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JENSEITS DER KASTE#

Vielen mag beim bisherigen Lesen der vorliegenden Arbeit einiges als zu negativ dargestellt erscheinen. Und es wird mit Recht empfunden, daß es doch auch positive Gefühle, Überlegungen, Imperative gibt. Natürlich haben nie alle Angehörigen der Oberkaste die Unterkastigen unten halten wollen. Der einzelne Mensch ist immer mehr als seine Kaste. Franz von Assisi stammt aus einer Schicht, die man heute als »kapitalistisch« ansehen würde. Die Erklärung, letzterer sei aus antiväterlicher Unterkastenidentifikation zu verstehen, trifft wahrscheinlich etwas Richtiges, doch erklärt sie das Phänomen keineswegs ganz.

Zweifellos hat immer eine mehr oder weniger große Zahl der Feudalherren den Aufstieg ihrer Untergebenen gewollt, haben »Kapitalisten« sehr bald schon Schulen für die Kinder ihrer Arbeiter gebaut und andere höchst soziale Taten gesetzt. Ebenso haben römische Herren schon in vorchristlicher Zeit ihre Sklaven freigelassen und mit ihnen oft echte Freundschaft gehalten. Individuell wurden und werden immer Kastenschranken durchbrochen. Auch war vielleicht Konstantin nicht nur ein raffinierter ideologischer Zerbrecher der Dynamik des Christentums, sondern auch ein gläubiger Christ. Man darf nicht vergessen, daß im Kastenkampf, vor allem bei den Rationalisierungen vieles unbewußt geschieht und so viel Übles jenseits der Verantwortung liegt.

Sicherlich haben auch in Indien Brahmanen die Kasten durchbrochen, Könige ebenso wie Buddha. Es geht uns auch nicht einfach um moralische Anklagen - die mögen dort und da berechtigt sein -, sondern um die Darstellung der vielfältig bestehenden Motivationskomponenten. Die aufgezeigten negativen Momente stellen eben reale Gegebenheiten dar. Es wäre aber ungerecht und unvollständig, würde man isoliert nur jene negativen Komponenten betrachten, während man die echte Kastentranszendierung übersieht. Über alle jene Gegebenheiten hinaus gibt es einen Affekt unmittelbarer Verbundenheit, der bei jedem Menschen das Trennende unterlagert und umgreift und den er, um eine Kaste zu verabsolutieren, verdrängen muß.

Wenn wir von Schuldgefühlen sprachen, zunächst bei den Ober- und dann bei den Unterkasten, dann zeigt sich schon durch deren Bestand - und man veranschlage dies nicht zu gering - jene verdrängte Natur, welcher die Probleme des anderen und der anderen nicht gleichgültig sind. Die Tatsache, daß sich auch Primär- und Sekundärherren genötigt sehen, ihre negativen Haltungen rational und moralisch zu rechtfertigen, ist ein Zeichen für die Existenz eben dieser Moralität (33).

Der Affekt der Grenzenlosigkeit#

Das Gefühl, mit allem und jedem in einer Art mystischer Union zu verschwimmen, ist ein gewisses Faktum. Alle Differenzierung, Unterstreichung, Trennung und Analyse verschwindet darin und erlischt. Dieser Affekt der Grenzenlosigkeit ist keineswegs ein Sonderzustand, der nur ganz selten empfunden wird. Die »Hymnen an die Nacht« des Novalis etwa lassen ihn deutlich erkennen. Er tritt nicht nur regelmäßig bei den Ekstasen auf (»Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt" - Schiller), sondern auch im Zustand vor und knapp nach dem Schlaf. Das Erlebnis des Schlafes selbst stellt, ähnlich wie Ohnmacht und eine bestimmte Art von narkotischen Zuständen, ein solches ununterscheidendes Versinken im Unbewußten dar. Der Schlaf kennt keine trennenden Schranken. Das Gefühl unmittelbarer Gemeinsamkeit und Ungehemmtheit kann auch Erlebnisse der Distanz und Unterschiedlichkeit durchwalten. Unter und hinter dem Trennenden gibt es dann das Erlebnis eines gemeinsamen Menschlichen, das die Differenzierung und Trennung unterströmt und relativiert. Die Trennungen werden sekundär und mehr oder weniger unwesentlich in ihrer Bedeutung, je nachdem, wie intensiv die Trennungserlebnisse unterströmt werden. Es ist ein Kennzeichen von »Kontaktschwäche«, wenn diese primäre Allidentifikation eine starke Verdrängung erfahren hat. Umgekehrt ist intensive Kontakmahme, große Einfühlungsgabe ein Zeichen für die intensivere Wirksamkeit dieser affektiven Basis, obwohl die Einfühlung auch im Dienst egozentrischen Raffinements stehen kann.

Der Grundaffekt, besser vielleicht die Grundstimmung, die alle Einzelakte der Psyche verbindet, kommt in unmittelbarer Herzlichkeit, in selbstverständlicher Freundlichkeit direkt zum Ausdruck. Sie zeigt sich in dem angedeuteten Nicht-wichtig-nehmen grenzensetzender Formen und wird in der Bereitschaft, fremde Gedankengänge ernst zu nehmen und nachzuvollziehen, spürbar und wirksam.

Der unmittelbare menschliche Kontakt, ein Eins- und Gemeinsamfühlen mit der Umwelt überhaupt, in einer differenzierteren Form mit den Lebewesen und schließlich speziell mit dem Menschen, unterlagert notwendigerweise die Differenzierungserlebnisse. Dieses der Selbstbeobachtung, der Introspektion durchaus zugängliche Phänomen ist, wie wir schon sagten, in dem psychischen Vorgang wirksam, den wir »Kontakt« nennen. Die vollständige Kontaktlosigkeit ist unmöglich, denn man kann auch bei schweren Geisteskrankheiten Reste von Kontaktnahme feststellen. Natürlich mag das Gefühl der Kontaktnahme von den verschiedensten Distanzaffekten überlagert oder verdrängt sein, doch kann dies über die darunterliegende Unmittelbarkeit nicht hinwegtäuschen.

Die Kontaktaffektivität ist differenzierter Natur. Sie reicht vorn Erlebnis der verschwommenen All-Einheit bis zum personalen Verständnis für fremde Eigenart und das Eingehen auf die individuelle Sonderart des andern, ohne jeden Gruppennarzißmus. Wir wollen versuchen, verschiedene Seiten und Stufen der kastentranszendierenden Affektivität aufzuzeigen. Dabei können und wollen wir keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die wichtigsten und elementarsten kastenübersteigenden Momente scheinen jedoch erfaßt worden zu sein.

Schlaf, Rausch und Tod#

Wenn wir den Affekten der All-Einheit nachgehen, dann erkennen wir, daß das Gefühl des Unterschiedenen in jenen Zuständen der menschlichen Psyche aufgehoben wird, in denen eine eindeutige und deutliche Vorherrschaft des Unbewußten gegenüber dem Bewußten gegeben ist. Diese im Erlebnis sehr verwandten seelischen Zustände sind Schlaf, Ohnmacht, Rausch und Tod. Die Verwandtschaft von Schlaf und Ohnmacht ist naheliegend, sie braucht nicht näher erläutert zu werden. Man kann einwenden, daß die Phänomenologie des Schlafes gerade das Umgekehrte aufweise wie die personale Kontaktnahme, nämlich eine ausgesprochene Kontaktlosigkeit gegenüber den anderen Personen. Dieser Einwand trifft Richtiges, übersieht aber zwei Momente. Erstens geht es um das subjektive Erlebnis. Dieses ist zwar nicht personal-verbindend, jedoch auf einer niedrigeren und doch auch tieferen Stufe universell. Denn das Erlebnis des Schlafes stellt gewissermaßen die Gemeinschaft im Vegetativen her. Es ist ein Erlebnis der Passivität des Ich und des abgeblendeten Bewußtseins.

Wenn man die scholastische, in manichäischer Tradition stehende Abwertung der vitalen Basis des Menschlichen nicht teilt, wird man die unbewußte Geistigkeit und Weisheit, die in der Struktur des Vegetativen liegt, bewundern und das Erlebnis der unbewußten All-Einheit im Vegetativen nicht zu gering veranschlagen. In den urvitalen Bezirken der Existenz gibt es eine Verbindung, die alles Leben mitumfaßt. Die Basis aller Menschen hat hier einen Zusammenhang, in dem die Abgrenzungen des bewußten Lebens aufgehoben sind. Man spricht nicht umsonst von der »Nacht des Bewußtseins«, insofern nämlich, als das Dunkel der Nacht ebenfalls alle Konturen verschwinden läßt. Die Nacht ist mit einem andern Symbol, dem Nebel, verwandt, doch ist sie ein intensiveres Symbol. Zweitens gibt es verschiedene Stufen kastentranszendenter Affektivität; Schlaf und Ohnmacht stellen die umfassendsten und fundamentalsten, wenn auch undifferenziertes ten Formen der Kastentranszendierung dar.

Wenn Nacht und Nebel ähnliche Symbole sind, legen sie nahe, daß Zustände, die durch den Nebel symbolisiert werden können, Verwandtschaft mit jenen aufweisen, die durch Dunkelheit und Nacht symbolisiert werden. Man spricht davon, jemand sei »vernebelt«, wenn er einen Rausch hat. Und tatsächlich besitzt der Rausch eine verwandte Wirkung wie Schlaf und Ohnmacht. Wenn auch die verschiedenen Narkotika nicht in der gleichen Weise wirken, so weisen sie doch Verwandtschaft auf. Alle Arten von Ekstasen haben in ihrem »Außer-sich-Geraten« einen verwandten Aspekt.

Es ist Tatsache, daß in den weitaus meisten Fällen der Rausch das Gefühl der All-Einheit fördert und Schranken abbaut. Daher ist auch das »Bruderschaftstrinken« wohl ein sinnvoller Brauch. Der Rausch verbrüdert und hebt affektive und rationale Distanzen auf. Daher ist es leichter, sich bei einem Glas Wein zu einigen als ohne dieses.Die Verwandtschaft des Rausches mit dem Schlaf besteht in der Abnahme des Selbststandes und der Affektivität des Ich. Dem Unbewußten wird ein erhöhter Spielraum eingeräumt. Die verstärkte Affektivität des Unbewußten wirkt auf Kastendistanzen abbauend und vermindernd. Dies ist eine für die Tiefenpsychologie der kastentranszendierenden Zustände sehr wichtige Feststellung. Der Rausch lockert die feststehenden Bezüge und läßt die Abgrenzungen verschwimmen. Die Unterscheidungen, die verschiedenen Ausgangspunkte verlieren an Gewicht: damit aber auch Zentralwerte der Kasten. Zugleich werden meist - wenn der Rausch nicht aggressive Impulse freimacht - auch die Gefühle des Einsseins mit dem andern aktiviert.

Was schließlich den Tod betrifft, so fanden wir zunächst bei verschiedenen Versuchspersonen Hinweise darauf, daß unter Todesdrohung, in unmittelbarer Lebensgefahr, ebenfalls Schranken einen sehr starken Abbau erfahren. So meint 2/407, es gäbe »Momente, wo sich die Menschen verbrüdern - Lebensgefahr«. Die Differenzierungs- und Unterscheidungsmerkmale verlieren an Gewicht, und es kommt zu einer Beschränkung auf die fundamentalsten Lebensbedürfnisse. Dabei haben Kastendistanzen keine Bedeutung mehr und geraten zumindest stark in den Hintergrund. Die gemeinsame, intensive Bedrohung umklammert die Menschen und baut sonst gewichtige Unterschiede ab. Nur in extremen Fällen spielen dann Kastendistanzen noch eine Rolle.

Aber noch in einem viel weitgehenderen Sinn ist der Tod ein verbrüderndes Moment. Es gibt ein bekanntes, etwas sentimentales Bild mit vier Totenköpfen, unter denen dann die Frage steht, welcher wohl der Kaiser, der Bettler usw. sei: Der Tod machte alle ununterscheidbar gleich. Der folgende Vers aus Valentins Lied in Raimunds »Verschwender« drückt dies ebenfalls aus:

»Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt alle gleich.«

Nun wird der Tod keineswegs als etwas angesehen, das den Menschen wirklich in Nichts auflöst. Läßt man der Phantasie freien Lauf, so erhält man als aus dem Unbewußten aufsteigende Todesvorstellung auch nicht das Bild des christlichen Himmels, sondern vielmehr die eines endlosen Tiefschlafes, einer »ewigen Ruh«. Die Todesvorstellung ist, wie alle Tiefenpsychologen bestätigen, von Schlaf und Ohnmacht her gewonnen. Der Tod wird also als ein Versinken ins Unbewußte angesehen, und gerade damit entsteht wieder die Vorstellung der All-Einheit. Somit hat der Tod einen zutiefst gleichmachenden Aspekt (34). Also ist nicht nur die konkrete Konfrontation mit dem Tod, sondern die Vorstellung des Todes selbst kastenfremd. Wie oben schon angedeutet, hat auch die Vorstellung des Todeskampfes insofern etwas Kastenfeindliches, als er jeden betrifft, ohne Rücksicht auf seine Kastenzugehörigkeit. Heideggers Hinweis auf das Alleinsein im Tode, auf das Verlassenwerden, ist in diesem Zusammenhang sehr beachtenswert. Der Tod nimmt keine Rücksicht (35). Wir verstehen die mittelalterlichen Totentänze vielleicht dann von ihrer wesentlichsten Seite, wenn wir sehen, daß der Tod, der zum Kaiser kommt, auch zum Bettler geht, also unerbittlich ist. Diese Rücksichtslosigkeit des Todes, sein Vorgehen »ohne Ansehen der Person«, das heißt, ohne Ansehen der gesellschaftlichen Position, seine Kastenfremdheit macht ihn für die intensiv Benachteiligten sympathisch. Der Tod hat verschiedene Seiten, doch sind alle kastenfremd. Wir sehen auch, daß ein gemeinsamer Zug vom Schlaf über Ohnmacht und Rausch zum Tod gegeben ist.

Das gemeinsame Mahl#

Etwas außerordentlich Verbindendes ist das gemeinsame Mahl, das gemeinsame Essen und Trinken, wobei bestimmten alkoholischen Getränken eine Sonderstellung zukommt. Und es ist nicht nur das schon behandelte Moment des Rausches, das in diesem Zusammenhang bedeutend ist. Auch ist das wirklich Wesentliche und Verbindende nicht nur der gemeinsame Tisch, an dem man sich mehr zusammen- als auseinandersetzt, sondern die gemeinsame Schüssel und die gemeinsame Flasche, aus der man Speise und Trank bekommt.

Würde man sich in besonderer Weise durch eigene Speise und eigenen Trank isolieren (natürlich nicht, wenn es geschieht, weil einer etwa zuckerkrank ist), wie dies durch die jüdischen Speisegesetze geschieht, so reißt man zwischen sich und den anderen einen Abgrund auf. In mancher bäuerlichen Gesellschaft aß man und ißt man auch heute noch aus einer gemeinsamen Schüssel. Gerade beim Essen kommen oft alle möglichen Kastengegensätze als besonders krasse Hemmung zum Ausdruck. Deshalb wurden die Versuchspersonen gebeten, sich auszumalen, wie es wäre wenn sie mit einem ... Essen gehen würden. Gelingt es, beim Essen eine gute Atmosphäre zu erzeugen, das heißt, wird der Kontakt gerade hier hergestellt, so ist dieser viel tiefer als bei einem bloßen Gespräch. Das Verbindende des Essens zeigen die vielen Sitten der Gastfreundschaft. Das Trinken weist noch tiefere Gemeinsamkeiten auf. Mit den tiefenpsychologischen Aspekten dieses Sachverhalts wollen wir uns erst später beschäftigen.

Die Trinksitten, Bruderschaftstrinken und ähnliches, haben tiefe Gründe. Bei verschiedenen Blutsbruderschaftsriten wurde gegenseitig jeweils das Blut des andern getrunken; in einer bestimmten Weise ist heute der gemeinsame Trunk ein Ersatz dafür: ein gemeinsamer Blutkreislauf soll symbolisch hergestellt werden.

Nicht nur die Gemeinsamkeit des Tisches, der Schüssel und des Kruges, die Andeutung der Blutvermischung, sondern bei den Stimulantia auch noch die schon behandelte gemeinsame Prägung eines Seelenzustands, der sich durch Lockerung der Ich-Prozesse und Aktivierung der Es-Prozesse auszeichnet, fördert den Affekt der Grenzenlosigkeit. Besonders der Wein baut Trennungslinien ab, aber auch das Bier und verschiedene Schnäpse. Den speziellen Stimmungsunterschieden, die den einzelnen Getränken entsprechen, können wir hier nicht nachgehen. Man erhielte hier aber aufschlußreiche Erkenntnisse über verschiedene Möglichkeiten der Beeinflussung bei Verhandlungen. Den alkoholischen Getränken ist jedenfalls, wie schon gesagt, gemeinsam, daß sie einen Zustand erhöhter Selbsttätigkeit des Unbewußten und einen Abbau von starren Prinzipien bedingen. So werden selbst orthodoxe Kommunisten weniger orthodox wenn sie getrunken haben, und pflegen ihr brüderliches Herz zu entdecken.

Ein Professor, der in der Zeit zwischen 1934 und 1938 an der Universität antinationalsozialistische Vorlesungen hielt, wurde oft durch Zwischenrufe unterbrochen. Er lud daraufhin jeweils die größten Schreier zum Tee ein. Er trank mit ihnen und sprach mit ihnen persönlich über die aufgeworfenen Probleme. Obwohl es ihm nur zu einem kleinen Teil gelang, die Leute zu seiner Ansicht zu bekehren, fand sich doch unter diesen zum Teil nach 1938 prominente Stellen bekleidenden Personen keine, die ihm irgendwelche Schwierigkeiten gemacht hätte. Das gemeinsame Essen und Trinken hatte wohl eine Verbundenheit bewirkt, die die Aggression hemmte oder auflöste (36).

Umgekehrt ist natürlich die bewußte Distanzierung beim Essen - etwa gegenüber den Dienstmädchen, die in der Küche essen müssen - etwas stark Kastenbetonendes. Vor allem wird dadurch die Ekelschranke betont. Auch die moralische Abwertung pflegt dadurch sichtbar zu werden: man setzt »sich mit so jemandem nicht an einen Tisch«. Der gemeinsame Tisch hat also etwas intensiv Kommunikatives, das auf seine tieferen Gründe hin noch untersucht werden muß.

Das gemeinsame Werk#

Da die gemeinsame, strukturiert-organische Leistung viel erfolgreicher sein kann und ist als die einfache Summe von Einzelleistungen, die nicht aufeinander bezogen werden, bedeutet auch die gemeinsame Leistung ein stark verbindendes Moment. Das Herausstellen der Gemeinsamkeit einer Leistung intensiviert oder erzeugt ein Bewußtsein des Zusammengehörens. Die gemeinsame Verantwortung für ein Werk ist dabei ebenso verbindend wie der gemeinsame Erfolg oder auch Mißerfolg. Das tief verbindende Moment des gemeinsamen Werkes ist verständlich, denn die Idee umfaßt alle, denen sie gemeinsam ist.

Nun sind die gemeinsamen Leistungen wiederum auf die anderer Menschen bezogen. Die Leistung einer Gruppe vermag wieder auf jene anderer Gruppen bezogen zu sein. So kann mit Recht von der Leistung ganzer Völker gesprochen werden. Durch stufenweise strukturierte Leistungsziele können immer umfassendere Zusammengehörigkeitsgefühle erzeugt werden. Will man eine Gemeinschaft aller Menschen auf der ganzen Erde stiften, so müßte auch eine gemeinsame Aufgabe angezielt werden. Überall, wo gemeinsame Aufgaben übernommen werden und die Gemeinsamkeit auch zum Bewußtsein gebracht wird, entsteht ein Verbundenheitsaffekt, der in einer noch zu untersuchenden Beziehung zur Größe der Aufgabe und Größe der Gruppe steht.

Der Zusammengehörigkeitsaffekt wird also durch eine Leistung, die durch ein strukturelles Ineinandergreifen vieler erreicht wird, stark gefördert. Er ist in besonderer Weise geeignet, trennende Affekte abzubauen und zu durchbrechen. Die Tatsache der gemeinsamen Leistung bei verschiedener Tätigkeit legt natürlich nahe, daß der einzelne nicht nur seinen eigenen Beitrag zum Gesamteffekt, sondern auch den jedes andern achtet und entsprechend einschätzt. Dies führt uns jedoch schon zum nächsten Kapitel.

Akzeptation und Gegenakzeptation#

Die bewußte Achtung und Schätzung der fremden Leistung, darüber hinaus aber jede Bejahung einer anderen Person, nennen wir Akzeptation. Der Bejahung der fremden Existenz steht der Wunsch gegenüber, selbst von den andern, von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Wir wollen dies Gegenakzeptation nennen. Die tiefere Anerkennung der Funktion des anderen im Ganzen der Gesellschaft ist ein stark kastenfremdes Moment. Der andere ist sozusagen ein gleichberechtigter Partner, seine Anliegen werden ernst genommen, und man erwartet umgekehrt, auch vom anderen ernst genommen zu werden.

Anerkennung der Existenzberechtigung und Anerkennung seiner sinnvollen Mitgliedschaft in der Gesellschaft wünscht jeder Mensch und jede Gruppe, wenigstens uneingestanden. Der Affekt der Grenzenlosigkeit sucht, gerade nachdem die Verbundenheit mit allen anderen gegeben ist, die eigene und fremde positive Rolle im Insgesamt der Gesellschaft. Dort, wo wir über das Absinken und Funktionsloswerden von Gruppen sprachen, deuteten wir die Wichtigkeit des Problems an. Der Arbeitslose, dem die Gesellschaft zunächst gleichsam bescheinigt, er sei unnötig, bildet eine latente Gefahr für diese, einerseits, weil er wenig Geld hat, andererseits, weil er sich ausgestoßen fühlt. Dabei entstehen notwendigerweise Aggressionen gegen die Gesellschaft.

Auch jene Arbeitslosen, die entweder von reichen Verwandten (pd: bzw. von auskömmlichen Arbeitslosengeld und "Pfusch") leben oder eine bezahlte aber unnötige Funktion ausüben - wir wollen sie »Nobelarbeitslose« nennen -, sind eine Gefahr, da sie zum Teil, wie die übrigen Arbeitslosen, zu politischem Abenteurertum neigen. Dazu gehören zum Beispiel in Österreich die Heeresoffiziere. Auch Künstler sind, wenn sie nicht anerkannt werden, dazu zu zählen. Sie vermögen zum Beispiel bei Nicht-Akzeptation durch die Gesellschaft aggressiv zu werden. Die Idee, daß Genies notwendigerweise zunächst verkannt werden müßten und daß man sie daher vernachlässigen dürfte, ist menschlich gesehen gefährliches Unrecht. Auch Rentner und viele Pensionisten sind Funktionslose; sie könnten ein aufmunterndes Wort gut vertragen und dürften den Beistand der Gesellschaft nötig haben.

Es ist politisch wichtig, im Rahmen der Gesellschaft über die Funktion anderer nachzudenken und die Bedeutung dieser Funktion für die Gesellschaft auch zum Ausdruck zu bringen. Schon die Kinder freuen sich, wenn sie sich nützlich machen können und wenn dies anerkannt wird. Da die gemeinsame Basis der Menschen dann am wenigsten verlassen wird, wenn die positive Funktion des einzelnen oder einiger Gruppen wenigstens in ihrer Potentialität anerkannt wird, ist es nötig, deren positive Möglichkeiten für das Ganze zu zeigen und herauszuarbeiten. Gerade dort, wo Funktionslosigkeit droht, ist ein aufmunterndes Gespräch wichtig, und dort, wo auf Grund der Entwicklung der Technik eines Tages notwendigerweise Funktionslosigkeit eintreten muß, hat eine Umstellung vorbereitet zu werden, die eine neue Eingliederung der funktionslos gewordenen Personen ermöglicht.

Dort, wo eine Funktion gegeben ist, kann man diese herausstellen. Von hier aus wäre auch der gesunkenen Arbeitsmoral zu begegnen. Denn Anerkennung der Funktion verpflichtet und erweckt produktive Impulse.

Aber in einem noch tieferen Sinn gibt es Akzeptation und Gegenakzeption. Wer am anderen, Gegenüberstehenden, ein Nega-tivum entdeckt, während er an sich nur das gegenteilige Positivum zu erkennen meint, unterliegt einem fundamentalen Irrtum. Dieser ist das Produkt einer Selbsttäuschung, denn in allen solchen Fällen, wo einer Seite ein bestimmter Wert zuerkannt wird und der anderen der vollkommene Mangel daran, wird aus einem graduellen Unterschied ein absoluter gemacht. Denken wir an die Rein-unrein-Dialektik. Auch der Schmutz des Kanalräumers ist bloß ein Grenzwert, denn schmutzig werden doch alle Menschen, nur jeweils mehr oder weniger. Ähnliches gilt von der Dialektik zwischen Guten und Bösen. Bei der Moralitätsschranke ist es nämlich auch nicht anders als bei allen anderen Schranken. Nimmt man einen echten Wesensunterschied zwischen den Verbrechern und den übrigen Menschen an, ist man im Unrecht, denn eine Trennungslinie zwishen den Guten und Gerechten auf der einen Seite, den Bösen und Ungerechten auf der anderen, ist unzutreffend.

Wo eine Abwertung in einer solch vereinfachenden Weise vollzogen wird, ist dies nur infolge des geringen Einblicks in die eigenen negativen Möglichkeiten möglich. Hier liegt Pharisäismus vor. Die Voraussetzung dafür ist ein Engelskomplex (37). Als ein Schweizer Autor ein Buch mit dem bezeichnenden Titel »Die Gesellschaft und ihre Verbrecher« (38) schrieb, ging es ihm dabei um das Problem der Integration auch der Verbrecher. Die Sucht vieler Menschen, in der Presse blutrünstige Mordstories zu lesen, um sich nachher über jene bösen Verbrecher moralisch zu entrüsten, spricht von der uneingestandenen Faszination dieser Dinge.

Die kastentranszendente Autorität#

Den Autoritäten kommt natürlich auch in der echten Gemeinschaftsbildung eine Schlüsselposition zu. Nur von ihnen vermag die »kastenlose Gesellschaft« ihren Ausgang zu nehmen. So läßt sich die Herrenfunktion zwar nicht abschaffen, wohl aber kann die innere Distanz wegfallen und jegliches »Von-oben-herab«. Wesentlich ist wieder das Grunderlebnis gemeinschaftlicher menschlicher Basis, bei sekundärer Funktionsverschiedenheit. Die Zusammenarbeit für ein gemeinsames Werk erfordert oftmals autoritative Position, so daß sich auch als Mitarbeiter erlebende Personen im Bereich des Funktionellen einer anderen Person unterzuordnen haben. Besonders deutlich wird dies in einem Extrembereich, in dem die Unterordnungsfunktion zeitweise sklavenhafte Züge annimmt.

So selbstverständlich es ist oder sein müßte, daß ein Vorgesetzter normalerweise seine Anordnungen in die Form einer Bitte kleidet, um dadurch die Anerkennung einer freien Persönlichst kundzutun, so sehr gibt es doch Grenzfälle der Autorität, wo die Bitte zu knappstem Befehl wird. Diese Grenzprobleniatik tritt dort auf, wo sich der Mensch in großen Gefahren bewegt. Während einer Operation nehmen die Anordnungen des Operateurs nolens volens Befehlscharakter an, da keine Zeit und die Situation zu ernst ist; dort wird die Operationsschwester quasi zum Sklaven.

Diese Grenzautorität tritt auch in der Industrie dann auf, wenn es sich etwa um die Montage eines gefährlichen Werkstückes handelt oder auch nur um das Aufstellen eines Gerüstes. Die militärische Autorität ist insofern eine Grenzautorität, als sie für den Ernstfall sklavenhafte Befehlsausführung trainieren muß. Daher erschien auch in unsern Untersuchungen die militärische Autorität häufig als Inbegriff des Autoritativen. So ist wohl die nach 14 Sekunden erfolgende Assoziation von 2/207 zu »ein Herr« zu verstehen: »Ein Militärherr.«

Die Autoritäten haben, soll ihre innere Grenzenlosigkeit zum Ausdruck kommen, nicht nur offen und freundlich zu sein, sondern eine echte Aufgeschlossenheit zu besitzen. Sie sollten sich nicht vor dem gemeinsamen Essen und Trinken, vor dem Gespräch über eigene und fremde Probleme und schließlich auch über gemeinsame Probleme scheuen. Akzeptation muß ebenso zum Ausdruck kommen wie das Bedürfnis nach Gegen-akzeptation (Papst Johannes XXIII. zu Journalisten: »Ich freue mich jedesmal, wenn ich über mich etwas Gutes in der Zeitung lese«).

Wir anerkennen also die Autorität als eine »funktionelle Autorität«, jedoch nicht als Autorität an sich!

Gegen das Bild einer solchen kastenfremden Autorität, die besonders geeignet ist, ein Mittelpunkt zu sein und keine Spitze, wird eingewendet, die Unterkasten würden sich einem solchen Durchbruch von oben widersetzen und gar nicht wollen, daß man mit ihnen Gemeinschaft pflegt. Vielfach werde kühl distanzierende Autorität erwartet und gefordert und keine menschliche Unmittelbarkeit. Hierzu ist zu sagen, daß bei verschiedenen unterkastigen Gruppen ein zum Teil Jahrzehnte bestehendes Mißtrauen nicht von heute auf morgen durchstoßen werden kann. Die Unterkasten erwarten, man wolle sie nur »einfangen«, um sie »hineinzulegen«. Daher muß die Kontaktnahme schrittweise erfolgen, mit Geduld und Ausdauer, am besten zunächst mit einzelnen Personen. Nur eine verkrampfte Kontaktsuche - die weiter oben charakterisierte Anbiederung - wirkt abstoßend. Man darf den Unterkastigen nicht zum Hanswurst machen und ihn etwa allein zu einem Galadiner einladen, dessen Atmosphäre ihm völlig fremd ist.

Weiterhin ist zu sagen, daß es sicherlich genügend infantile Typen gibt, die eine quasi göttliche Autorität wünschen: diese sind jedoch keine echte Stütze der führenden Personen, denn sie sind geneigt, alle Entscheidungen nach oben zu schieben. Eine solche Autorität kann keine Zukunft haben. Die Entwicklung verläuft dahin, daß immer differenziertere und qualifiziertere Arbeiter, die also Entscheidungen auf sich nehmen und selbständig denken, gebraucht werden und keine Hilfsarbeiter.

Wir können hier natürlich nur die allgemeinen Grundlagen einer Autorität entwickeln, dagegen ist es unmöglich, auf alle speziellen Autoritätsfragen, wie etwa die des Offiziers, einzugchen. Die kastenfremde Autorität zeigt sich grundsätzlich dem Affekt der Grenzenlosigkeit verpflichtet, den gemeinsamen Anliegen, der Akzeptation und Gegenakzeptation und dem gemeinsamen Werk.Wesentlich für die kastenfremde Autorität ist außerdem noch ein ganz bestimmtes Charakteristikum: es ist die Bejahung, ja Unterstützung und Erweckung des echten Aufstiegswillens der Unteren. Nicht das Untenhalten sondern das Hinaufziehen ist für sie typisch. Wenn hier ein entsprechender Wille bekundet wird und klar zum Ausdruck kommt, sieht sich der Untergebene emdeutig einer wohlwollenden Autorität gegenüber, die sich nicht nur seiner gegenwärtigen Existenz, sondern auch seiner Potentialität verpflichtet fühlt. Hier geht es um eine entscheidende Grundhaltung, die von weittragender politischer Bedeutung ist.

Schuldfrage und Schuldbekenntnisse#

Zur absoluten Autorität gehört ihre Unfehlbarkeit in allen Fragen, zur relativen Autorität das Irrenkönnen und die manchmal verfehlte Handlung. Falsche Handlungen erzeugen Schuldgefühle, die auch in Gruppen, anderen Gruppen gegenüber, bestehen können. Wir haben schon zu Anfang der Arbeit gezeigt, daß es bei Christen Schuldgefühle gibt, wenn sie sich kastenhaft verhalten. Die Aussage des Bauern 2/212 zu »Arbeiter« ist in einer andern Hinsicht, aber auch im Blick auf die Schuldgefühle illustrativ:

»Der eine Freud hat, diesen Beruf zu erlernen und auch hundertprozentig dann seine Arbeit leistet. Nicht daß einer herumgeht und denkt sich, der Chef sieht mich eh nicht... Das ist heute nur ein ganz gewöhnlicher Bruchteil. Die meisten sind doch so, daß sie ein Verantwortungsgefühl haben. Indem jetzt so wenig landwirtschaftliche Arbeiter sind, muß man sie haben, als wenn sie zur Familie gehören, sie haben ja Familienanschluß. Und der, was dann so halbwegs ein rechtschaffener Mensch ist, der halt dann zum Bauern.«

Es ist also »heute ein ganz gewöhnlicher Bruchteil« von Arbeitern, die schlecht arbeiten. Naheliegend wäre gewesen, ein »ganz kleiner Bruchteil« zu sagen. Was könnte man sich unter einem »ganz gewöhnlichen Bruchteil« vorstellen? Er wäre wohl kein ganz kleiner und kein ganz großer, sondern ein nur leicht bemerkbarer. Heute besteht ein tradiertes, früher einmal adäquates Schuldgefühl gegenüber dem Arbeiter. Deshalb traut man sich öffentlich nicht, die mangelnde Arbeitsmoral anzuprangern, die natürlich auch bei Handwerksmeistern, Staatsbeamten und Akademikern zu bemerken ist. Hier wäre wohl einiges an offenen Worten nötig.

Wenn wir anläßlich des Kastenkampfes von der lähmenden Wirkung der Schuldgefühle sprachen, so müssen wir auch noch eine Möglichkeit ihrer richtigen Verarbeitung zeigen. In Wirklichkeit bedeuten nämlich Handlungslähmung und revolutionärer Umsturz keine echte, psychologisch richtige Lösung, da bei den Revolutionären neue Schuldgefühle entstehen, die wiederum realitätsgemäßes Handeln erschweren. Ein Handeln frei von Schuldgefühlen kann viel normaler ablaufen als eines, das durch Schuldgefühle unterminiert ist. Durch das Eingeständnis der Schuld, und zwar jenen Gruppen gegenüber, die durch die Fehlhaltung betroffen wurden, vermögen sie aufgehoben zu werden.

Ein Beispiel aus der neueren Geschichte Österreichs mag dies verdeutlichen: Während eines Katholikentages wurde von offiziellen Vertretern der Kirche erklärt, daß diese im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts den echten und berechtigten Anliegen der Arbeiterschaft nicht genügend Beachtung entgegengebracht hätte und daß man es daher verstehen müsse, wenn ihr die Arbeiterschaft den Rücken kehrte. Dies war ein vor allem an die Adresse der Sozialisten gerichtetes Schuldbekenntnis. Die Sozialisten mußten dies verarbeiten. Der Entwurf zum neuen Parteiprogramm der österreichischen Sozialisten enthielt nun ein bedeutendes Gegenschuldbekenntnis. Es wurde nämlich gesagt, die Kirche wäre durch »Ansprüche auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet« mit dem Sozialismus in Konflikt geraten, jedoch sollte nicht verkannt werden, daß sich die »Kirchen durch manche sozialistischen, meist vom Liberalismus übernommenen Anschauungen angegriffen fühlten«. Bei dieser Feststellung handelt es sich um ein sehr bedeutendes Faktum, man hält zwar an der Schuld der Kirche fest, gibt aber auch die eigene Schuld zu (39). Schuld- und Gegenschuldbekenntnis schufen eine echte und entscheidende Brücke.

Die Gesellschaft gesteht jemandem, der freiwillig und ohne Koketterie erklärt, daß er Fehler machte, grundsätzlich Ehrlichkeit und Anständigkeit zu.

Vorhandene Gruppenrepräsentanz: In diesen Bereich gehört der Hinweis, daß die Kirche von heute ein Schuldbekenntnis für die Kirche, die vor 100 Jahren existierte, abzulegen vermag, der neue österreichische oder deutsche Staat für den alten, die Industriellenvereinigung für die Industrie und der Gewerkschaftsbund für die früheren Gewerkschaften. So könnte auch der Chef des Hauses Habsburg für sein Vorfahren sprechen. Wenn jedoch keine kontinuierliche Gruppenrepräsentanz existiert, ist eine Deklaration einer Schuld unmöglich.

Das ist die Tragödie etwa der Liquidation der russischen Zarenfamilie. Denn es existiert kein Repräsentant der Zarenfamilie, der die eigenen Fehler bekennen und den Bolschewiken den Abbau ihrer Schuldgefühle erleichtern könnte. Das Beispiel von Kirche und SPÖ zeigt auch, daß man sich nichts Zentrales vergibt, wenn man Fehler eingesteht, sondern damit im Gegenteil eine echte menschliche Annäherung vollzieht. Ohne solche offene Schuldbekenntnisse gibt es keine Möglichkeit einer echten Gemeinschaftsbildung. Ist eine Gruppe nicht bereit, begangene Fehler zuzugeben, ist sie genötigt, Sündenböcke zu suchen und andere für ihre Defizienzen verantwortlich zu machen. Das Ende des Kastenkampfes könnte mit auf dem Weg über Schuldbekenntnisse geschehen. Daß hier die oberen Kasten anfangen müssen und nicht die unteren, ist wohl verständlich, da es für den in der stärkeren Machtposition Befindlichen leichter ist, ein solches Bekenntnis zu vollziehen. Den Schuldgefühlen und ihrer Dynamik kommt in der Gesellschaft, wie wir sehen, eine wesentliche Rolle zu. Ihre Beseitigung ist vom kollektiv-psychotherapeutischen Standpunkt von außerordentlicher Bedeutung.

Das Wissen um den gemeinsamen Gott#

Einem kastenbewußten Aristokraten kann kaum etwas Schlimmeres passieren als die Zumutung, die Gleichheit aller Menschen anzuerkennen. Natürlich haben auch die Theoretiker der Französischen Revolution und auch jeder intelligente Kommunist niemals gemeint, alle Menschen seien in dem Sinn gleich, daß jeder eine gleiche körperliche Erscheinung oder ein gleiches seelisches Profil besitze. Mit dieser Gleichheit wurde nichts anderes gemeint, als daß die Menschen in ihrem Wesen, im Wesentlichen gleich, während die Unterschiede unwesentlich seien.

Nun könnte ein christlicher Aristokrat sagen: »Ja, vor Gott sind alle Menschen gleich, sonst nicht.« Nimmt man dieses »vor Gott« ernst, dann kann das Gleichsein vor Gott ja auch nichts anderes bedeuten, als daß er die Menschen nach gleichen Prinzipien beurteilt (Das Talentegleichnis Christi). Keineswegs aber kann es bedeuten, für Gott seien in primitiver Weise alle Menschen gleich. Dieses »vor Gott« kann heißen: Alle sind »Kinder Gottes«, es besteht also eine brüderliche Relation, eine Zusammengehörigkeit, die zu gegenseitiger Bejahung verpflichtet, ohne daß die Verschiedenheiten, partielle Über- und Unterlegenheiten geleugnet würden.

Glaubt man an Gott als den Schöpfer der Menschen, so muß man doch gerade von ihm annehmen, daß er die Unterschiede besonders klar sieht. Das oben genannte Zugeständnis ist kein echtes Zugeständnis, denn es vertritt die Ansicht, daß die Gleichheit vor Gott - die ja, wie wir sahen, einen Sinn hat - für das Leben der Gesellschaft belanglos sei. Wenn dagegen die Gleichheit vor Gott dem Vater konsequenterweise als Brüderlichkeit unter den Menschen anerkannt wird, sind ihre Folgen für die Gesellschaft unabsehbar. Denn wie soll etwa ein Unter-sich-Heiraten aus der Brüderlichkeit abgeleitet werden? Unter diesem Aspekt sind auch die katholischen Ritterorden nicht existenzberechtigt.

Diese »polemischen« Bemerkungen hatten nur den Sinn erkennen zu lassen, daß das Bewußtsein, gemeinsam vor Gott zu stehen, in Verantwortung und Kindschaft, doch wohl eine Haltung nahelegt, die die Trennungslinien transzendiert. Die adäquate brüderliche Haltung erzeugt ein Gemeinschaftsbewußtsein.

Der Einwand, beim Bewußtsein der Brüderlichkeit handle es sich nur um die Bekenner der gleichen Religion, trifft zwar insofern etwas Richtiges, als er die leider häufig gegebenen konkreten Verhaltensweisen richtig erkennt. Aber er trifft insofern nicht die Essenz der Idee einer Gotteskindschaft, als diese eben in der konkreten Gesellschaft nicht entsprechend realisiert wurde. Denn die Gotteskindschaft muß auch dort gesehen werden und tragend sein, wo ein Mensch sich nicht danach verhält, ja diese nicht anerkennt.

Nun soll nicht geleugnet werden, daß auch ein falsches und illusionäres Absolutum eine gemeinschaftsbildende Kraft haben kann. Auch der Nationalsozialismus schuf Gemeinschaftsgeist. Doch schließt ein innerweltliches Absolutum nolens volens immer jene aus, die dieses Absolutum nicht als Zentralwert anerkennen. Die transzendente Haltung jedoch realisiert, nachdem sie alle Menschen, ob bewußt oder unbewußt transzendenzbezogen wahrnimmt, die menschlichen Unterschiede, sieht sie als unwesentlich an, weil sie neben der Transzendenzausrichtung der menschlichen Natur in ein Nichts zusammenschrumpfen.

Selbstverständlich gibt es genügend Fälle, in denen die konkrete Haltung entscheidend vom Sollen abweicht. Obwohl es kaum nötig ist, soll daher doch ein typisches Beispiel gebracht werden: Ein holländischer Feudaler, Malteserritter, besuchte mit einer österreichischen Dame ein Museum. Dort befand sich ein Bild, auf dem sich eine Frau vor ihrer männlichen Dienerschaft auszog. Auf eine verwunderte Bemerkung der Dame erklärte der Herr: »Du ziehst dich ja auch vor deinem Hund aus.«

Ähnlich berichtet 2/107 von einer aristokratischen polnischen Verwandten, Christin, die sich, obwohl sie unter ihresgleichen exzellente Formen aufwies, vor ihrer männlichen Dienerschaft ohne weiteres entblößte, da sie jene nicht als Menschen ansah. In beiden Fällen ist das christliche Verhalten natürlich fragwürdig, hier wurde gar nicht zum Kern christlichen Daseins vorgestoßen. Vielmehr besteht der Verdacht, daß die betreffenden Personen die Religion bejahen, weil sie die unteren Schichten weniger aggressiv macht, also im Zaume hält. Hier kann man an das Wort von Karl Marx über die Religion als »Opium des Volkes« denken. Religion ist diesen Personen nur eine Funktion ihrer Kastenposition, das heißt: weil etwa die Kirche sich bereit zeigt, ihre Privilegien zu achten, sind sie bereit, die Kirche nach außenhin anzuerkennen, obwohl sie von der christlichen Substanz in ihren wesentlichen Forderungen gar nicht erfaßt sind.

Nur der echte Transzendenzbezug, der nicht Mittel zum Zweck ist, vermag Kastenschranken abzubauen. Gerade das Offensein gegenüber der Unendlichkeit Gottes hat ein inneres Sich-öffnen zu den anderen Menschen hin und eine tiefgreifende Trans-zendierung von Kastenschranken zur Folge, wenn dieses Offensein genügend tief liegende Schichten der Persönlichkeit umfaßt.