wäre die Kaste eine verschworene Menschengruppe, die die Bande zu den übrigen Menschen in verbrecherischer Weise zerschnitten hat, um ihres eigenen Vorteils willen, wobei ein religiöses Moment mitspielt. Mit der oben erwähnten Assoziation »Sekte« werden wir uns noch beschäftigen müssen.
2/304 erklärt dezidiert:
»Kastengeist, lehne ich ab, weil er irgendwie unfruchtbar ist und nicht fördernd der Volksgemeinschaft ist.«
Der Kastengeist ist demnach unfruchtbar, womit angedeutet wird, daß das Starre einen lebendigen Austausch unmöglich macht und so sterilisiert. Daß viele Menschen an Indien denken, ist natürlich. Daran knüpfen sich oft Vergleiche mit unserer Gesellschaft. 2/308 assoziiert etwa zu »Kaste«:
»Das is mehr ein brahmanischer Begriff, ein... betrifft Indien, net wahr! Dort sind die Kasten sehr genau, sehr streng voneinander getrennt. Also etwas, was zu uns gar nicht paßt, in unserem Gemeinschaftswesen, das wir zumindest anstreben.«
Wir streben demnach ein kastenfreies Gemeinschaftswesen an, doch erfahren wir deutlich den Zweifel, wenn es um die Frage geht, ob diese Kastenfremdheit schon realisiert sei oder nicht.
2/3o9 erklärt:
„Na natürlich irgendwie in Indien; aber was das damit... ja, ja vor allem ein entfernter exotischer Zustand, den man... von dem nur Unangenehmes hört, ohne daß man's überprüfen konnte ... Kaste ... ja mehr is ... a ... an geschlossene Türen.«
Bei diesem Künstler, dem schließlich die geschlossenen Türen einfallen, klingt eine Vorstellung von Jean Paul Sartres Stück »Huis Clos« (Bei geschlossenen Türen) - es handelt von der Hölle - an. 2/503 schildert anschaulich:
»Habe das Gefühl, so ein Kasten, eingekranzt. Mir kommt so eine Schachtel in den Sinn, was da irgendwie drinnen ist. Eine Schachtel mit Äpfel zum Beispiel, was eingekapselt ist. Stell mir ein kleines Land darunter vor, das wie eine Kaste ist, so wie in der Schweiz ein Kanton.«
Auch ein sich abkapselnder Landstrich wird also mit der Kaste in Verbindung gebracht. — 2/515 bemerkt:
»Das ist eine Abgrenzung. Da denk ich einmal an Indien. Aber den Kastengeist gibt es nicht nur in Indien, den findet man überall, sogar im eigenen Haus, in der Straße ist der Kastengeist unwillkürlich. Diese Frau spricht mit der nicht, weil die mit der spricht, also sie kastelt sich ab. Oder eine andere wartet wieder zuerst, daß sie sie grüßt. Das ist so ausgesprochener Kastengeist, wenn man auf den Gruß des anderen wartet. - Männer gehen vielleicht eher darüber hinweg bei uns.« Nachher meint sie hierzu noch ausdrücklich:
"Der Kastengeist ist bei uns noch sehr lebendig, besonders unter den Frauen.«
Die Frauen werden - von einer Frau - bezichtigt, besonders kastenbetont zu sein. - Das sadistische Moment, das in der Abgrenzung liegt, betont auch 2/520:
"Kastengeist: auch in unserem Lande war und ist zum Teil auch heute noch grausam und sehr dumm, paßt nicht mehr in unsere Zeit.
2/101 reagiert ähnlich:
»Bildungsmäßig kommt es von Indien, stelle ich mir vor. Kaste ist etwas mir Unsympathisches, zeigt von meiner Auffassung nach von hochmütiger Abgeschlossenheit, niemand eindringen lassen wollen ins eigene Milieu, herabblickend, verachtend, also negativ.«
2/102 assoziiert:
»Da kommt mir zuerst der indische Begriff der Kaste in den Sinn. Stelle mir darunter eine Rangordnung des Menschen vor, nach seiner Geburt. Hier bei uns ist Kaste ... es ist schon so, daß sich eine gewisse Art von Adeligen absondert, sich besser dünken, gesondert leben wollen und vor allem gesondert heiraten.«
Für diese Versuchsperson gehört zu Kaste ausdrücklich das Geburtsmoment. Es ist daher kein Wunder, wenn der Adel ins Blickfeld gerät, weil er die einzige Gruppe ist, die sich institutionell durch Endogamie von der Gesellschaft absonderte. Nicht institutionell, jedoch eindeutig wirkt bei der eben zitierten Versuchsperson der Kastengeist:
»Ich hab überhaupt keine Gelegenheit g'habt. Es war selbstverständlich, daß man mit gewissen Leuten verkehrt, es wäre lächerlich gewesen, wenn man irgendeinen Kutscher oder einen Futterwärter, von den Ang'stellten bei Hof, die keine Beamten waren und nicht höhere Beamte waren, irgendwie eingeladen hätte, denn es wäre das irrsinnig gewesen ... aus dem einfachen Grund, weil sie auch gar keine ... Sie dürfen nicht vergessen, daß diese Leute eine ganz andere Bildung gehabt haben, es haben die Kinder von diesen Leuten allerdings getrachtet, irgendeine Bildung zu bekommen.«
Ein gesellschaftlicher Verkehr mit einem Kutscher wäre also »irrsinnig« gewesen.
2/407 leidet offenbar unter einem solchen Kastengeist:
»Leider gibt es Kasten, es wäre schön, wenn es nur eine Kaste geben würde, und zwar ,den Menschen'. Die Kaste gibt es aber, da hilft keine Demokratie etwas, sie gibt es in der Seele des Menschen. Zwar gibt es Momente, wo sich die Menschen verbrüdern — Lebensgefahr -, aber nachher taucht sie sofort wieder auf, vielleicht sogar noch verstärkt. Es wird sie immer geben.«
2/113 zielt nun direkt aus christlichem Geist gegen die Kaste:
Da muss ich an Indien denken und daran, daß es... dem einzelnen nicht gedient ist , die Menschheit in Kasten einzuteilen. Denn er fühlt sich da irgendwie beengt, er fühlt, daß Leute unter ihm sind. Und er hat aber das Gefühl, daß alle Brüder sein sollen, ich mein jetzt, unserm gemeinsamen Gott verbunden, sollten wir den andern nicht als etwas Über- oder Untergeordnetes sehen, sondern einen Menschen, Bruder... Ich glaube Christus, und ich bemühe mich, in andern eben einen Bruder zu sehen.«
Versuchen wir nunmehr, alle bei den verschiedensten Äußerungen angeklungenen Momente zusammenzufassen.
Hierzu gehören die Vorstellungen:
unvermischt - rein
nicht miteinander sprechen
Geburtsvorzug - nur untereinander heiraten
unter sich sein - eingekapselt sein - sich beengt fühlen
hochmütige Abgeschlossenheit - verschlossene Türen
sich abtöten - abschneiden - Verschwörer - Verbrecherring - grausam und dumm
Clique - Kartell unfruchtbar Sekte
Lenbesgefahr ist antikastenhaft
Die Kaste wäre demnach die Frucht hochmütiger Abschließung einer sich unvermischt rein haltenden Gruppe, die nur unter sich bleiben möchte, die möglichst wenig Kontakt mit anderen sucht, die eigenen Kinder untereinander spielen läßt und untereinander heiratet. Diese Abgeschlossenheit verursacht Isolation und Beengung, ist grausam bis zum Verbrecherischen, unfruchtbar und innerlich verwandt mit einer Sekte.
Die Aussagen gehen über unsere anfänglichen phänomenologischen Bestimmungen eindeutig hinaus, indem Aspekte anklingen, die wir noch nicht berücksichtigt haben, doch werden wir im Folgenden darauf Bezug nehmen.
DIE EKELSCHRANKE#
Die Ekelschranke ist eine der wichtigsten, politisch-psychologisch folgenreichsten Aspekte der Kastenproblematik in der Gesellschaft.
Puritanismus und Kommunismus, Sozialismus, Judentum und Christentum haben psychologisch tief verflochtene Beziehungen zu dieser Problematik. Sie ist unter anderem deshalb von großer Bedeutung, weil sie meist nur wenig bewußt ist doch rationalisiert eine um so größere Rolle spielt. Die Ekelschranke verläuft zwischen »Reinen« und »Unreinen« im ursprünglichen und im übertragenen Sinn.
Die indischen Parias sind die »Unberührbaren« und zeichnen sich dadurch aus, daß man gerade mit ihnen in besonderem Maß jeden Kontakt umgeht. Dem »Unreinen« gibt man nicht die Hand, man vermeidet es, mit ihm zu essen, man heiratet keinen »Unreinen« oder keine »Unreine«. Die gesamte sexuelle Vorstellungswelt ist von dieser Problematik mitgeprägt. So erklärte ein Belgier, die Vorstellung, einem Negerbischof die Hand zu küssen, sei ihm unerträglich. Der dieser Äußerung zugrunde liegende Affekt gehört demselben Problemkreis an wie der Begriff der »dreckige Prolet« oder der »dreckige Jude«.
Die Konsequenzen dieser Unberührbarkeit sind groß. Der jenseits der Ekelschranke Lebende entwickelt ein Inferioritätsgefühl, das er natürlich auch überkompensieren kann. Da es verpönt ist, jemand offenkundig als schmutzig zu bezeichnen, wirkt die Ekelschranke vor allem untergründig. Bei vielen Versuchspersonen liegt die Rationalisierung auf der Hand. Die auf Grund des Ekeltabus vorgenommene Ablehnung wird mit Gründen gerechtfertigt, die nicht einem Tabu unterliegen. Es gibt wenige, die völlig frei von Ekelinvestments sind oder sie nur in geringem Grad vorgenommen haben. Viele starke Affekte stellen Indizien ihres verdrängten Gegenteils dar; so kann unter dem Ekelgefühl häufig die vom gleichen Gegenstand ausgehende Faszination lagern.
Im gegenwärtigen Gesellschaftsdenken (Anmerkung pd: 1960 geschrieben!) sind die »Unreinen« noch weitgehend mit der Arbeiterschaft identisch. Die Schmutzarbeiter stellen eine besondere Konzentration der »Unreinheit« dar, vor allem die Straßenkehrer und Kanalräumer.
Das wirksamste Mittel der affektiven Trennungslinie zwischen Arbeiter und Angestelltem ist die »Unreinheit« und »Reinheit«. Hingegen gibt es zwischen Arbeiter und Bauern normalerweise keine Ekelschranke. Der frühere Angestellte, aber nunmehrige Hilfsarbeiter 2/308, ist, intellektuell gesehen, zu einem viel tieferen Beruf abgesunken. Er arbeitete bis vor kurzem in einem Gaswerk. Er assoziiert zu »rein«:
'...ja, das sollt man sein, ist aber nicht immer möglich, besonders in unserm Beruf, wo man... wir ausgesprochene Schmutzarbeiten zu leisten haben.«
Und auf die Frage, welche Frau er sich gewünscht habe, sagt er, er würde auch eine Arbeitertochter heiraten, die Schicht sei ihm egal.
»Damals aber (als er noch Angestellter war) vielleicht nicht, eine Kollegin wäre mir lieber gewesen.«
Hier ist wohl der am tiefsten verankerte Komplex getroffen, die schmerzlichste Stelle. Die Versuchsperson ist gleichsam zum Paria geworden, der durch die Ekelschranke von den anderen getrennt ist. Dieses Belegtsein mit dem Ekeltabu verkleidet sich in das Motiv »mangelnde körperliche Verfassung«. So sagt 2/308:
»Für meinen Zustand kommt das (Essen mit einem Generaldirektor) gar nicht in Betracht; ich könnte mich kaum kleiden oder auch körperlich instandsetzen, mich mit ihm an einen Tisch zu setzen (!).« Ebenso wäre das Essen mit einem Grafen für ihn »eine glatte Unmöglichkeit«. Er kann sich oberen Kreisen, denen er sich früher affektiv angehörig gefühlt hat, nicht mehr zuzählen, weil er nun unter das Ekeltabu fällt. Das scheint ihm weitgehend bewußt zu sein, denn das Motiv »mangelnde körperliche Verfassung«, wie er sich beschönigend ausdrückt, erhält immer wieder, besonders in den Phantasieproduktionen, deutlichen Nachdruck. 2/308 ist affektiv sehr empfindlich dafür, daß er schmutzige Arbeit leisten muß und daß damit ein körperliches Schmutzigsein zusammenhängt, welches ihm auch außerhalb des Arbeitsbereichs anhaftet. Deshalb weicht er den Kreisen, die oberhalb der Ekelschranke stehen, aus, flieht geradezu vor ihnen. Zu »dreckig« assoziiert er:
»Na ja, das hängt von der Arbeit ab, was man zu tun hat. Wir haben eine sehr dreckige Arbeit gehabt.«
Eine deutliche Ressentimentbildung im Blick auf die »Reinen« zeigt sehr interessant der Werkmeister 2/303. Er ist im Grunde in einer kastenmäßigen Zwischenposition. Obwohl an sich den Arbeitern gegenüber autoritativ plaziert, macht er sich doch auch schmutzig. Das unterscheidet ihn vom Angestellten. Daher bildet sich nun natürlich auch das Konkurrenzmotiv besonders scharf aus. Die Versuchsperson steht nämlich genau an der Schwelle zwischen den Kasten, die sich durch »rein« und »schmutzig« unterscheiden. Und für diese Alternative scheint gemäß der Kindheitssituation eine besondere Empfindlichkeit zu bestehen. 2/303 lehnt daher »Angestelltengruppen, die einen Beruf erlernt haben und nur aus Scheu vor dem Schmutzigwerden ... versucht haben, irgendwie in das Angestelltenverhältnis ... Angestellter oder Beamter zu werden« aufs schärfste ab. Diesen Angestellten haftet nicht mehr das Odium des Schmutzes an, sie haben sich aus der entscheidenden Kastcngliederung »rein-schmutzig« in die reine retten können, während ihm das nicht gelungen ist. Er ist daher gegenüber den Angestellten aus Ressentiment heraus aggressiv, wenngleich man zugeben muß, daß diese Aggression zum Teil durchschaut wird. In einer immerhin erstaunlichen Aufrichtigkeit sagt er:
»Jeder, der manuell arbeitet, der sich körperlich anstrengen muß ... (neigt) zu der Voraussetzung, daß alles, was im Büro sitzt, nichts macht«
In unserem Fall ist das Verhältnis zum Angestellten so interessant, weil 2/303 die Rein-schmutzig-Alternative in aller Offenheit ausgesprochen hat. Das Gefühl des Schmutzigseins wurde scheinend nur teilweise verdrängt (wo es nach unten und insbeondere auf den Bauern projiziert wird), während die Realität zur Hineinlegung des eigenen Erlebens in diese Tatsache zwingt.
So bemerkt die Versuchsperson mit absichtlich unpersönlicher Aussage:
„Wenn heut einer mit einem weißen Mantel irgendwo gesehen wird, ist das für die anderen ein Dorn im Auge.«
Er wird also durch diesen Anblick gestochen, verletzt. Der Schmutzige haßt den Reinen; und nun kommt die interessante Rationalisierung, die allgemein gültig ist: »Der macht sowieso den ganzen Tag nichts!«
Arbeit wird also mit Schmutzigwerden gleichgestellt, und der Schmutzige befreit sich rational aus der affektiv unangenehmen Situation, indem er Arbeit und Schmutz kausal verknüpft und damit ein Verdienst gegenüber dem »Reinen« in Anspruch nehmen darf.
Daß die Bauern auch häufig unter das Ekeltabu fallen, haben wir schon bemerkt. Der Bauer 2/318 ist voll Ressentiments gegen die Angestellten. Er muß immer »oben« sein, um sich wohlfühlen zu können, aber der Besitz, in dem er das Obensein begründet sieht, ist allein nicht ausschlaggebend, vor allem deshalb, weil die Angestellten das Ekeltabu gegen ihn ausspielen. Die Leute, vor allem die Angestellten, sagen:
"Ma kann do net ins Kino gehn, weil die Bauern stinken a so, und das ärgert an alleweil.«
Der Angestellte wird von dem Bauern 2/212 geradezu beneidet:
"Angestellter ist schon einmal ein schöneres G'schäft, der macht sich den ganzen Tag nicht schmutzig. Hat's leichter im Leben wie wir. Heute ist der Unterschied auch nicht mehr so wie früher. Man kann mit ihm reden, kann mit ihm ein Kartenspiel machen... Setz ma uns auf den Roller. Da sind sie heut schon zugänglicher... Früher haben sie sich eingebildet, der Mensch fangt erst bei ihnen an.«
Die Wendung »der Mensch fangt erst bei ihnen an« ist sehr gebräuchlich und soll uns noch beschäftigen. Sie drückt aus, daß der Oberkastige jeweils aus dem Unterschied nach unten einen Wesensunterschied macht. — 2/419 erklärt zu »Angestellter«:
»Manche Angestellte sind sehr stolz, weil sie sich bei ihrer Arbeit nicht schmutzig machen. Glauben, etwas Besseres zu sein,- besonders die Ehefrauen der Angestellten sind sehr eingebildet, obwohl kein Grund. Würde mit netten Angestellten essen gehen, seine Frau sollte aber nicht dabei sein.« Wenn 1/17, eine ältere Frau, zu »Proletarier« ausruft:
»Gott soll beschützen, daß ich mit denen nicht zusammenkomm!« dann wundert uns nicht, daß der Gärtner 1/604 erklärt:
»Ein Mann mit einem schmutzigen Beruf stößt die Frauen ab.«
Es ist verständlich, daß hier, beim Kampf um die Frau, ein sehr wichtiges Motiv aller Kastendynamik anklingt und heftige und sadistisch aggressive Investments möglich sind. Die Frau wird den Angestellten vorziehen, es sei denn, es fasziniert sie der Schmutz.
Neben der schon erwähnten Möglichkeit, nur Schmutzarbeit als Arbeit gelten zu lassen, besteht die andere, den Spieß umzudrehen und gerade die im ursprünglichen Sinn »reinen« Schichten als »schmutzig« zu bezeichnen, indem man das Wort »schmutzig« im übertragenen Sinn gebraucht. An Stelle der »kleinen Leute«, wie bei 2/312, sind nunmehr die »großen« schmutzig. 2/3T3 assoziiert zu »dreckiger Prolet«:
»Bitte? Muß nicht unbedingt zusammenhängen, ,dreckiger' und ,Prolet'. Aber es gibt genug Menschen, die ,dreckige Proleten' sind und außen nicht als Proleten aufscheinen.«
Mit dieser Aussage schwankt er zwischen der ursprünglichen und übertragenen Bedeutung. — 2/302 assoziiert, sich bewußt, daß er das Wort im übertragenen Sinn gebraucht, zu »dreckig«:
»Moralisch gesehen dreckig, Gesinnung vor allem, nicht das Äußere, schmutzige Hände.
(Wer hat dreckige Gesinnung?) ... der immer mit den Wölfen heult, um sich nicht irgendwo anzustoßen.« Er sagt dann zu »Misthaufen«: »Übertragener Manier sehr häufig im bürgerlichen Leben zu finden, sonst oft eine Notwendigkeit im Bauernhof. ... daß man ihn meistens mit einer Seidendecke überdeckt, um ihn nicht zu sehen, aber trotzdem ist der Geruch zu spüren.«
Beim Zuordnungstest stellt 2/501 (vgl. Anhang) beim Industriellen vielen auszeichnenden Attributen ein schwerwiegendes Gegengewicht gegenüber: er ist schmutzig! Diese Eigenschaft gehört zu jenen, die die Versuchsperson am stärksten ablehnt. Aber schmutzig ist jemand, der sich nicht wäscht und ekelerregend ist: eine unsaubere Frau, ein unsauberer Mann. (Die Mutter der Versuchsperson ist im Haushalt besonders sauber und ordentlich!) Im Vordergrund steht der physische Schmutz. Erst nach einer Weile fügt die Versuchsperson hinzu: »Schmutziges Geschäft.«
Man erkennt hier deutlich die innere Abwehrarbeit. Die Möglichkeit, sich überhaupt positiv zum Schmutz einzustellen, haben vor allem die Bauern, für die ja der »Misthaufen« »desto größer, desto besser« ist (2/415). Auch für den Gutsbesitzer (Grafen) 2/214, ist der »Misthaufen« ein »sehr wertvolles Produkt«. Bei ihm ist interessanterweise kaum etwas von einer Ekelschranke zu bemerken. In die gleiche Haltung geht auch die Assoziation von 2/319 zu »Jauche«: »Jauche, des is ein, vom... tierischen oder menschlichen Wesen, was i, wie des haßt, na, wie haßt'n des geschwind... Exkremente, ... Na ja, da, da, da Dung... wunderbarer Dünger ist, net?«
Noch positivere Züge zeigt die Haltung des Schriftstellers 2/309 zur Rein-schmutzig-Problematik. Man gewinnt den Eindruck, daß er manchmal lustvoll auf »Schmutz« reagiert. So müssen le Assoziationen zu »Kanalräumer« und »Jauche« als äußerst verdächtig bezeichnet werden. Bei »Kanalräumer« denkt er an folgendes:
»Ja, an schwarze Soße und an . .. an insbesondere an ... aber danach an Kot, an Kot und Loch und jedenfalls an Wühlen, irgendwas mit Wühlen hat das zu tun, an etwas unappetitlich Angenehmes (lacht), wie der Psychologe.«
Hier kommt wohl die regredierte Lust ans Licht, wobei eine analsadistische Reaktion gegenüber dem Psychologen eingeflochten wird. Aber auch bei »Jauche« taucht dasselbe auf: »Hinterhof, ja, ja diese schmutzigen Schöpfkrüge fallen mir ein, jedenfalls u ... und das übrige Geruchs- und Farbenensemble, aber darüber hinaus... ja, irgendwo kommt mir so als... Leute in der Nähe von Jauche, die so irgend etwas... was auch seelisch Unsauberes oder... wo Jauche ist, da stimmt's nicht recht. . . Inzucht vielleicht.«
Ähnlich 2/305, die meint:
»Rein, mir fallen immer die Gegenteile ein. Dreckig, ja, der Dreck auf der Straßn, in einem Bauernhof, der is auch wunderbar.«
Hugo von Hofmannsthal hat in einem Gedicht auch die positiv sexuelle Funktion des Schmutzes angedeutet. So heißt es:
»Dann die Herzoginnen
Im Spitzenbette weinen lassen und
Den dumpfen Weg zur Magd, du glaubst mir nicht?«
In Richtung auf echte Kastenfreiheit, was die Rein-schmutzig-Problematik betrifft, zielt zunächst die Äußerung des Industriellen 2/520 zu »Arbeiter«:
»Ich habe mit den Arbeitern ja sehr viel zu tun, weil ich sie selbst in meinem Werk habe. Ich habe vor den Arbeitern ebenfalls, wenn sie ordentlich sind und nicht irgendwie aufgehetzt sind, die allergrößte Hochachtung und stehe mit ihnen auf gutem Fuß. Er benimmt sich sehr ordentlich und sehr höflich, aber ohne etwas devot zu sein, ich verlange von ihnen auch natürlich nicht die geringste persönliche Arbeit. Esse sehr oft mit den Arbeitern, denn wir haben zusammen eine gemeinsame Küche bei uns. Wir sitzen zwar nicht am selben Tisch, aber wir essen dasselbe und die Arbeiter benehmen sich sehr ordentlich, und wir essen auch jeden Tag so.«
Wenn 1/104 vermerkt, daß die Familie des Fabriksbesitzers im gleichen Ort sehr nett zu allen sei, denn: Sie geben allen die Hand (betrachten sie nicht als unrein!) und sprechen auch mit allen«,
so ist damit viel gesagt. Denn die Gemeinschaft braucht nicht so weit zu gehen wie bei den Bauern, von denen 1/604 sagt:
"Alle aßen sie von der gleichen Schüssel, der Bauer und das Gesinde."
Was die übertragene Bedeutung des Schmutzes betrifft, so wurde sie in einigen Beispielen in einem negativ-moralischen Sinn verwendet. In einem solch moralischen Sinn bezeichnen sich die »Puritaner« bekanntlich als besonders rein und distanzieren sich so von den moralisch »Schmutzigen«.
Wenn wir an die nationalsozialistische Rassen-»reinheit« denken, dann erkennen wir, daß der Begriff für eine als wertvoll angesehene Integrität eines Prinzips, eines unvermischten Sonderwertes gebraucht wird. Blutmischung beschmutzt gleichsam im Sinn des moralischen Prinzips.
In diesem Sinn gibt es verschiedene »reine« Prinzipien, sogar eine »reine« Malerei, eine »reine Lehre« usw. Demnach wären Menschen dann »rein«, wenn sie sich mit einem Prinzip absolut identifizieren und andere Prinzipien, die »verunreinigen« würden, ausschließen. So kann jemand zwar körperlich als unrein, in einem übertragenen Sinn jedoch als rein angesehen werden. Es kann zu einer Kastenbildung der »Unreinen« kommen; doch werden sie sich im übertragenen Sinn als rein deklarieren, so wie dies die Kommunisten tun. Auf diese Weise wird der Reinheit als solcher doch wieder Tribut geleistet. Die Kaste betrachtet also im ursprünglichen oder übertragenen Sinn die Außenstehenden als unrein, sich selbst jedoch als rein.
ÜBERLEGENHEIT UND UNTERLEGENHEIT#
Kommt die Ekelschranke in der Distanzierung überhaupt, im Verweigern der Tischgemeinschaft, der Geselligkeit zum Ausdruck oder im Gefühl des Ekels dem anderen gegenüber, der das Prinzip - den Körper oder den Geist - nicht »rein«, nicht - sauber« hielt, so wird darüber hinaus in der kastenhaften Distanz auch eine Überlegenheit demonstriert, ein »Oben«-sein gegenüber einem »Unten«-sein.
Diese Spielarten der Überlegenheit gibt es in großer Vielfalt. Auf Grund eines bestimmten Wertes wird ein anderer Mensch der an diesem Wert keinen oder nur geringen Anteil hat, verachtet. Die »überlegene« Person sieht dann nach unten und identifiziert sich zugleich mit jenen Personen, die ebenfalls über jenen Wert verfügen. Die Überlegenheit leitet sich vom zentralen Wert der Kaste her, der ihr wirklich oder angeblich in besonderem Maß zukommt. Auf jeden Fall hat die Kaste etwas das sie als besonderes Positivum ansieht und wodurch sie glaubt eine hinabblickende Distanz mit Recht aufrechterhalten zu dürfen.
Nun gibt es aber verschiedene Überlegenheiten, die je nach Gesichtspunkt sogar gegensätzlichen Gruppen zukommen können. So kann man aus der Tatsache, daß die eigene Gruppe klein ist, das Überlegenheitsgefühl des »Elitären« gewinnen; aus der Tatsache, daß die eigene Gruppe groß ist, kann man ebenso das Gefühl der Überlegenheit erlangen, insofern nämlich, als viele stärker zu sein pflegen als wenige und »viele Hunde des Hasen Tod« sind. So ist es möglich, daß eine Kaste auf die andere aus diesem, jene jedoch auf die erstgenannte aus jenem Grund hinabsieht. Dabei pflegen die Wertstandpunkte sehr verschieden zu sein. Und gerade der verschiedene Wertstandpunkt ermöglicht es, daß jeweils zwei Gruppen einander zu verachten vermögen. Daher ist die Frage, ob eine Person andere verachtet, und die andere, ob sie selbst verachtet wird, insofern sehr aufschlußreich, als hier bei den Antworten die Wertmaßstäbe zum Ausdruck kommen, die die Sozialdistanzierungen begründen.
Die Kaste kann also einen bestimmten Wert oder eine Wertgruppe zum Zentrum haben, mit der sie ihre Isolation begründet. Der Ekel begrenzt gewissermaßen die Kaste, schützt den Zentralwert und jene, die sich mit ihm identifizieren, vor »Verunreinigung, Befleckung«, während der Zentralwert die Mitglieder der Kaste heraushebt, sie »aus-zeichnet« vor den andern, sie über-hebt.
Nun werden wir an Hand verschiedener Beispiele sehen, in welcher Weise einzelne Werte zu Wertzentren für Kasten werden können.