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Redl, Alfred Redl - Oberst und Doppelagent im alten Österreich#

Von Ernst Zentner

(Oberst Alfred Redl (1864-1913) - Offizier unter Kaiser Franz Joseph)
(Kritische Gedanken)

I. Eines ist vorauszuschicken: Die Monarchie unter Kaiser Franz Joseph war in Wahrheit immer ein Militärstaat gewesen. Ein "normaler" Bürger war Mensch zweiter oder dritter Klasse. Zumindest musste jeder einmal beim Militär gedient haben. Und wenigstens als Pfeifendeckel. Der satirische Roman "Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk" von Jaroslav Hašek deutet das gründlich an (1920-23), und das bis ins Surreale. Der merkwürdige militärische Ehrenkodex fand seinen Widerhall im Buch "Leutnant Gustl" (1900) von Arthur Schnitzler und brachte ihm den Ausschluss aus der k. u. k. Armee. Er verlor seinen Offiziersrang. Joseph Roth schilderte den Verfall der Militärmonarchie in seinem weltberühmten Roman "Radetzkymarsch" (1932). Wichtig noch Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit" (1915-22), das noch unter dem Eindruck des Weltkrieges entstanden war.
Das Martialische und seine Schwierigkeiten hatten Tradition im alten Österreich.
Kritiker warfen Generalissimus Wallenstein vor, er sympathisiere mit den Schweden und wurde im indirekten Auftrag des Kaisers Ferdinands II. 1634 in Eger eliminiert.
Ein Feldherr und Militärtheoretiker namens Raimondo Graf Montecuccoli (1609-1680) sagte einmal: "Würde man jemand nach den zum Kriege notwendigen Dingen fragen, so würde er sagen, es seien diese drei: Geld, Geld, Geld.
Prinz Eugen wurde vorgehalten, er plane ein Komplott gegen Kaiser Karl VI.
Militär warf 1848 die Revolte nieder, was die Beliebtheit auch nicht sonderlich steigerte.
Das Drama Königgrätz verursachte General Ludwig von Benedek aufgrund der anders interpretierten Frage des Kaisers Franz Joseph: Hat eine Schlacht stattgefunden?
Das Militär war in der Monarchie ein Staat im Staate. Kaiser Franz Joseph regierte 68 Jahre und trug stets die Uniform des höchsten Oberbefehlshaber überhaupt. Auf vielen Porträts wurde er so dargestellt.

Major Alfred Redl, 1907
Hier noch Major Alfred Redl, um 1907 - Wie Mata Hari sieht er nicht aus, aber er war wenigstens umtriebig, in der Herbeischaffung von Dokumenten an den Feind. Denn das brachte Geld! - Foto: Wikimedia Commons - Gemeinfrei
II. Alfred Redl wurde 1864 in Lemberg - damals Hauptstadt von Galizien und Lodomerien (Westukraine) - innerhalb einer kinderreichen Familie, als Sohn des Eisenbahn-Oberinspektors Franz Redl und Mathilde, geborene Sternberg (!) geboren. Der junge - katholisch erzogene - Redl besuchte die Kadettenschule Karthaus bei Brünn (Mähren). Seine Leistungen waren herausragend.
Seine Homosexualität musste er verbergen, weil er sonst hinausgeworfen und geächtet worden wäre. Früh litt er an Syphilis, die angeblich ausgeheilt - damals gab es noch keine ordentliche Behandlungsmöglichkeit - und er trotzdem chronisch krank geblieben war.
Lemberg, Innenstadt, vom Rathausturm aus gesehen
Lwów (Lviv bzw. Lemberg, Westukraine, heute - zur Zeit der Monarchie war sie Hauptstadt des Kronlandes Galizien und Lodomerien und ein wichtiges kulturelles und wirtschaftliches Zentrum. Fast 160.000 Menschen lebten dort, 30 Prozent davon waren Angehörige des k. u. k. Militär; hier lebten Polen, Deutsche, Juden und Ruthenen zusammen - Foto: Lestat (Jan Mehlich), Wikimedia Commons - Gemeinfrei
1892-95 war er im Eisenbahnbüro tätig. Hier ging es um Transport- und Aufmarschplanung und das Auskundschaften von gegnerische Bahnstrecken. Endlich Einsatz in mehreren Truppenstäben in Budapest und Lemberg. 1899 erlernte er in Kasan (Tatarstan, Russland) die russische Landessprache. Danach begann 1900 seine Verwendung im k. u. k. Evidenzbureau (Evidenzbüro). Das war salopp gesagt der offizielle militärische Nachrichtendienst der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Diese Abteilung litt weil dem Außenministerium unterstanden ständig unter Geldmangel.
Jedenfalls Redls Karriere ging rasch vonstatten - vermutlich wegen seines wachen Geistes, Sprachenkenntnisse, Fleißes und tiefgreifender Beziehungen? Beförderung 1905 zum Major und im Kundschafterbüro (1907) tätig. Von da an engster Vertrauter zum Chef des Generalstabes.
Adjustierung eines Majors des Generalstabes, 1912 - Foto: Steinbeisser, Wikimedia Commons - Gemeinfrei
Adjustierung eines Majors des Generalstabes, 1912 - Foto: Steinbeisser, Wikimedia Commons - Gemeinfrei
1912 wurde ein gewisser Arthur Giesl von Gieslingen Kommandant des VIII. k. u. k. Armeekorps in Prag. In dieser Funktion holte er in den Rang eines Oberst versetzten Redl in das Korps. Giesl war maßgeblich beteiligt an der Vertuschung der wahren Ursachen des Mayerling-Dramas (1889). Von 1898 an leitete er das Evidenzbüro. Dann wurde er Generalmajor und 1905 Kommandant der angesehenen Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt und endlich Feldmarschallleutnant (1907). Alles was Giesl betraf, vor allem seine Aktivitäten im Geheimdienst, wurden im November 1918 vorsichtshalber vernichtet.
Im Ersten Weltkrieg agierte Giesl glücklos. Sein VIII. Korps erlitt im Feldzug gegen Serbien schwere Verluste.
Arthur Giesl von Gieslingen, Generalsuniform. Carl Pietzner, 1914 - Foto: Wikimedia Commons - Gemeinfrei
Arthur Giesl von Gieslingen, Generalsuniform. Carl Pietzner, 1914 - Foto: Wikimedia Commons - Gemeinfrei

Längst entschied Redl mit den Russen Kontakt aufzunehmen und ihnen wichtige geheime Dokumente zuzuspielen. Die Annahme, dass die Russen mit ihm zuerst Kontakt aufgenommen haben, wurde von den Historikern lange Zeit falsch gesehen. Auch eine Erpressung wegen seiner sexuellen Vorlieben gab es keinesfalls. Er agierte vorsichtshalber verdeckt, übersandte Dokumente und bekam sein Geld auf dem Postwege.
Bei einem Prozess gegen einen italienischen Spion bekam Redl den Auftrag als Experte dabei tätig zu sein.
Fast wäre seine geheimdienstliche Tätigkeit längst aufgeflogen. Er und seine russischen "Freunde" setzten durch geschickte Intrigen einen anderen misstrauischen österreichischen Militär außer Gefecht. Zaristisch-russische Militärattachés wurden vom Kaiser ausgewiesen. Redls früherer "Gegenpart" Oberst Mitrofan Martschenko meinte im Oktober 1907 über ihn bissig: "tückisch, verschlossen, konzentriert und pflichtbewusst, gutes Gedächtnis … Süße, weiche, sanfte Sprache, … eher schlau und falsch, als intelligent und talentiert. Zyniker …"
Aufgrund seiner Kenntnisse der eigenen militärischen Verhältnisse galt Redl jedenfalls als informierter Geheimnisträger. Kein Dokument war ihm zu minder, er fotografierte sogar welche und entwickelte die Aufnahmen selbst. Auch österreichische Spione enttarnte er, die in Russland nicht alle hingerichtet wurden.
Einstige Kriegsministerium in der Wiener Innenstadt, Arbeitsplatz Oberst Redl
Rechts das alte k. u. k. Kriegsministerium in Wien-Innere Stadt, Am Hof. Dort war Redl zehn Jahre lang, bis 1913 tätig gewesen. An dieser Stelle steht heute das Palais einer Bank und ein Kunstmuseum. Abgedruckt in: Die Stunde, 4. Juni 1933, Seite 8 - Foto: Archiv Zentner
Er glaubte sich sicher und agierte leichtsinnig. Eine am Hauptpostamt in Wien lagernde - nicht abgeholte - Postsendung wurde für Redl zum Verhängnis. Der zurückgesandte Brief wurde vom deutschen Nachrichtendienst untersucht (6.000 Kronen als Geldscheine und Adressen lagen darin) und dem Wiener
Major im Generalstab Maximilian Ronge - Porträt von Oskar Brüch, 1915 - Foto: Wikimedia Commons - Gemeinfrei
Major im Generalstab Maximilian Ronge - Porträt von Oskar Brüch, 1915 - Foto: Wikimedia Commons - Gemeinfrei
Evidenzbüro vorgelegt. Major (im Generalstab) Maximilian Ronge ließ einen anderen fingierten Brief über Berlin nach Wien schicken und das Hauptpostamt von der Staatspolizei überwachen. Mit Erfolg. Im Mai 1913 wurde der Spion enttarnt.
Damals herrschte seit der Bosnischen Annexionskrise in höheren Armeekreisen eine versteckte Hysterie. Offenbar rechnete man mit einem Vergeltungsschlag und versuchte alles Mögliche mittels entsprechender Vorbereitung für das Schlimmste gewappnet zu sein.
Für den Chef des k. u. k. Generalstabs, Franz Conrad Graf von Hötzendorf bedeutete diese Angelegenheit ein einziges Ärgernis und forderte eine strikte Geheimhaltung ein. Er argwöhnte einen daraus resultierenden Prozess, Verstrickung ranghoher Offiziere und eine drohende Amtsenthebung. Vertuschung war angesagt. Offenbar durfte der Kaiser auch davon nichts erfahren?
Franz Graf Conrad von Hötzendorf
Franz Conrad von Hötzendorf, Chef des k. u. k. Generalstabs verlangte absolute Geheimhaltung in dieser Angelegenheit; nebenher sei erwähnt, dass Conrad als ein unbeugsamer Verfechter der Expansionspolitik Österreich-Ungarns galt; dazu galt er als zweithöchster Mann nach dem Kaiser. Man sah in ihm schon den zweiten Prinz Eugen. Allerdings hatte sich der ranghohe Militär im Endeffekt völlig übernommen. Später behauptete er, er wollte die Monarchie retten. Die moderne Geschichtsforschung sieht in ihm einen Kriegstreiber ... Um 1910? - Foto: Wikimedia Commons - Gemeinfrei
Oberst Redl logierte im Hotel Klomser (Palais Palais Batthyány-Strattmann, Herrengasse 19 / Bankgasse 2). Dort sollte er durch eine dreiköpfige Delegation verhaftet werden. Er gestand seine Vergehen und beendete später sein Leben.
Zuvor stundenlange Befragung. Endlich lieferte er eine schriftliche Bestätigung seines Austritts aus der Bewaffneten Macht, wodurch ein militärisches Begräbnis entfiel. Er starb als Nichtmilitär. (Eigentlich ein bitterer Nachgeschmack, wie das k. u. k. Militär einen normalen Bürger und Steuerzahler angesehen hatte.)
In diesem barocken Palais, damals Hotel und auf Zimmer 1 beging Oberst Redl Selbstvernichtung
Palais Palais Batthyány-Strattmann, Bankgasse 2 / Herrengasse 19, Wien-Innere Stadt. Früher war hier das Hotel Klomser - Foto: Gryffindor, Wikimedia Commons - Gemeinfrei
Darstellung auf dem Titelblatt der illustrierten Kronen Zeitung, 31. Mai 1913. Neben dem Schreibtisch links unten die Waffe, mit der sich Redl getötet hatte. Eine 'Browning'. Die ganze Szenerie ist völlig auf den Geschmack der breiten Masse zugeschnitten. Denn der Leichnam wurde laut internen Bericht liegend neben dem Kanapee aufgefunden! - Foto: Archiv Zentner
Darstellung auf dem Titelblatt der illustrierten Kronen Zeitung, 31. Mai 1913. Neben dem Schreibtisch links unten die Waffe, mit der sich Redl getötet hatte. Eine "Browning". Die ganze Szenerie ist völlig auf den Geschmack der breiten Masse zugeschnitten. Denn der Leichnam wurde laut internen Bericht liegend neben dem Kanapee aufgefunden! - Foto: Archiv Zentner
III. Mit der Erscheinung eines Spion wie Alfred Redl angeblich gewesen sein soll, betrat die Monarchie eigentlich Neuland. Seine Vorliebe für junge Offiziere und Verbreitung heikler militärischer Geheimnisse soll der Vorwand für seinen Freitod gewesen sein. Zeitgenossen hatten an ihm keinerlei homoerotische Emotionen bemerkt.
Bei der Obduktion kam zutage, dass Redl an einer schweren Erkrankung litt, die ihn sowieso das Leben hätte kosten können. Wenn das wahr war?
Erstaunlich war der Umstand, dass damals niemand wirklich nachdachte, wie so ein Mann wie Redl seinen aufwendigen Lebensstil gleich einem Aristokraten finanziell bestehen konnte. Er leistete sich Luxus wo er nur konnte. Besaß zwei teure Autos, hielt eine Dienerschaft, zahlte die Apanagen an seine jüngeren Liebhaber. Bezahlte Damen aus der Halbwelt. Unternahm Dienstreisen. Die Begründung, er habe reich geerbt, stimmte jedenfalls nicht. Und seine Erbschaft war viel geringer als angegeben. Das Geld bekam er von den Geheimdiensten Russlands, Frankreichs und Italiens. Redl gelang seinen "Jahresverdienst" auf 50.000 Kronen zu steigern. Zeitgenossen vermuteten sogar noch höhere Beträge.
K. u. k. Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, Staatenkarte, 1899
K. u. k. Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, Staatenkarte 1899 - D. H. Lange "Volksschul-Atlas", Dreihundertste Auflage, George Westermann in Braunschweig, 1899 - Foto bzw. Scan: Olahus, Wikimedia Commons - Gemeinfrei - Rechts oben Lemberg, der Geburtsort Oberst Redls, und gleich daran die Grenze zum Zarenreich
Als Major hatte Redl einen Monatsverdienst in Höhe von 400 Kronen; als er Hauptmann war, besaß er in der Wiener Laudongasse eine große Wohnung, die elegant, wertvoll und vornehm ausgestattet war. Dazu besaß er unweit von Krakau eine Villa, natürlich in Nähe zum Zarenreich, und eine zweite bei Neulengbach.
Waffenrock eines Hauptmanns des k.u.k Generalstabes, 1912 - Foto: Steinbeisser, Wikimedia Commons - Gemeinfrei
Waffenrock eines Hauptmanns des k.u.k Generalstabes, 1912 - Foto: Steinbeisser, Wikimedia Commons - Gemeinfrei
Manchmal verschwendete er in einem Monat Unsummen, die dem Jahresbudget des Evidenzbüros entsprachen!
Historiker vertraten immer verschiedene Meinungen: Einer glaubte Redl habe mit dem Verrat wichtiger Dokumente an das Zarenreich, die ersten ungünstigen militärischen Situationen der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg verantwortet. Ein anderer meinte, das hätte sowieso keinen Einfluss erzielt und aufgrund des militärischen Potentials Österreich-Ungarns hätte Russland leichtes Spiel aufgeboten.
Nach der Obduktion wurde der Körper als ziviler Leichentransport ohne Begleitung weggeschafft. Das Grab am Wiener Zentralfriedhof wurde von erbosten Zeitgenossen geschändet und viel später 1944 von den Nationalsozialisten geschliffen und neu belegt. Die sterblichen Überreste liegen noch immer dort.
Merkwürdig ist bloß noch eines: Lange nach dem Ableben des Oberst wurde aus dem besagten Evidenzbüro weiterhin Informationen an die Russen geliefert … [lt. M. Rauchensteiner 2003]
Der Spion hatte kein Vermögen hinterlassen. Die Einrichtung seiner Wohnung und eine Villa wurden versteigert.
Historiker und Kenner dieser Affäre einst und heute vermuten folgendes: Redl war ein Doppelagent mit Erlaubnis des Generalstabes, spielte den Gegner Falschinformationen zu und dafür erhielt gegenteiliges Informationsmaterial. Das zehn Jahre lang. Redl wurde die Erhebung in den Adelsstand versprochen und das Versprechen wurden nicht eingehalten. Fazit: Er hatte Einblick in wahrhaft echtes Material und dadurch ein missliebiger Mitwisser geworden. Seine Selbstvernichtung erfolgte auf Befehl, und somit ein Mord, an dem sich niemand die Hände dreckig gemacht hatte. Assoziationen zu Rommel 1944 werden hier wach.
Militärattaché Oberst Michael Zankiewitsch. Während des Falls Redls floh dieser nach St. Petersburg. Er und sein Amtsvorgänger Mitrofan Martschenko fungierten als diskrete Kontaktpersonen. Abgedruckt in: Die Stunde, 8. Juni 1933, Seite 8 - Foto: Archiv Zentner
Militärattaché Oberst Michael Zankiewitsch. Während des Falls Redls floh dieser nach St. Petersburg. Er und sein Amtsvorgänger Mitrofan Martschenko fungierten als diskrete Kontaktpersonen. Abgedruckt in: Die Stunde, 8. Juni 1933, Seite 8 - Foto: Archiv Zentner
Die sexuelle Orientierung Redls war nur Vorwand - obwohl damals drakonische Strafen sie einschränken sollten - und es gab einen bekannt homophilen Erzherzog Ludwig Viktor von Habsburg-Lothringen (eigentlich bi-sexuell). Das frühere k. u. k. Militär galt stets als Männergesellschaft mit Ehrenkodex, der wenn es um Rivalität und Eifersucht, Egoismus und Ressentiments, um Geld ging, im Endeffekt nichts wert war.
Diese Affäre nahm so einem Umfang an, dass sogar das Abgeordnetenhaus lautstarke Sitzungen darüber abgehalten hatte. Die Kritik rankte sich um das Problem, dass Redl nicht vor ein ordentliches Gericht gestellt wurde. Und wie kam er, der gewohnheitshalber keine Waffe trug, zu einem Revolver?
Andererseits: Was hätte das Abgeordnetenhaus gegen einen Machtblock wie das k. u. k. Militär nun mal war, wirklich unternehmen können?
Oberst Redl wurde einst als "Totengräber der Monarchie" bezeichnet. Aber das war er nicht. Die Totengräber des Vielvölkerstaates waren Nationalismus, fehlende Erneuerung, Ressentiments, polizeistaatliche Kontrolle, sinnentleerte Expansionspolitik usw. … Oberst Redl war bloß eine bedeutungslose Figur im Spiel der Militärführung, die einen Kriegsgrund suchte und nach den dramatischen Ereignissen von Sarajewo fand.
In der allgemeinen österreichisch-ungarischen Geschichte nimmt diese Affäre nicht gerade einen großen Stellenwert ein. Ganz ehrlich: Staaten haben von jeher einander ausspioniert und Redl war nur die Spitze eines Eisberges - 1912 sank die Titanic. Noch gegen Ende des Großen Krieges vernichtete der Militärgeheimdienst manches Dokument. Der Akt über Redl blieb erhalten. Allerdings lückenhaft. Das sagt schon alles! Nun das ist über ein Jahrhundert her.
Die Affäre Oberst Redl war eine Blamage für die Militärführung ohne Beispiel. Der ideale Stoff für Literatur und Film.[1] Eine Vertuschungsaktion schlug beinahe fehl. Viele ranghohe Offiziere waren darin ungewollt verwickelt. An die Wand gestellt oder ehrlos gehängt werden, mochte niemand.
Der berühmte rasende Reporter Egon Erwin Kisch machte diese Affäre publik und die Militärführung versuchte alles kleinzureden. Für Kisch war das Erhöhung seines Ansehen als Journalist - aber auch er durfte nicht so direkt berichten.
Mir bleibt nichts erspart!
Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn, in seiner gewohnten Militäruniform, Ölgemälde, um 1910; Bundesmobilienverwaltung - Foto: Wikimedia Commons - Gemeinfrei
Hauptmann Alfred Redl
Hauptmann Redl. Er informierte den Kaiser höchstpersönlich. Zeitgenössische Photographie, um 1900-05? Abgedruckt in: Die Stunde, 27. März 1928, Seite 8 - Foto: Archiv Zentner
Der Kaiser erfuhr das alles aus der Zeitung!
Redl musste oft beim Kaiser in Audienz erscheinen, schon als Hauptmann berichtete er über Spionagefälle dem Monarchen. Jedenfalls war Franz Joseph über Oberst Redls Wirken und Ende zutiefst schockiert. Später verlangte Seine Majestät Reformen im Generalstab. Einen Rücktritt Conrads von Hötzendorf lehnte er kategorisch ab.
Franz Ferdinand von Österreich-Este, um 1914 - Fotografie von Ferdinand Schmutzer - Foto: Wikimedia Commons - Gemeinfrei - Erzherzog Franz Ferdinand war um ein Jahr älter als Oberst Redl. Dreizehn Monate später erlag der Thronfolger einem Attentat
Franz Ferdinand von Österreich-Este, um 1914 - Fotografie von Ferdinand Schmutzer - Foto: Wikimedia Commons - Gemeinfrei - Erzherzog Franz Ferdinand war um ein Jahr älter als Oberst Redl. Dreizehn Monate später erlag der Thronfolger einem Attentat
Nach der Affäre Oberst Redl meinte der Kaiser bloß: "Das ist also die neue Zeit? Und das die Kreaturen, die sie hervorbringt? In unseren alten Tagen war so etwas nicht einmal denkbar gewesen!"[2]
Der Kaiser galt als bekennender Ehrenmann alten Stils. Allerdings sein staatsverantwortliches Umfeld nahm das offenbar nicht so ernst.
Kaiser Franz Joseph akzeptierte mühevoll die Vorgangsweise in dieser Causa, ebenso sein Thronfolger Franz Ferdinand. Letzterer missbilligte dieser die Einflussnahme durch Conrad von Hötzendorf.
Der greise Kaiser ritt nur ein Jahr darauf Österreich-Ungarn in einen großen Weltenkonflikt, der 17 Millionen Menschenleben kostete …


Ein Nachwort - Eine persönliche Meinung
Ein anderer Gesichtspunkt im Fall Redl, nach hundert Jahren, wäre vielleicht der Umstand, dass der Oberst allein schon durch seine Nähe zu Kaiser Franz Joseph und zu Thronfolger Franz Ferdinand einen gewissen Einfluss entwickelt haben könnte und daher im Generalstab unbequem geworden ist. Oberst Alfred Redl war ein intellektuell hochstehender Mann gewesen und die Zahl seiner Feinde könnte von Tag zu Tag zugenommen haben. Was tun Feinde? Sie suchen Schwachstellen, aber die wirklich hieb- und stichfest sind. Jeder Mensch hat Leidenschaften und Schwächen. Und der Zufall - ich glaube an keinen Zufall - half mit Redl zu beseitigen. Die Ehre Österreich-Ungarns, der Armee war gerettet. Der Weg in den Untergang war auch gesichert …
Das erste Opfer des Weltenkonfliktes war offiziell Franz Ferdinand. Die Selbstvernichtung des Oberst Redl reflektiert den Amoklauf einer sich aufbäumenden Riesenmonarchie.

Kleine Zeittafel mit Gewichtung auf Alfred Redl

1807-1867 Kaisertum Österreich
1848-1916 Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn
14. März 1864 Alfred Redl in Lemberg geboren
1866 Österreich erleidet Niederlage im Deutschen Krieg gegen Preußen und wird bei der Bildung eines deutschen Nationalstaates ausgeschlossen
1867 Dualistischer Ausgleich - k. u. k. Doppelmonarchie Österreich-Ungarn - Deutsche, Ungarn und Slawen dennoch unzufrieden - Beginn einer Instabilität in der österreichischen Reichshälfte
1867-74 Kulturkampf in der österreichischen Reichshälfte
14. Mai 1869 Reichsvolksschulgesetz
1870-71 Deutsch-Französischer Krieg
1873 Mai 01 - November 02 Wiener Weltausstellung
1873 Mai 08/09 - Beginn des internationalen Börsenkrachs (Gründerkrach)
1879-83 k. k. Kadettenschule Karthaus bei Brünn, Mähren
02. Juni 1882 Gründung des "Deutschnationalen Vereins"
1883 Beförderung zum Kadett-Offiziersstellvertreter
1883-87 Infanterieregiment Nr. 9 in Lemberg
07. März 1887 Gründung des "Christlichsozialen Vereins"
1887 Beförderung zum Leutnant
01. Januar 1889 Victor Adler vereinigt die Sozialdemokraten in Hainfeld
1889 Januar 30 Tragödie von Mayerling
1892-94 k. u. k. Kriegsschule (Ausbildungsstätte für Offiziere des Generalstabsdienstes)
1894-95 Eisenbahnbüro (Generalstab)
1896 Thronfolger wird Erzherzog Franz Ferdinand (1863-1914)
08. April 1897 Dr. Karl Lueger wird Bürgermeister von Wien
1898-99 Frankreich. Dreyfus-Affäre
10. September 1898 Kaiserin Elisabeth von Österreich und Königin von Ungarn in Genf ermordet
1899 Beförderung zum Hauptmann und ins Evidenzbüro versetzt - Aufenthalt im russischen Kasan, Sprachkurs
1899 (1900) Sigmund Freuds Buch "Die Traumdeutung" erscheint
1900 Evidenzbüro
1902/03-1913 Spionagetätigkeit Redls als russischer Agent
29. September 1903. Kaiser Franz Joseph von Österreich und Zar Nikolaus II. von Rußland treffen einander im steirischen Jagdschloss Mürzsteg: Erhaltung des Status quo auf dem Balkan und Einigung über Mazedonien
1904-05 Russisch-Japanischer Krieg
1905 Beförderung zum Major
1906 in der österreichischen Reichshälfte wird das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht eingeführt
1907 Kundschafterbüro
1908 Bosnische Annexionskrise
1908-14 Sprachen- und Machtkampf zwischen Tschechen und Deutschen in Böhmen und im Wiener Reichsrat
14. April 1912 Untergang des britischen Schnelldampfers "Titanic" im Nordatlantik nach Kollision mit einem Eisberg
1911-1916 k. k. Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh (1916 wegen seiner diktatorischen, kriegsbefürwortenden Politik vom Sozialdemokraten Friedrich Adler [Sohn des Parteivorsitzenden Victor Adlers] erschossen)
1912 Oberst - Abkommandiert zum VIII. k. u. k. Armeekorps in Prag
1912-13 Erster Balkankrieg (Türkei, Bulgarien, Serbien, Griechenland)
25. Mai 1913 Alfred Redl in Wien gest. (Freitod)
1913 Zweiter Balkankrieg (Bulgarien, Serbien, Griechenland, Rumänien, Türkei)
21. Juni 1914 Bertha von Suttner (österr. Pazifistin, Friedensforscherin und Schriftstellerin, 1905 Nobelpreis) gest.
28. Juni 1914 Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo ermordet
1914 Julikrise
28. Juli 1914 Kriegserklärung - (Erster) Weltkrieg bis 1918


Ernst Zentner 2020-2022
Anmerkung
[1] "Oberst Redl" (mit Robert Valberg, Stummfilm, AUT 1925); "Spionage" (mit Ewald Balser, Oskar Werner, Regie Franz Antel, AUT 1955. Im gleichen Jahr spielte Balser in einem anderen Film Erzherzog Franz Ferdinand!); "Oberst Redl" (mit Klaus Maria Brandauer, Regie István Szabó, HUN/AUT 1984, eher fiktiv denn historisch)
[2] lt. Alexander Sixtus von Reden - Josef Schweikhardt: Eros unterm Doppeladler. Eine Sittengeschichte Altösterreichs. Wien 1993, 68?
Quellen (Auswahl)