Helga Maria Wolf
Zeit#
"Was also ist die Zeit ?", fragte der Theologe Aurelius Augustinus um 400 n. Chr., und musste bekennen: "Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich's, will ich es aber einem Fragenden erklären, weiß ich's nicht." Zeit ist das lebenswichtigste Gut. Nicht vermehrbar, als einziges gerecht verteilt und dennoch individuell unterschiedlich erlebt. Für Kinder dauert das Schuljahr bis zu den Ferien eine Ewigkeit. Mit zunehmendem Alter scheinen sich die Zeiger schneller zu drehen: Schon wieder ein neues Jahr…
"Alles hat seine Zeit," wußte der Gelehrte Kohelet schon im 3. vorchristlichen Jahrhundert, unter anderem: "eine Zeit für die Klage und eine Zeit zum Tanz." Die Kirchenlehrerin Teresa von Avila formulierte prägnant: "Wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn - wenn fasten, dann fasten." Nichts anderes meint das bekannte Zitat von den sauren Wochen und frohen Festen. Damit sind der Philosoph des Alten Testaments, die Mystikerin des 16. Jahrhunderts und der Dichter Johann Wolfgang Goethe eines Sinnes mit der Psychotherapeutin Rotraud A. Perner. Sie schrieb, Menschen benötigten Feste für ihren seelisch-geistigen Energiehaushalt: "Einseitigkeit vergiftet. Alles was lebt, bewegt sich zwischen den Polen einer Bandbreite: auf Einatmen folgt Ausatmen, auf Muskelanspannung Entspannung" usw. Nicht nur körperlich, auch seelisch-geistig bräuchten wir Wechsel und Wandlung, das Wechselspiel des Alltäglichen und des Besonderen, der Arbeit und der Muße.
Jahresfeste betonen wichtige Zeiten. Wer in seinem Überleben von der Natur abhängig ist, beobachtet (und feiert) den Wechsel der Jahreszeiten. Solstitien - um den 21. Juni und 21. Dezember, wenn sich das Verhältnis von Tag und Nacht umkehrt - und Tag- und Nachtgleichen (Äquinoktien) um den 21. März und 23. September sind markante Termine. Alte Kulturen ordneten ihre Kalender nach den Gestirnen: Ägypter und Römer nach der Sonne, Griechen und Muslime nach dem Mond, Juden und Chinesen nach Mond und Sonne. Bei den Christen entstand neben dem bürgerlichen das - seit 1589 so genannte - Kirchenjahr mit seinen Feiertagen.
Arbeit genoss in der vorindustriellen, überwiegend agrarischen Lebenswelt kaum Wertschätzung. Sie war (über-)lebensnotwendig. Die landwirtschaftlich Tätigen erfuhren eine "quasi automatische Regelung" ihrer Arbeitsdauer durch Tages- und Jahreszeit. "So gesehen erzwang die Natur eine Art Harmonisierung von Arbeits- und menschlichem Biorhythmus," erinnert die Sozialhistorikerin Birgit Bolognese-Leuchtenmüller daran, dass "Freizeit" ein junger Begriff ist. Er wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg üblich, bis dahin sprach man von Arbeits- und Ruhezeiten. Diese wurden für die Allgemeinheit im Jahreslauf vom kirchlichen Festkalender vorgegeben. In den Städten entwickelten die Zünfte ihre eigene Zeitkultur und spezielle Feste der einzelnen Berufe.
Feiertagsparadies Österreich ?
Auch im modernen Kalender sind es - fast ausnahmslos kirchliche - Feiertage, die Würze in den Einheitsbrei des Alltags bringen, selbst wenn viele nicht wissen, was oder wen sie am jeweiligen arbeitsfreien Tag gerade feiern. "Maifeiertage" heisst es dann einfach, wenn man sich über ein verlängertes Wochenende freut, das mit Fronleichnam oder Christi Himmelfahrt von Donnerstag bis Sonntag dauert. Pech für die Arbeitenden und Glück für die Wirtschaft, wenn letzteres mit dem Staatsfeiertag am 1. Mai zusammenfällt. Mit 13 gesetzlichen Feiertagen wird Österreich von der Industriellenvereinigung "Feiertagsparadies" genannt: "Anzumerken ist, dass sich eine höhere Zahl von Feiertagen ungünstig auf die Lohnnebenkosten von Unternehmen auswirkt." Anzumerken wäre aber auch, dass die Unterschiede im zitierten "oberen Drittel" minimal sind. Die Slowakei und Slowenien weisen in dieser Statistik je 14, die Schweiz, Portugal und Tschechien je 12 Feiertage auf. Im Mittelalter gab es im deutschen Sprachraum rund 100 Arbeitsruhetage (Sonn- und Feiertage). Rechnet man den Urlaubsanspruch (seit 1976 vier Wochen) dazu, hat sich nicht allzu viel geändert, rund ein Drittel des Jahres sind Ruhetage.
Allgemein hält bei Festen das Interesse an der Ursprungsfrage an. Auch das hat mit Zeit(geist) zu tun. Bei Feldforschungen hört man oft, dass dieser oder jener Brauch "schon immer" oder zumindest "seit Christi Geburt" gepflegt werde. Neuheidnisch orientierte Kreise halten es mit "uralt" (womit sie aber nicht Rüdesheimer Cognac meinen), berufen sich auf "die Germanen" oder, jetzt salonfähiger, "die Kelten". Dass auch im Internet zweifelhafte Kontinuitätstheorien fröhliche Urständ feiern, mag mit einer weit verbreiteten Vorstellung zusammenhängen: Je älter eine Tradition ist, umso wertvoller erscheint sie - ungeachtet der in Insiderkreisen wohlbekannten Invented traditions und der Beobachtung, dass oft gerade jene Bräuche, die besonders ehrwürdig oder wild daherkommen, zu den jüngsten zählen. Die Verfechter des Uralten übersehen nur allzu gerne die fast zwei Jahrtausende wirkende Prägekraft der "Braucherfinderin" Kirche. Das klassische Beispiel dafür ist Weihnachten. Nachdem im 4. Jahrhundert das Christentum von einer verfolgten Sekte zur Staatsreligion aufgestiegen war, begannen Theologen, das Heilsgeschehen historisierend zu entfalten. Dabei gingen sie vom Hochfest Ostern aus, dessen Gedächtnis zudem jeden Sonntag gefeiert wird. In den Wochen vor dem Fest, einer „geschlossenen Zeit“, waren feierliche Trauungen und Tanz verboten. Beiden Hochfesten folgen eine Oktav eine Festzeit und ein Schlussfest. Schließlich waren Ostern und Weihnachten wichtige weltliche Rechtstermine für Pacht, Zins und Dienstbotenwechsel. Die Festkreise folgten der dramaturgischen Kurve von Vorbereitung, Höhepunkt und Nachklang.
Die verlorene Nachfreuzeit
Der evangelische Theologe und Diplompsychologe Hans Gerhard Behringer aus Nürnberg ist ein Verfechter der "Nachfreuzeit". Er meint, man solle sich so lange über ein Ereignis (z.B. eine bestandene Prüfung) freuen, wie man sich darauf vorbereitet hat. Dabei verweist er auf die Dramaturgie der Festkreise: (1) Vorbereitung / Ouverture - (2) Höhepunkt / Freudenzeit - (3) Nachspiel / Ausschwingen - (4) Ende. Der österliche (und sein Abbild der weihnachtliche) Festkreis waren genau so strukturiert. Nun könnte man sagen, die verlorene Freudenzeit nach Ostern sei ein innerkirchliches Problem. Die Entwicklung des "Weihnachtsquartals" (K. Köstlin) vor derm Fest wird in den Medien und allgemein beklagt. Doch das ist seit etlichen Jahren so. Kaum jemand bedauert hingegen das Wegfallen der Nachfreuzeit. Es wäre eine Untersuchung wert, welchen Einfluss der Ausklang, der keinem fehlt, weil er nicht bewusst ist, auf das Unbehagen über die Phasenverschiebung hat. Alles hat nicht nur, sondern braucht auch seine Zeit, besonders die Bräuche. Dass auch im weltlichen Bereich die Nachfreuzeit ihren Platz hatte, zeigen Beispiele wie der "blaue Montag" der Zünfte oder der "Nachkirtag" ländlicher Burschenschaften.
Rhythmen und Rituale
Dass sich viele Aktivitäten auf immer spätere Beginnzeiten verschieben, liegt im Trend. Als Zeichen dafür können die verschiedenen "langen Nächte" (der Museen, der Kirchen, der Musik etc.) gelten, die sich zunehmender Beliebtheit erfreuen. Da man seit einigen Generationen gewöhnt ist, die Nacht zum Tag zu machen, erinnert man sich kaum daran, dass die "langen Nächte" früher die unheimlichen waren. Menschen in einer überwiegend agrarisch orientierten Gesellschaft standen sprichwörtlich mit dem Hahnenschrei auf und gingen zur Ruhe, wenn sich die Hühner schlafen legten. Das Läuten der Kirchenglocken zu Mittag und am Abend begleitete den Tagesablauf. Die Arbeit endete einst mit dem "Aveläuten", zugleich ein Signal für die Kinder, daheim zu sein. Mit zunehmender Industrialisierung wich der Wohlkang gegossenen Erzes dem Sirenensignal der Fabriken - ein Wechsel in der Klanglandschaft, der sich auch als Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation interpretieren lässt. Ein fast nostalgische Nachklang sind die "Mittagsglocken" der ORF-Regionalprogramme: "Es ist 12 Uhr. Sie hören die Glocken der Pfarrkirche …" Als dieser Programmpunkt noch 3 Minuten, statt später 90 Sekunden, dauerte, war er die meistgehörte Sendung am Zenith des Tages.
Letzlich haben die Rituale selbst ihren Rhythmus. Die Aneinanderreihung von Brauchelementen macht noch keinen Brauch, die Dauer und Abfolge muss genau stimmen. Wenn sich Musikanten bei aufeinander folgenden Darbietungen nicht an die Vorgaben halten, entstehen Unstimmigkeiten. Zu lange Reden können ein Fest empfindlich stören. Oder um mit einer Redensart über ein kirchliches Ritual zu schließen. "Ein Pfarrer darf in der Messe über alles predigen - nur nicht über fünf Minuten."
Erschienen in der Zeitschrift "Schaufenster Kultur.Region"