Notiz 054: Fragen zur Szene I#
(Zusammenfasssung mehrerer Glossen aus der Origami Ninja Association)#
von Martin KruscheDer Begriff „Szene“ gehört so selbstverständlich zum Wortschatz meiner Branche, dazu fällt mir längst nicht mehr ein, wann dieser beliebig belegbare Container-Begriff zuletzt auf seine Inhalte hin befragt wurde. Freie Szene. Autonome Initiativenszene. Damit will offenkundig ein Milieu benannt sein, dessen Projekte und Initiativen nicht als „staatsnah“ gelten.
Jüngst hörte ich in einem Rückblick auf 2020 einige bewährte Kräfte sagen, sie seien a) mit der steirischen Kulturpolitik sehr zufrieden und fänden b) die IG Kultur Steiermark habe in der Krise sehr gute Arbeit geleistet. Exponentinnen von Kulturhäusern, die ohne staatliche Finanzierung schon vom Set verschwunden wären, aber zur „Freien Szene“ gerechnet werden. Ich denke, da besteht etwas Klärungsbedarf, was unsere Begriffe angeht.
initiativenszene I#
aber welches WIR mag von der basis der zivilgesellschaft her (bottom up) erwünscht sein? ich hab das zum stichwort SOLIDARITÄT schon angerissen. dazu war aber vorerst nicht viel zu erfahren.
gestern, am 6. april 2021, postete die ig kultur auf facebook: „Bis wir wieder eine Perspektive haben, wird es wohl leider noch ein wenig dauern. Hier findet ihr unterdessen eine Übersicht zu Unterstützungsleistungen für Kunst und Kultur:…“
keine perspektive? ich wohne hinter einer apotheke. da kenne ich diesen modus: „laden geschlossen, journaldienst zum wochenende anwesend.“ ansonsten nicht viel los.
ich sehe das freilich anders. wovon reden wir überhaupt? wir haben in der zweiten hälfte der 1970er damit begonnen, einen soziokulturellen modus zu entwickeln, zu erproben, zu etblieren, der danach „freie initiativenszene“, „autonome initiativenszene“ auch „freie szene“ genannt wurde.
ich erinnere mich an einzelne kräfte wie den semiotiker jeff bernard (†) oder den philosophen gerald raunig, die sich konsequent zu klären bemüht haben, wovon da überhaupt die rede sei. die letzte kohärente darstellung, an die ich mich erinnere, wurde von der interessengemeinschaft für freie theater in der steiermark vor jahren anläßlich eines jubiläums (2009?) publiziert.
ich habe derzeit nicht den eindruck, daß wir mit unserem selbstverständnis als „szene-wir“ auf der höhe der zeit wären und hinreichende klarheit besäßen. es wäre im radikalen umbruch dieser jahre 2015 bis 2020 vielleicht eine interessante aufgabe, das aktuell zu klären.
initiativenszene II#
ohne eine permanente kritische debatte, in der wir unser metier auch selbst überprüfen, erleichtern wir es der kulturpolitik, sich in public relation-posen zu verwandeln; natürlich zugunsten des funktionärswesens.
autonome szene: das ist eine gemeinschaft, die sich selbst ihre regeln gibt. freie szene: frei, das ist ja eher eine relation als eine position. frei wovon? (das will geklärt sein.) dann bin ich gleich wieder bei autonomie, also selbstbestimmung.
die KOLLEKTIVE wissens- und kulturarbeit hat mich ab den 1970er jahren fasziniert und in anspruch genommen. (das riß nimmer ab.) die anfänge, von denen ich weiß, vollzogen sich in der zweite hälfte der 1970er.
da war noch von SUBKULTUR die rede, ohne daß ich seinerzeit einschlägige diskurse gekannt hätte. aus meiner damaligen sicht war das FORUM STADTPARK ein haus etablierter kräfte, ergo: establishment. wir fühlten uns dagegen als underground.
die überprüfung der begriffe und ihrer politischen bedeutungen spielte erst später eine rolle. das kam zum beispiel mit der lektüre von bourdieu, foucault, gramsci und konsorten. außerdem erhielten wir live inputs von klugen frauen. in graz etwa durch philosophin elisabeth list. und es gab den „wiener frauenverlag“.
ich erinnere mich noch, daß ich sylvia treudl gefragte hab, wie man luce irigaray ausspricht und manch anderes, was sie stets geduldig beantwortet hat. autorin barbara neuwirth nicht zu vergessen…
aber bevor es für einen wie mich in die diskurse hineinging, in das überprüfen von begriffen und zusammenhängen, war ich von einer deutschen subkultur-szene beindruckt und beeinflußt. das drehte sich zum teil um jenes kuriose „ulcus molle-info“, welches der informatiker josef wintjes herausgegeben hat.
irgendwo dazwischen: duchamp. DADA. beuys. und peter weibel. ich denke, allerhand literatur, diverse essays und interviews haben wirkung gezeigt. aber in realer begegnung kamen ganz wesentliche anstöße vor allem von intellektuell und politisch prägnanten frauen, die uns außerdem andere strategien zeigten als das bohemehafte durch-die-gegend-stelzen von uns kraftstrotzenden burschen.
wir fühlten uns ja in den grazer nächten als könige und freibeuter der beisel-touren, voll von poesie und musiken. (kultur-) politik konnte warten. ich nehme an, frauen hatten in diesen tagen von hausaus andere fragen zu klären, um auf diesen terrains umtriebig zu werden.
initiativenszene III#
ich hab eben in meinen chroniken nachgeschaut, ob sich dingfest machen läßt, wann das mit „szene“ losging. ich fand ein foto von meiner ersten lesung vor größerem publikum. das war am 7. juni 1977. (neben mir als moderator jener veranstaltung kabarettist sepp trummer.)
in diesem jahr hab ich meinen fixjob als buchhändler geschmissen, um als freelancer in der kunst zu leben. damals gab es keine „szene“, aber eine SPHÄRE. wie schon erwähnt, das forum stadtpark war für einen wie mich establishment. davor hohe zugangsschwellen. daran änderte zum beispiel meine freundschaft mit schriftsteller helmut eisendle gar nichts.
forum stadtpark und wir kunst-welpen, das waren verschiedene terrains. ich erinnere mich an tage in der schauspielhaus-kantine, da ich mir als statist etwas geld verdiente: günther eichberger erzählte gerne, wie gut er mit wolfgang bauer gewesen sei und was ihm an dessen werk auffalle etc. aber das ist episodischer kram.
sowas hatte in meiner erinnerung keinen effekt auf unseren teil des kunstbetriebs. wir waren im wesentlich eine junge bohème im nachtleben von graz. es gab zahlreiche cafés und clubs mit lauschigen winkeln, kleinen bühnen, allerhand möglichkeiten, daß wir uns vor publikum erproben konnten.
szene? nein! wie erwähnt: sphäre. darin wurden formationen sichtbar. ich war noch bei „gegenlicht“ dabei, das hielt sich aber nicht. als petra und gerald ganglbauer sich mit etlichen „perspektive“-leuten nicht mehr vetrugen, enstand der verlag „gangan“. die „perspektive“ vertiefte das avantgardistische. die „lichtungen“ fuhren eine ganz andere schiene.
dann gabs aber auch mundartdichtereien, schreibende proletarier („reibeisen“), in der obersteiermark kristallisierten sich die „bestände“ heraus. „eva & co“ sickerte in gegebener relevanz erst langsam in die wahrnehmung von uns kerlen ein. etwas wie „das dietrichsblatt“ von wolfgang d. gugl nahnen wir nicht ernst etc. etc. selbstverständlich liefen wir alle einander übern weg, traten gelegentlich zusammen auf, doch es blieben eigenständige lager…
initiativenszene IV#
die vorige glosse endete mit: „selbstverständlich liefen wir alle einander übern weg, traten gelegentlich zusammen auf, doch es blieben eigenständige lager…“ ähnliches in bereichen der bildenden kunst. sehr lebhaft: das laientheater.
überbordend: die musiken. country, folk & blues sowieso, daher auch rock & roll. austropop, bevor es den begriff austropop gab. sehr einflußreich: die jazz-abteilung an der grazer musikhochschule. aber: eine szene?
all das mit resonanzen und interferenzen, die auch entstanden, weil es den steirischen herbst gab, trigon etc. übrigens! nicht zu vergessen: architektur! ich hab über die jahre immer wieder ganz wichtige impulse von leuten aus der architektur bekommen.
ich würde rückblickend sagen: was die kunst angeht, war die steiermark in all den jahren immer von einer fülle geprägt, von vielfalt, von kontrasten, aber kulturpolitisch eigentlich immer eine art notstandsgebiet, kaum besser als kärnten, das uns als kulturpolitisches sibirien galt.
wir erinnern uns: landeshauptmann jörg haider als landeskulturreferent. eine politische zumutung und ein inhaltlicher mumpitz. durchsichtig, weil halbseiden. so auch landeshauptmann waltraud klasnic als landeskulturreferentin. das hieß bloß: verfügungsgewalt. (wenn man sie zum beispiel mit kulturreferent kurt jungwirth vergleicht, wird klar, was ich meine.)
aber zurück zu den anfängen jenes damals neuen soziokulturellen phänomens, als dessen avantgarde ich leute wie helmut eisendele, charly haysen, alois hergouth, eilfried huth, hannes schwarz, günter waldorf und andere erlebt hab.
auch kräfte wie gerald brettschuh und gernot lauffer („sterz“) waren schon vor uns sehr aktiv und wirksam. die habe ich freilich (im vergleich zur forum-partie) als weit zugänglicher erlebt. szene? ein auch nur annähernd breiteres „wir-gefühl?“ nein. sicher nicht bis mitte der 1980er jahre. höchsten in der betrachtung von außen. innen gesehen: vielfältige lager, manche offener, manche eher hermetisch. manche kooperativ, andere sogar feindselig...
aber ich denke, bis ende der 1980er wird man zunehmend belege finden, die von einer „freien“, wahlweise „autonomen“ iniativienszene handeln. ich bezweifle jedoch, daß wir seit damals je eine art „flächendeckendes wir-gefühl“ in unserem metier zustandegebracht oder auch bloß für nötig gehalten haben. ich neige zur ansicht, sowas lag eher im interesse einer neuen schicht funktionstragender, die aus unseren reihen kam.
initiativenszene V#
das atelier lang, die brücke, die fabrik, das feinkunstwerk & tingeltangel, das grammel, der kulturschutzkeller, das rechbauerstüberl, der schillerhof, das theatercafé, um nur einige der plätze zu nennen, die es uns in den frühen 1980ern möglich machten, einen permanenten fluß von auftritten zu etablieren.so lernten wir einander kennen. so gewannen wir publikum. dabei verzahnten sich verschiedene genres. persönlichkeiten wie berndt luef im jazz oder peter köck in der literatur standen für offenheit und austausch.
manche blieben aus inhaltlichen gründen auf die lagerbildung konzentriert. avantgarde mischt sich z.b. nicht mit unterhaltungsliteratur. solche sachen. andere achteten lieber auf eigene positionsvorteile, riegelten ab, verbargen ihr antichambrieren bei der politik tunlichst etc.
zwischen all dem lagen große gesten, durchzechte nächte, dramen und poesie… aber auch diese überraschenden momente, wie man sie nicht kommen sah. so hatte ich bei meinem statisterie-job im grazer schauspielhaus unter anderem autor christian ankowitsch als kollegen.
der steckte dem schauspieler peter uray, einem mann von erheblicher reputation, daß ich gedichte schreibe. darauf sprach mich uray an und sagte: „bring mir welche.“ offenbar gefiel ihm, was ich schrieb, also meinte er: „da müssen wir was machen.“
so kam es, daß ich im rechbauerstüberl zurückgelehnt zuhören konnte, wie aus meinen gedichten etwas für mich neues wurde. es ist bloß eines der beispiele, wie etablierte leute gelegentlich nachschau hielten, was wir welpen so trieben, und uns dabei unterstützten.
- Feuilleton (Kulturpolitische Annahmen und Behauptungen)
- Vorlauf: Die Solidaritätsfrage (Glossen)
- Fortsetzung: Fragen zur Szene II (Glossen)