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Politik am Ring: Ein Europa - eine Stimme?#

Parlamentsfraktionen diskutieren über die Haltung der EU-Mitgliedstaaten im Ukrainekrieg#

Politik am Ring: Ein Europa - eine Stimme?
Video: Parlamentsdirektion (18.10.2022)

Wien (PK) - Zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine traten die EU-Mitgliedstaaten noch weitgehend geschlossen nach außen auf. Jetzt steht der Winter vor der Tür, die Themen Teuerung, Flucht und Migration rücken wieder stärker in den Vordergrund und es machen sich nationalstaatliche Reflexe und Alleingänge bemerkbar. Die Einigkeit gegenüber Moskau bekommt Risse. Kommissionspräsidentin von der Leyen will Mitgliedstaaten, die aus der gemeinsamen Linie ausscheren, wirtschaftlich unter Druck setzen. Der deutsche Kanzler stellt das Einstimmigkeitsprinzip in der europäischen Außenpolitik infrage.

Wie sieht die Zukunft der EU aus? Kann Europa außenpolitisch mit einer Stimme sprechen? Und soll es das überhaupt?#

Darüber diskutierten gestern in der Internet-TV-Sendung Politik am Ring unter der Moderation von Gerald Groß Vertreter:innen der fünf Parlamentsfraktionen, Raffaela Schaidreiter, Leiterin des ORF-Korrespondentenbüros in Brüssel, sowie Patrick Müller, Professor für European Studies an der Universität Wien.

Unterstützung oder Zurückhaltung: Österreichs Rolle in der EU-Außenpolitik#

Beim gestrigen EU-Außenministerrat wurden eine Ausbildungsmission für ukrainische Soldat:innen sowie weitere 500 Mio. Euro für Waffenlieferungen beschlossen. Für SPÖ-Abgeordneten Harald Troch, Mitglied des Außenpolitischen Ausschusses, zeigt die "konstruktive Enthaltung" Österreichs bei der Abstimmung über die militärische Hilfe, dass es für neutrale Staaten in der EU auch jetzt schon Möglichkeiten gebe, in solchen Situationen zu reagieren. Weitere Einschränkungen des Einstimmigkeitsprinzips seien also nicht nötig. Österreich stehe den anderen Staaten bei der Unterstützung der Ukraine auch im sicherheitstechnischen Bereich nicht im Wege, liefere aber selbst keine Waffen, wie es der Neutralität entspreche. Das Verhalten des Außenministers sei also korrekt gewesen.

Bundesrat Johannes Hübner, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, entgegnete, die Ausbildungsmission sei ein "weiteres Drehen an der Eskalationsschraube". Nach acht Monaten Krieg solle sich die EU, die sich ja selbst als größtes europäisches Friedensprojekt verstehe, doch vielmehr fragen, wie man zu einem Waffenstillstand und einer Annäherung der Kriegsparteien kommen könne. Dass die EU aber in den Vordergrund stelle, einen Kompromiss zulasten der Ukraine zu verhindern, sei "eine schwache Sache". Dass man sich durch wirtschaftliche Sanktionen und das Gewähren von Überflugsrechten de facto einer kriegsführenden Partei angeschlossen habe und sich damit aus der Vermittlerrolle ausgeschlossen habe, sei kein großer Erfolg der österreichischen Außenpolitik.

Hübner selbst habe an der Eskalationsschraube gedreht, als er 2014 die Krim besucht habe, gab Helmut Brandstätter, außenpolitischer Sprecher der NEOS, zu bedenken. Europa hätte schon 2014 klare Sanktionen gegen Russland beschließen sollen. Es gehe um die Sicherheit der Menschen, auch um die der Österreicherinnen und Österreicher. Die Schweiz spreche mittlerweile von einer kooperativen Neutralität und vertrete die Ansicht, dass sie die eigene Sicherheit nur in Kooperation mit anderen Ländern sicherstellen könne. Brandstätter unterstrich dies: Kein westeuropäisches Land sei sicher vor dem Diktator Putin. Man müsse daher auch in Österreich gerüstet sein, das sei man im Moment aber nicht.

Die Vermittlerposition Österreichs werde überschätzt, widersprach auch Michel Reimon, Europasprecher der Grünen, dem FPÖ-Bundesrat. "Mozartkugeln, Lipizzaner und die Vermittlerposition in den 1980ern" seien Teil des Selbstbildes Österreichs, Letzteres sei aber eine Legende:

Wien sei zwar der Ort gewesen, an dem verhandelt wurde, aber Österreich habe "nicht die Power gehabt", groß zu vermitteln und Frieden herzustellen. Auch heute habe man kein wesentliches Vermittlungspotenzial. Was die militärische Grenzverschiebung in Europa betreffe, so habe man eine solche nicht von ungefähr auch in Ex-Jugoslawien nicht akzeptiert. Tue man das jetzt in der Ukraine, zahle es sich künftig für jeden anderen aus, in einen Krieg zu gehen. Das könne man daher so nicht zulassen.

Der Grünen-Abgeordnete machte schließlich seine Kritik an Hübner deutlich: Dieser sitze hier als "russischer Agent und Vertreter Putins". Die FPÖ mache seit über einem Jahrzehnt russische Politik in österreichischen Institutionen und setze sich für Putin ein. Es gehöre zur "politischen Hygiene", immer wieder darauf hinzuweisen. Hübner konterte, Reimon entziehe sich Sachdiskussionen prinzipiell und "ziehe Totschlagargumente aus der linken, schmutzgefüllten Tasche". Man müsse die Tatsachen sehen, bevor man sage, Putin werde über alle herfallen, Österreich müsse daher die Neutralität aufgeben, der Nato beitreten und sich den USA noch mehr annähern: De facto habe Russland ein Militärbudget, das nicht größer sei als jenes von Frankreich, könne nicht einmal die Ukraine besiegen, und die Frontlinie sei 1000 Kilometer entfernt.

ÖVP-Abgeordneter Nico Marchetti, Mitglied des Außenpolitischen Ausschusses, machte geltend, dass viel an der Diskussion innenpolitisch, parteipolitisch aufgeladen sei. Man solle den Krieg, der für die nächsten Jahrzehnte Europas entscheidend sei, aber aus der internationalen Perspektive kommentieren, und die Neutralität ebenso. In Finnland sei der Impuls in Richtung Nato-Beitritt aus der Bevölkerung gekommen, die Bedrohungssituation sei dort aber aufgrund der Grenze zu Russland einen andere.

Die Leiterin des ORF-Büros in Brüssel, Raffaela Schaidreiter, griff die Ausführungen von FPÖ-Bundesrat Hübner auf: Am EU-Gipfel in Prag Anfang Oktober hätten hinter den Kulissen einige Staatschefs darauf gedrängt, dass die EU in einem Dokument festhalte, dass sie auf einen Waffenstillstand dränge und Gespräche am Verhandlungstisch fordere. Einige Mitgliedsländer wie die baltischen Staaten oder Polen hätten jedoch den Standpunkt vertreten, dass die EU diese Worte nicht in den Mund nehmen dürfe, da es der Ukraine vorbehalten sei, dies gegebenenfalls zu fordern, und man andernfalls Russland entgegenkomme. Man habe in Brüssel erlebt, wie schnell 27 Länder die ersten Sanktionen beschlossen hätten, jetzt werde es aber zunehmend schwieriger, sich auf neue Pakete zu einigen.

Patrick Müller, Professor für European Studies an der Universität Wien und an der Diplomatischen Akademie, führte aus, dass es nicht erst jetzt erste Risse gebe, sondern dass es für die EU von Anfang an nicht einfach gewesen sei, diese Vielzahl an schwierigen Entscheidungen zu treffen. Die wirkliche Zerreißprobe stehe bevor, wenn jetzt im Winter energiepolitische Entscheidungen anstehen und die Teuerung zum Tragen komme. Europäische Versuche, zu verhandeln, habe es gegeben, zum Beispiel von Macron, doch Putin sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesprächsbereit.

Divergierende Meinungen über den Umgang mit EU-Skepsis#

Angesprochen auf das Thema EU-Skepsis, appellierte NEOS-Abgeordneter Brandstätter an alle, der Bevölkerung stärker zu vermitteln, wie sehr Österreich von der EU profitiere, etwa wirtschaftlich und sicherheitspolitisch. Auch SPÖ-Mandatar Troch bekannte sich zur EU. Die Erfahrung in zwei Weltkriegen habe in Österreich eine Skepsis gegenüber Militärbündnissen geschaffen, und die Neutralität solle im Rahmen der EU zu neuem Leben erweckt werden. FPÖ-Bundesrat Hübner gab Troch recht: Im Kalten Krieg sei es ein Risiko gewesen, neutral zu sein, und gerade jetzt, in einer Zeit, in der Militärbündnisse eigentlich abgeschafft werden sollten, solle man sich der Nato annähern? Hübner stellte auch die Frage, ob es diesen Konflikt in der Ukraine überhaupt gegeben hätte, wenn nicht Verhandlungen geführt worden wären, die Ukraine in die Nato zu integrieren. Wenn man pro EU sei, müsse man die EU kritisieren dürfen, dies sei auch gegenüber der Bevölkerung ein konstruktiver Vorgang, gab ÖVP-Mandatar Marchetti in Richtung Abgeordnetem Brandstätter zu bedenken. Den nicht funktionierenden Außengrenzschutz und den damit verbundenen alltäglich Rechtsbruch müsse man kritisieren, die aktuelle gemeinsame Einigung auf Sanktionen und die Unterstützung der Ukraine sei aber positiv. Reimon betonte, man müsse dahin kommen, europäische Politik als Innenpolitik zu diskutieren. Dies funktioniere unter den Jungen, für die die EU selbstverständlich sei, besser als unter jenen Menschen, die den Beitrittsprozess miterlebt hätten.

Gemäß dem Experten für Europäische Integration Müller sei die wesentliche Frage, welche Rolle Österreich angesichts sich ändernder Realitäten spielen wolle und was das Ziel sei. Es sei wichtig, die Resilienz Österreichs zu stärken, etwa durch Diversifizierung in Sachen Energie. Der Bevölkerung gegenüber müsse man klar kommunizieren. Eine qualitativ hochwertige sicherheitspolitische Debatte könne Sicherheit in der Bevölkerung schaffen.

Weitgehende Einigkeit der Diskutant:innen zur Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips#

Brüssel-Korrespondentin Schaidreiter wies darauf hin, dass das Einstimmigkeitsprinzip in der EU ohnehin nur mehr in wenigen Bereichen gelte, etwa in der Sicherheits- und Außenpolitik. An vielen anderen Stellen sei es durch Entscheidungen mittels einer qualifizierten Mehrheit ersetzt worden. Von ÖVP, SPÖ, FPÖ und Grünen kamen klare Signale gegen die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in den noch verbliebenen Bereichen, vor allem in der Sicherheits- und Außenpolitik. Das Einstimmigkeitsprinzip sei für Österreich auch deshalb wichtig, weil es als kleines Land bei der Lösungsfindung keine informelle Macht, etwa aufgrund wirtschaftspolitischen Einflusses, habe. NEOS-Abgeordneter Brandstätter äußerte sich dazu nicht explizit.

EU-Erweiterungsperspektive wichtig, jedoch nicht ohne Reformen#

Sollten jene Staaten, die jetzt im Gespräch seien, in einem schnellen Prozess Mitglieder werden, bräuchte man Mechanismen für den Fall, dass sich Staaten nicht mehr wertekonform verhalten, führte Experte Müller einleitend aus. Abgeordneter Brandstätter wies darauf hin, dass selbst ukrainische Abgeordnete, mit denen er in Kontakt stehe, keinen Fast Track in die EU wollten, sondern den Prozess der Beitrittsgespräche dazu nutzen wollten, Probleme wie jenes der Korruption abzubauen. Es existiere derzeit Rechtswillkür in der EU, konstatierte Bundesrat Hübner, da in Rechtsstaatlichkeitsberichten nicht die von Korruption geplagten Staaten wie Griechenland, Süditalien, Rumänien oder Bulgarien in den Vordergrund würden, sondern jene Staaten, die wesentlich geringere Probleme hätten, aber keine "politisch korrekte, gewünschte Regierung".

Abgeordneter Marchetti bezog sich vor allem auf den Westbalkan, dessen Integration "geostrategisch extrem wichtig" sei - man solle den Beitritt der Länder dieser Region nicht überstürzen, aber auch nicht blockieren. Auch Abgeordneter Troch stellte den Beitritt der Westbalkanländer in den Vordergrund. Als Kommissionspräsidentin von der Leyen der Ukraine "quasi einen Blankoscheck zum EU-Beitritt" ausgestellt habe, sei das "eine Watsche ins Gesicht" der Westbalkanländer gewesen, die schon lange auf konkrete Verhandlungen warten. Der Westbalkan gehöre nahe an die EU herangeführt, schloss auch Abgeordneter Reimon seine Ausführungen, die Union müsse vor einer weiteren Erweiterung jedoch reformiert werden.