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Helga Maria Wolf

Mut zum Risiko#

Foto: Helga Maria Wolf

Bei der gebauten Umwelt erscheinen Tradition und Innovation auf den ersten Blick als unvereinbare Gegensätze. Dies ändert sich bei näherer Betrachtung. Traditionelle Materialien wie Lehm werden wieder entdeckt, und nicht nur nostalgische Städter erwecken alten Bauernhäuser zu neuem Leben. "Achte auf die Formen, in denen der Bauer baut, denn sie sind der Urväter Weisheit geronnene Substanz", meinte der Architekt und Kritiker Adolf Loos (1870-1933). Ein halbes Jahrhundert nach Loos (1981) entstand entstand die Aktion "Niederösterreich schön erhalten, schöner gestalten". Sie sollte, so Erwin Pröll, damals Landeshauptmann- Stellvertreter, Bewußtwerdungsprozesse einleiten, Zusammenhänge aufzeigen und helfen, diese gestalterisch umzusetzen. In drei Jahrzehnten änderte sich die Zielsetzung der Aktion. Jetzt sind auch energieoptimiertes Bauen, Ortserweiterungen und moderne Baukultur Themen. Die zuständige Abteilung im Amt der Landesregierung setzt zahlreiche Initiativen: alljährlich nehmen 3500 Interessierte an den Veranstaltungen ihrer Gestaltungsakademie teil. Ebenso viele holen sich konkrete Informationen beim Beratungsservice. Die vierteljährlich erscheinende 60-seitige Gratis-Broschüre bringt - in einer Auflage von rund 90.000 Exemplaren Anregungen und Beispiele. Alljährlich werden besonders gelungene Projekte mit der "Goldenen Kelle" ausgezeichnet.

Zu diesen zählt der Um- und Zubau eines Bauernhauses in Haschendorf (Gemeinde Ebenfurth, Bezirk Wiener Neustadt). Es war ein typischer Streckhof mit einer Reihe schmaler, aneinander gereihter Wohnräume und anschließendem Stall. In dieser Form entsprach es nicht den Wohnbedürfnissen von Norbert und Gabriele Gregor. In vielen Gesprächen zwischen den Bauherren, Baumeister und Architekten kristallisierte sich eine ideale Lösung heraus: Der gemauerte Wohntrakt erhielt gegen den Hof hin einen etwas niedrigeren Zubau aus Holz, die gemeinsam ein harmonisches Ganzes bilden. Die gegenüber liegende einstige Altbauern-Wohnung verwandelte sich in Nutz- und Hobbyräume. Der Hof dazwischen bildet nun mit dem anschließenden Garten eine sichtgeschützte Oase.

Ein weiteres Beispiel aus der Ortsbildbroschüre ist ein Anwesen in Staatz-Kautendorf (Bezirk Mistelbach). Mit Stadel, Hühnerstall, Keller und Haus mit Arkadengang ("Trettn") war es nach Meinung der Ortsansässigen ein "Haus zum Abräumen". Gerettet wurde es von Dr. Bernd Dietel und Dr. Hildegard Kassel aus München. Sie verbrachten in den neunziger Jahren mehrere Urlaube in der Wachau und entdeckten auf Radtouren das Weinviertel. Obwohl das Paar nie daran gedacht hatte, hier ein Objekt zu erwerben, erlag es seinem Charme. In den zwei Jahren detaillierter Planung gingen die beiden Münchener unkonventionell vor: Sie zelteten im desolaten Haus, um mit der Bausubstanz und den klimatischen Gegebenheiten vertraut zu werden. Helligkeit, Richtung, Lage, alles war seinerzeit optimal bedacht worden. "Diese Beobachtungen ließen unseren Respekt vor den Erbauern unseres Hauses und ihren Überlegungen hinsichtlich Funktionalität und Gestaltung ständig steigen." Die neuen Besitzer suchten und fanden Vergleichsbeispiele, pflegten Kontakt mit anderen Revitalisierungswilligen, ließen sich von örtlichen Handwerkern und "NÖ gestalten" beraten. Wände wurden erneuert, hygienische Voraussetzungen geschaffen, alte Türen eingebaut, die Heizung erneuert, Ställe zu Gästezimmern umfunktioniert. "Wir fühlen uns wohl, das Haus strahlt Ruhe und Gemütlichkeit aus, unsere Freunde sind begeistert", freut sich HIldegard Kassel. Allerdings bedauert sie, "dass ringsherum so viele schöne Gebäude einfach verfallen oder Neubauten weichen müssen, die das vorherrschende Ortsbild sprengen."

Ohne in Nostalgie zu verfallen, scheint doch ein Gedankengang des Dichters und Philosophen Friedrich Schiller (1759-1805) bedenkenswert. Er meinte: „Ein Mensch wird zu einem besseren Menschen, wenn er sich mit schönen und harmonisch gestalteten Dingen umgibt und sie betrachtet … Umgebe ihn also mit schönen und harmonischen Dingen, und er wird ein besserer Mensch werden.“ Es wären nun philosophische Fragen, was heute unter „schön“ oder einem „besseren Menschen“ zu verstehen sei. Belegt ist hingegen, dass historische Bauerhäuser, die so genannte anonyme oder naive Architektur, harmonische Proportionen aufwiesen – schon allein weil die Werkstoffe aus der Natur gewisse Grenzen setzten. Und ebenso klar ist: „Keiner baut für sich allein“, ein Bauwerk wird im Lauf seiner Lebenszeit von Tausenden Personen betrachtet. Schönheit und Harmonie (oder das Gegenteil) entfalten ungeahnte Wirkungen.

Immer wieder sieht man alte Häuser "in Schönheit sterben", während dahinter ein Neubau den Wohnzwecken dient. Zweifellos erfordert eine Revitalisierung mehr Mut zum Risiko als ein Neubau. Ständig gibt es Überraschungen, nichts ist wie bei einem normalen Rohbau. Dafür gewinnt man unverwechselbar individuelle Lebensqualität und rettet Kulturgut. Oskar Anderl in Lengenfeld (Bezirk Krems) hat sich für diesen Weg entschieden. Er wollte dem Sterben des Ortskerns nicht tatenlos zusehen und kaufte vor zwei Jahrzehnten ein 300-jähriges Haus im Zentrum. Bei der geplanten Revitalisierung erfuhr er zunächst die typische Reaktion seiner Nachbarn: "Jeder sagt, greif's nur nicht an, es ist nicht unterkellert und feucht." Mit eigener Hände Arbeit und Hilfe der Familie begann er trotzdem, interessierte sich für Baubiologie, lernte mauern, Lehmputz auftragen, trockenlegen. Fenster und Türen kamen vom örtlichen Tischler. Aus dem Dachboden entstand ein großer Wohnraum. Heute bleiben die Passanten stehen und bewundern die Blumenpracht im Hof. Außerdem hat Oskar Anderl 10 Hektar Grund gepachtet, den er seit 1997 bio-dynamisch bewirtschaftet. So verwirklicht man Harmonie von Menschen, gewachsener und gebauter Umwelt - mit einem andern Wort gesagt: Kultur.

"Kultur lässt sich nicht verordnen", sagt Josef Sonnleitner. Sein Engagement geht weit über das Revitalisieren hinaus. 1985 stand der Landwirt aus Unter Hameten (Bezirk Herzogenburg) vor der Frage, wie er nach dem Tod seines Vater dessen Anwesen in am sinnvollsten nutzen könnte. Das Ensemble aus den Jahren 1846-1854 mit Arkadenhof, Presshaus, Stallungen, Bienenstöcken und Nebengebäuden war fast unverändert erhalten - ein Unikat im Herzogenburger Bezirk. "Das Dach war löchrig, wir mussten Kübel unterstellen, aber es wäre nicht in Frage gekommen, dass man so etwas wegreißt". Sonnleitner gelang die Synthese in mehrfacher Hinsicht. Die alten Ställe wurden für einen (nach 13 Jahren eingestellten) computergesteuerten Schweinemastbetrieb adaptiert. Anfangs war der Besitzer mit den hohen, runden Sichtbeton-Silos gar nicht glücklich. Heute sieht er sie als Zeitzeugen. "Das Haus ist das Herz, der Silo der Magen, ein Lebewesen braucht beides", philosophiert der Bauer mit Sinn für das Schöne wie für das Nützliche. Das elterliche Wohnhaus und etliche Nebengebäude gestaltete er als Museum. Die Wohnung wurde originalgetreu ausgestattet. 1000 Exponate fanden in 24 Räumen ihr stilvolles Ambiente. Dabei erlaubt die Gegenüberstellung der historischen Alltagskultur von Bauern in Niederösterreich und Kanada, Sonnleitners zweiter Heimat, interessante Vergleiche. 1996 eröffnete er sein Museum als Schauplatz vielfältiger Aktivitäten. Zum 60. Geburtstag des Steyr-Traktors, 2007, hörte man die Auftragskomposition "Hametner Jahreszeiten" frei nach Vivaldi. Mitwirkende: fünf alte Traktoren. Die jüngste Aktivität erfolgte 2020, als Josef Sonnleitner eine moderne, künstlerisch äußerst ansprechende Dreifaltigkeitsdarstellung aus Teilen historischer Geräte an seinem Stadel anbrachte.

Ein Beitrag der Serie BRAUCHbares in: Schaufenster Volkskultur