Marrakesch#
(Szenen von einem Erinnerungsort)#
Von Martin Krusche#
Es gibt Stunden, die sind makellos. Was ihnen aber anhaftet: Sie enden meist vor dem nächsten Sonnenaufgang und man kann sie nicht planen, nicht herbeiführen. Sie ergeben sich. Ich weiß zum Glück schon einiges über solche Stunden. Sie brauen sich zusammen, wenn die Geschichten sehr verschiedener Menschen in Wechselwirkung geraten und niemand darunter ist, der einen Schatten auf solche Verläufe wirft. Dann kann es sich ereignen.
Wann immer ich es erlebt habe, war ich meist mehrheitlich von Menschen umgeben, die ich noch nicht kannte. Ich vermute, in der Begegnung mit dem Fremden liegt eine besondere Möglichkeit für unvergeßliche Stunden. Es löst in uns eine spezielle Aufmerksamkeit aus, die manche in Feindseligkeit verwandeln, andere aber nutzen, um weitergetragen zu werden.
Marrakesch#
Der Klang des Wortes war mir einst ein hinreichender Grund, um einen fixen Eintrag in mir herzustellen, eine verschwommen Notiz, die nie mehr erloschen ist. Es hat über Jahrzehnte angehalten. Also war ich überrascht, das Wort plötzlich bei mir in der Gasse zu finden und manchmal ein Werkstück neben dem Eingang auf dem Gehsteig zu sehen, ein Objekt, das nicht aus unserer Gegend stammt. Andere Formen und Oberflächen, andere Farben. (So machen sie es in den Alpen nicht.)Ich hab noch nie etwas über Marrakesch gewußt. Auch nicht in jungen Jahren, nach der Lektüre des Buches von Elias Canetti, als ich mich von „Masse und Macht“ erholen mußte. Doch so geht es mit der Literatur. Sie bietet uns Sehnsuchts- und Erinnerungsorte an, die sich einprägen, als wäre man dort gewesen.
Ich habe in meiner Bibliothek nachgesehen, hab die markierten Sätze im Buch betrachtet. Ich eigne mir Bücher auf solche Art an. Sie sind voller Zeichen und Unterstreichungen. Ohne diese Spuren eines meiner Lebensabschnitte würde es keinen Sinn ergeben, daß die Bücher bei mir bleiben.
Freilich hab ich den Laden in Gleisdorf bisher nicht betreten, so oft ich daran vorbeigegangen bin. Das hätte den Ahnungsraum meines Erinnerungsortes beschnitten, mit einem möglichen Stück Realität belegt. Da gab es diesen besonderen Satz von Canetti in seinem Buch „Die Stimmen von Marrakesch“. Im Kapitel „Die Rufe des Blinden“ schrieb er: „Ich träume von einem Mann, der die Sprachen der Erde verlernt, bis er in keinem Land mehr versteht, was gesagt wird.“
Ich weiß, daß viele Menschen solche Vorstellungen für seltsam halten. Aber wie soll man anders als mit solchen Träumen Künstler sein? Wie soll man Künstler sein, indem man alles verstanden haben möchte? Ich muß die verbleibenden Rätsel so pflegen, wie andere ihr Haus, ihr Hab und Gut pflegen.
Eintritt in das Ungewisse#
Dann war da ein Tag der Weichenstellung. Natürlich konnte ich nicht ahnen, daß sich nun an meinem Verhältnis zu Marrakesch etwas ändern werde. Ich bin überhaupt kein Mensch der Ahnungen, der Vorausschau, sondern ein Staunender, den dauernd überrascht, was er nicht vorhergesehen hat.Ein Näherkommen auf Umwegen. Über einen Raum, der hinter allem liegt. Ein Raum von Carolina Sales Teixeira. Eine junge Frau, die in Portugal zur Welt kam und in Mosambik aufwuchs. Ihr Atelier ist von einer Seitengasse aus zugänglich. Ihre künstlerische Arbeit reicht durch verschiedene Genres. In manchen Momenten habe ich den Eindruck, man könne ihr beim Denken zusehen, so deutlich reagiert sie auf einen Eindruck.
Hinter dieser Stirn scheint ein weiter Horizont zu liegen, was naturgemäß viel Arbeit macht, ankommenden Neuigkeiten einzuordnen. Ich bin auf die Gesellschaft geistreicher Menschen angewiesen, weil mich die schlichten Gemüter sehr ermüden, wenn ich mit ihnen Zeit verbringen soll.
Wie oft habe ich es erlebt, daß einen lauwarme Leute anfeinden, weil einem ihre Gesellschaft nicht genügt. Es lohnt sich nicht, das näher auszuführen. Sales Teixeira also, noch nicht einmal halb so alt wie ich, aber mühelos auf Augenhöhe flanierend, in manchem Momenten etwas grüblerisch, da sah ich dann zum ersten Mal die Räume, über die man zu ihrem Atelier kommt.
Geöffnete Türen#
Ich erfuhr vor Ort von jenem anstehenden Abend, für den die Türen zum benachbarten Laden namens Marrakesch geöffnet sein werden, das gesamte Raumgefüge sich für eine Ausstellung breit macht. Dabei schrammte ich erneut an so einem Klang entlang, an einem Namen, der für sich schon eine Erzählung ist, eine Andeutung von Kontrasten: Habib Ait Ali Oumansour.Vielleicht mag man sich nicht vorstellen, was bei mir allein der Klang von Worten auslösen kann. Deshalb höre ich gerne Sprachen, von denen ich kein Wort verstehe. Wie der Mann in Canettis Marrakesch-Buch, der von simplen Wortbedeutungen wegkommen möchte.
Zum Beispiel Finnisch. Oder Nahuatl, die erhaltene Sprache der Azteken. Oder Te Reo Maori. Mit dem Arabischen verhält es sich etwas anders, weil ich wenigstens einige Worte kenne und zumindest weiß, daß diese Sprache in vielen verschiedenen Klangfarben besteht.
Ein Abend in Marrakesch. In jenem von Gleisdorf. Dahinter eine Mutmaßungen über jene historische Rote Stadt, in der vor über tausend Jahren Yusuf ibn Taschfin geherrscht hat, der al-Andalus eroberte. Ich erwähne das am Rande, weil unser Europa, wie wir es heute sehen und wie es im Anteil des westlichen Europas sehr wesentlich in der Renaissance entworfen wurde, weil dieses Europa nicht verstanden und beschrieben werden kann, wenn man von Andalusien nie etwas gehört hat. Das ist eine Seite unseres Europas. Es wurzelt über bedeutende Denkanstöße auch in der arabischen Kultur.
Rückblende I: Sarajevo#
Uns geht es mit den Spuren aus der osmanischen Kultur nicht anders. Wie gerne wird angenommen, was wir sind, seien wir ganz aus Eigenem; so als wäre es überhaupt denkbar, daß einem ohne die Vorleistungen anderer Leute auch nur irgendetwas gelingt. (Selbstverständlich denke ich in diesen Tagen Sarajevo und Mariupol zusammen!)Man muß vielleicht im Alltag nicht jedes Wort auf die Waagschale legen. Aber unser Blick auf „Das Fremde“ bleibt allemal befangen. Ich nehme an, konsequentes Reisen kann diese Befangenheit mildern. Ich hoffe, es gibt auch andere Verfahrensweisen, um darin verläßlicher zu werden; also den „Exotismus“ zu meiden, der letztlich immer auch eine Frucht des kolonialen Aufstiegs Europas ist und der rassistische Züge hat.
Arabesken und Odalisken, Chinoiserien, der Mythos vom „Schönen Wilden“, die angeblichen Reden eines Südseehäuptlings als Mittel der gefälligen Zivilisationskritik... Wie viele wohlgemeinten Memes geistern aktuell durch unsere Social Media? Sie zeigen uns die Bildnisse amerikanischer Ureinwohner und der First Nations von Kanada oder andere Indigenas, legen diesen Menschen Sinnsprüche in den Mund, um uns mit „indianischen Weisheiten“ zu behängen. Damit erzählt man bloß von sich selbst und erfährt nichts von der Welt.
Ich hab in der Kunst stets wünschenswerte Irritationen gefunden, die Kontraste, das Überraschende, das Feine, jene Inhalte, die sich nicht salopp aneignen lassen, um auf diese Art ihren Quellen Enteignung zuzumuten. Kulturelle Enteignung. Dabei ist es nicht nötig, andere Kulturen zu plündern, da ihre Inhalte geteilt werden können, ohne daß jemand hinterher weniger hat. Im Gegenteil!
Aber das macht eben den Unterschied. Intention und Achtsamkeit. Auch die Vereinfachung begründet Feindschaft zur menschlichen Gemeinschaft, weil sie der Gleichgültigkeit dient. Vor allem in der Kunst finde ich dann Gelegenheit, das Trennende zu erfahren und dabei zu vermerken, was uns dennoch verbindet. Über die Achtsamkeit zur Fülle…
Eine meiner Erinnerungen solcher Art ist mit der folgenden Zeile überschrieben: „Die Kunst schützt uns vor Gleichgültigkeit“.
Das betrifft ein Gespräch mit dem bosnischen Autor Dzevad Karahasan. Ein Mann meiner Generation, der nur wenige Autostunden von hier beheimatet gewesen ist, dort in seinem Geist und seinem Leben bedroht wurde, als Jugoslawien unterging. Ein Kernsatz aus jenem Gespräch lautete: „Die Kunst schützt uns vor Gleichgültigkeit, der Mensch aber lebt, solange er nicht gleichgültig ist.“ (Die komplette Notiz)
In einem anderen Moment sagte Karahasan zu mir: „Vergangenheit ist immer da. Es sei denn, du hast sie wirklich kritisch verstanden und artikuliert zu einem Bestandteil deiner Tradition und Kultur gemacht.“
Kultur ist also nicht das, was einem durch das Verrinnen der Zeit einfach zufällt, sondern ergibt sich aus einem vorsätzlichen Tun, aus der Auseinandersetzung mit dem, was geschehen ist. Karahasan: „In unserer Zeit wird Kultur auf Zivilisation reduziert. Also Juristerei und Bequemlichkeit. Aber das ist eine verdammte Fälschung. Kultur ist am wenigsten das.“ Es lohnt sich gerade wieder besonders, allein über diese zwei Sätze ausführlicher nachzudenken.
Rückblende II: der Targi#
Es gibt aber auch Begegnungen, da ereignen sich die wesentlichen Anregungen nicht über Worte, über ein Gespräch, sondern über Haltungen und Gesten. Helmut Oberbichler (†), der uns heuer verlassen hat, war ein leidenschaftlicher Reisender, der unterwegs offenbar haltbare Freundschaften schließen konnte. Durch ihn erfuhr ich von Tamascheq, der Sprache der Tuareg. Nie zuvor war mit die untergekommen. Durch Oberbichler sah ich dann auch erstmals Tifinagh, die Schrift dieser ursprünglich Nomaden.So ein Zusammenhang war bis dahin in meinem Denken gar nicht aufgetaucht: Nomaden mit eigener Schriftkultur gegenüber den alten Menmotechniken der oralen Kultur. Aber nun diese andere Ereignisebene. Ich hatte im Dialog mit Kuratorin Mirjana Peitler-Selakov das Projekt „next code: divan“ recht komplex entworfen und umgesetzt. „Idem na divan“ ist eine Floskel vom Balkan: „Ich geh divanisieren“.
Das bedeutet eine Geselligkeit, eine Zusammenkunft von Menschen, um sich auszutauschen. Davon gibt es rund um die Welt abertausend Varianten. Für eine davon lud Oberbichler seinen Freund ein, den Targi Alhousseini Ibra, zu uns ein. Der stellte vor Richard Mayrs Betrieb ein Kohlebecken auf und kochte für uns Tee. Wir haben uns auf dem Gehsteig um ihn herum niedergelassen und was mich angeht, geschahen damals einige wesentliche Dinge jenseits des Sprechens.
Gleisdorf#
Es mag ja sein, daß ich eigentlich hätte ausführlich von jenem Abend am 1. April 2022 erzählen sollen. Carolina Sales Teixeira hatte mich darauf hingewiesen. Malerin Gabi Troester und Keramikerin Elisabeth Saurugg stellten ihre Arbeiten aus. Die verbanden sich mit verschiedenen Teppichen und anderen handwerklichen Gütern des Marrakesch. Susanne Laher, Stephan Weiß und Michael Groschner waren als musikalisches Trio auf dem Set. Versierte Folkies, alt genug, daß sie praktisch alles kannten, was uns in den späten 1970ern und 1980ern musikalisch bewegt hat. (Siehe dazu meine diesbezüglichen Notizen in: "Volksmusik"!)Ich konnte mich in diese Details und Momente verweben, in anregende Gespräche eintauchen, an einem Tisch mit wunderbaren Speisen stranden oder Hans Fischer wiederholt das geleerte Weinglas anvertrauen. Er hatte zur Hand, was ich mochte.
Veronika und Habib Ait Ali Oumansour waren stets an irgendeiner Stelle des komplexen Raumgefüges mit Menschen im Einvernehmen und ich pendelte zwischen den Gesprächen, der Musik und stillen Augenblicken. Vielleicht werde ich später - aufgrund von Erinnerungen - sagen wollen, was das gewesen ist, dieser lange Abend in Marrakesch. Heute weiß ich es noch nicht; muß ich auch nicht, denn ich war ja dort und hab es erlebt.
- Alle Fotos: Martin Krusche
- Prisma: eine Quest
- Strecken und Orte (Die Landkarte der Bedeutungen im Detail)
Postskriptum#
Erinnerungsorte können Sie nicht auf einer Straßenkarte finden. Mit dem Begriff ist im übertragenen Sinn ein geistiger, ein kultureller Ort gemeint, ein Mnemotop. Der französische Historiker Pierre Nora hat diesen Fachausdruck kreiert: „un/le lieu de mémoire“. Es geht dabei um Bezugspunkte in der Erinnerungskultur einer Gemeinschaft.Wir können solche Motive im Sinn von Nora zur Selbstentdeckung nutzen. Das wird entlang eines meiner Lieblingsmotive im Kulturgeschehen möglich: Wir erzählen einander die Welt. Diese Wege bedeuten unter anderem, ich kann auch an Erfahrungen teilhaben, die ich nicht selbst gemacht hab.
Zur erwähnten Begegnung mit der Malerin Carolina Sales Teixeira siehe die Notiz „Running Code“ (Work in Progress)! Die Ausstellung vom April 2022 stand unter dem Titel „Licht Voll Lebendig“ mit Bildern von Gabi Troester, Ton- & Tadelakt-Objekten von Elisabeth Saurugg und Handwerkskunst aus Marrakesch.