Die Gasse#
(Eine lokale Perspektive)#
von Martin KruscheDer Blick aus meinem Küchenfenster führt auf jene Straße, in der ich vor vielen Jahren den ersten Gleisdorfer Wohnsitz hatte. In meinem Archiv zeigt das älteste Foto davon einen jungen Mann, der einige Zeit besonderen Schutz gebraucht hat und in jenen Tagen bei mir oft schweigend vor dem Fenster saß. (Das ist fast 20 Jahre her.)
Nach einer Weile erschien mir dieser Raum wie eine Bühne. Ich begann damit, laufend Fotos zu machen. Im Stadtzentrum zu wohnen handelt davon, daß einen sehr viel an innerstädtischem Leben erreicht. Das sind in hohem Maß Geräuschsituationen. Das sind aber auch bauliche Veränderungen dieses Raumes. Das sind menschliche Umtriebe in allen denkbaren Varianten.
Was ursprünglich ein hölzernes Flugdach war, wurde zu einer betonierten Terrasse. Das bewegte Nachbarn, sich darauf einen Balkon einzurichten. Eine Galerie, vor der ein lebhaftes Programm stattfindet. Blaskapellenaufmärsche, Feuerwehreinsätze, Festivalgäste und Nachtschwärmer, stets wieder Bauarbeiten jeglicher Art.
Mit diesen Blicken aus dem Küchenfenster, diesen seriellen Momenten, erwuchs eine der Erfahrungen, aus denen die Idee für das Langzeitprojekt „The Long Distance Howl“ entstand. Dafür hab ich den Raum Gleisdorf als einer Art der zentralen Bühne markiert, für die ich mir einen laufenden Prozeß vornahm, der zwischen 2003 und 2023 auf das reale Leben der Menschen einwirken solle. Das ist sehr viel konkreter und nuancenreicher geworden, als ich es mir gedacht hätte. Der Raum vor meinem Küchenfester wurde quasi zur Protobühne dieses Geschehens. Das aktuelle Teilprojekt des Prozesses steht unter dem Titel „Tesserakt“.
Ich begreife langsam, daß innerhalb jener Projektdauer (2003 bis 2023) eine komplette Ära geendet hat. Das wird an anderer Stelle noch ausführlicher zu beschreiben sein. Es hatte eine wesentliche Initialsituation 2008/2009 im Kielwasser jener Krisenentwicklung, die im Zusammenbruch von Lehman Brothers ihren Auftakt fand.
Dabei veränderten sich Rahmenbedingungen unseres Kulturbetriebes spätestens Ende 2010 ganz massiv. Den Hintergrund dazu bot der wachsende Erfolg einer Neuen Rechten, die schon in den 1980er Jahren aufgebrochen war, um quer durch Europa Sitze in Gemeindestuben, Rathäusern und Parlamenten zu erringen. Das hat geklappt und wurde lange Zeit völlig unterschätzt.
Im Umbruch von 2014 auf 2015 ist mir ein nächster Schub erinnerlich, durch den sich die Landes- und Gemeindepolitik merklich veränderte; eher zum Nachteil des Kulturgeschehens. In dieser Phase zeigte sich eine irritierende Neuigkeit.
Es gingen nicht bloß weite Teile der Kulturpolitik konzeptionell in das vorige Jahrhundert zurück, auch die Kreativen der Region schlossen sich dieser Bewegung weitreichend an, stellten sich der Zunahme an kommunaler PR-Arbeit zur Verfügung, statt eigenständig kulturpolitische Entwicklungen voranzubringen, denen sich das politische Personal anschließen könnte. Damit hatten sich das kulturelle Klima und das geistige Leben in der Region grundlegend verändert. Nun also der zweite Tag im Jahr 2020 und das Blättern im Archiv…