Ich bin voller Geschichten#
Von Karin Klug#
Jahrzehntelange Arbeit als Psychologin und Journalistin haben mich das Zuhören gelehrt. Das (Er-) Fragen, das Beobachten, Wahrnehmen und sich einfühlen in andere Leben, andere Gedanken- und Gefühlswelten. In die Höhen und Abgründe der menschlichen Seele.
Ich durfte mit-erleben, mit-fühlen, mich mit-freuen, mit-leiden. Ich bin voller Geschichten. Geschichten von Menschen aus den unterschiedlichsten Lebenswelten. Erzählungen, erinnerte Momente fließen in mir zusammen zu einem unendlich großen Gemenge. Aus dem ich schöpfe. Als Autorin. Als Lyrikerin.
Wo liegen die Grenzen? Zwischen mir und den anderen? Zwischen den vielen Geschichten in meinem Kopf. Und Herzen. In meinen Erinnerungskammern?
Ich weiß es nicht und es spielt auch keine Rolle mehr. Ich bin die Mutter mit Kind. Die Witwe. Der verstoßene Geliebte. Die Hexe. Die Hure. Der Einsiedlermönch. Ich bin Königin und Bettler. Kranke. Sterbender. Kleinkind. Alles, was aus meinen Fingern durch den Stift aufs Papier fließt.
Manchmal staune ich selbst. Woher kommen all die Geschichten? Wie kann ich das wissen, davon erzählen – ohne es je selbst erlebt, erfahren zu haben? Ich wurde schon oft auf meine Texte angesprochen: „Oh, du Arme, das muss ja furchtbar sein!“ Ja, ist es, im Text – aber es ist nicht meine Geschichte.
„Wie kannst du nur so grausam sein, das ist ja schrecklich!“ Ja, ist es, im Text – aber es ist nicht meine Geschichte.
Es ist eine wilde Melange aus Erzählungen, Geschichten, die ich gehört, gelesen, gesehen und wohl unbewusst aufgeschnappt habe. Ein Extrakt aus vielen verdichteten Momenten. Aber bin ich das?
Wer weiß. Vielleicht. Weil wir alle ja Geschichten in uns herumtragen – alte, neue. Erlebte. Noch nie erlebte. Erfundene. Phantasierte. Geträumte. Ersehnte. Unter den Teppich gekehrte.
Die heißesten Themen unserer Vorfahren, vorangegangener Generationen brennen zum Teil noch heute in uns. Was prägt mich? Was macht das mit mir? An welchen Leitsätzen, Glaubensmustern orientiere ich mich? Und wie vermischen sich meine Lebenswelten, meine Geschichten dann noch mit den vielen anderen Lebenswelten, den anderen Geschichten?
Ich bin, wir alle sind voller Geschichten.
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