Helga Maria Wolf
Märchen - Sagen - Legenden#
Fake News - in manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen - sind nicht erst ein Phänomen des digitalen Zeitalters. Dem renommierten Webster’s Dictionary zufolge geht die Bezeichnung für vorgetäuschte Nachrichten mindestens auf das Jahr 1890 zurück, aber die Sache ist noch viel, viel älter. Selbst wenn das Material von Märchen, Sagen und Legenden aus der Wirklichkeit stammt, macht es die phantasievolle Gestaltung durch den Autor letztendlich immer zu einer erfundenen Geschichte.
Bei Märchen ist die Fiktion leicht zu erkennen. Schon ab dem 13. Jahrhundert hat das Wort auch eine abwertende Bedeutung (Lügenmärchen). Sie beginnen nebulos mit "Es war einmal", enden mit einem unbestimmten "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute" und gehen gut aus. Der Gute siegt, der Böse erfährt seine gerechte Strafe. Oft haben Märchen einen erzieherischen Hintergrund. Die Warnung, den finsteren Wald zu meiden, mag schon einen Sinn gehabt haben. Doch der "böse Wolf", der die Großmutter samt der Enkelin frisst, leidet bis heute unter dem schlechten Image. Häufig wurde zwischen "Volksmärchen " und von Dichtern verfassten "Kunstmärchen" unterschieden. Aber nichts kommt aus der Volksseele, auch die erste Gruppe wurde von bürgerlichen Aufzeichnern überarbeitet und bereinigt dem "Volk" zurückgegeben. Im Zeitgeist der Romantik, die großes Interesse an Schöpfungen anonymer Autoren hatte, rief Johann Gottfried Herder anno 1777 zum Sammeln von Märchen und Sagen auf. Die berühmtesten sind die Märchen der Brüder Grimm, die darin "Überreste eines bis in die älteste Zeit hinaufreichenden Glaubens" finden wollten. Die Germanisten betrieben jedoch keine Feldforschung auf dem Lande, sondern brachten Erzählungen von Bürgerinnen (auch aus französischen Familien) in eine literarische Form. 2010 hat die UNESCO das Märchenerzählen - "die Kunst, Menschen mit Geschichten auf spielerische und geistig anregende Weise zu unterhalten" - in das Nationale Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Österreich aufgenommen.
Anders als das Märchen verlangt die Sage von den Zuhörern des Erzählers Glauben. Ort, Namen und Zeit werden mit Ernst tradiert. Im Mittelhochdeutschen gab es das Wort Sage im Sinn von Rede, Erzählung, aber auch Gerücht. Doch erst das 18. und 19. Jahrhundert machten den Begriff populär. So entstand der Sagenkreis um das Agnesbrünnl im Gemeindegebiet von Klosterneuburg um 1800. Sein Schöpfer war der Beamte und Schriftsteller Josef Anton Gleich. Er verfasste Theaterstücke und Romane, darunter "Die Nymphe des Jungbrunnens". Die Sage erzählt von einem Köhlerehepaar, das die bei der Quelle ausgesetzte Agnes, die Tochter einer Fee, großzog. Agnes verliebte sich in den Sohn des Köhlers, Karl. Als er in den Krieg zog, stattete ihn die Fee reichlich aus und baute den beiden zur Hochzeit einen Palast. Dieser verschwand geisterhaft, als Karl leugnete, eine andere Frau zu haben. Aus dem Brautpaar wurden Spukgestalten. Der Quelle sagte man wunderbare Wirkungen nach und wollte aus dem Schlamm Lottonummern herauslesen. Gastwirt, Händler und Hellseherinnen profitierten von den Massen der Ausflügler, die am Tag der hl. Agnes (28. Jänner) zum Brünnl kamen.
Der Schriftsteller Moritz Bermann gilt als Wiens größter Sagenerfinder. 1880 kombinierte der phantasiebegabte Viennensia-Forscher einige Überlieferungen über den "Lieben Augustin". Er gab vor, den Text des populären Liedes in seinem Besitz gehabt zu haben und lieferte die angebliche Biographie des Dudelsackspielers: Demnach sei Markus Augustin 1643 als Kind einer verarmten Wirtsfamilie geboren worden und habe sein Geld als Wandermusikant verdient. Sein Revier seien die verrufenen Schenken am Spittelberg (Wien 7) und das spätere Griechenbeisl "Zum roten Dachel" in der Inneren Stadt gewesen. Im Jahr der Pest 1679 sei er in volltrunkenem Zustand - nachdem er das Augustinlied gesungen hatte - in einer Pestgrube gelandet. Als er dort seinen Rausch ausgeschlafen hatte, spielte er laut auf dem Dudelsack. Pestknechte, die neue Leichen brachten, retteten ihn. Mehr als ein Vierteljahrhundert später sei er in seiner Wohnung am Schlag gestorben und auf dem Nikolai-Friedhof (Wien 3) begraben worden. Schon fünf Jahre vor der Seuche in Wien erzählte der Hofprediger Abraham a Sancta Clara die Wandersage vom fröhlichen Musikanten. Sie war seit langem in seiner schwäbischen Heimat bekannt. Das Lied wurde auch als Spott auf den Kurfürsten von Sachsen, Friedrich August II. gesungen. Über die Melodie schufen zahlreiche Komponisten, u. a. Leopold Mozart, Variationen.
Auf dem Hauptplatz von Korneuburg steht der Rattenfängerbrunnen. Er wurde anlässlich des 600-jährigen Stadtjubiläums 1898 nach dem Entwurf von Hans Kropf enthüllt. Die bekrönende Figur schuf Emanuel Pendl. Die Geschichte ähnelt jener des Rattenfängers von Hameln (Deutschland). Diese, eine der bekanntesten deutschen Sagen, wurde in rund 30 Sprachen übersetzt, geschätzt mehr als eine Milliarde Menschen kennen sie - bis hin nach Amerika und Japan. Die Brüder Grimm erzählen, dass im Mittelalter ein bunt gekleideter Mann den Stadtvätern versprach, Hameln von der Rattenplage zu befreien. Durch sein Flötenspiel lockte er die Nager an, die sich daraufhin scharenweise in den Fluss stürzten. Da die Ratsherren den versprochenen Lohn nicht bezahlten, kam der Rattenfänger wieder, doch diesmal folgten ihm mehr als 100 Kinder und verschwanden. In Korneuburg soll sich die Geschichte 1646 zugetragen haben, Vergleichbares ist auch in Frankreich bekannt.
Ätiologische Sagen versuchen Rätselhaftes zu erklären, wie Naturerscheinungen oder Ortsnamen. Eine Felsformation zwischen Spitz und St. Johann in der Wachau heißt Teufelsmauer. Der Sage nach wollte der Teufel in einer Nacht eine Mauer quer über die Donau bauen. Diese sollte bis zum ersten Hahnenschrei am nächsten Morgen fertig sein. Der Teufel kaufte daher alle Hähne der Umgebung bis auf einen, den eine Frau aus St. Johann (oberhalb der Teufelsmauer am südlichen Donauufer) nicht hergeben wollte. Im Morgengrauen krähte dieser Hahn und das Bauerwerk stürzte ein.
Moderne Sagen (Urban Legends, Großstadtmythen) sind Gruselgeschichten und skurrile Anekdoten, die unhinterfragt weitererzählt werden. Sie heißen auch Foaf-tales, weil sie ein "friend of a friend" erlebt haben soll. Angst und Vorurteile spielen dabei eine Rolle. Der Göttinger Ethnologe Rolf Wilhelm Brednich hat zahlreiche "Sagenhafte Geschichten von heute" herausgegeben. Eine österreichische Sammlung nennt sich "Vater Ötzi und das Krokodil im Donaukanal". Manche dieser Geschichten, wie "Die Maus im Jumbo-Jet" waren in Printmedien und im Internet zu finden. Womit sich der Kreis zu den modernen Fake News schließt.
Dass Falschmeldungen auch aus bester Absicht verbreitet werden, zeigt das Beispiel der Legenden. Lebensbeschreibungen von Heiligen entsprechen weniger der Realität als dem christlichen Ideal, dem die Gläubigen nacheifern sollten. Es geht dabei nicht um eine historische Biographie, sondern um die Konzentration der Verdienste vor Gott, Gnadenerweise und Wundertaten. Die Schilderungen sind ähnlich, individuelle Züge selten. Der oder die typische Heilige ist von Anfang an erwählt, verlässt die Familie, ist schön, klug, würdevoll, demütig und einfach. Er oder sie verschmäht die Freuden des Lebens, isst, trinkt und schläft wenig, betet viel, ist wohltätig, freundlich und friedliebend. Weibliche Heilige verweigern die Ehe und verstehen sich als „Braut Gottes“. Nur in Glaubenssachen streng, geht er/sie konsequent in den Tod.
Ursprungslegenden von Wallfahrtskirchen sollten diesen besondere Attraktivität verleihen. Prominent ist die seit dem 14. Jahrhundert bekannte Klosterneuburger Schleierlegende: Der Stiftsgründer und spätere Landespatron Leopold III. und seine Frau Agnes standen an ihrem Hochzeitstag anno 1106 auf dem Söller ihrer Burg auf dem Leopoldsberg. Ein Windstoß erfasste Agnes' Brautschleier. Leopold gelobte eine Klostergründung an der Stelle, wo er ihn finden würde. Neun Jahre später entdeckte er auf der Jagd das kostbare Textil an einem blühenden Holunderstrauch. Zum 600-Jahr-Jubiläum des Stiftes Klosterneuburg stellte Matthias Steindl die Legende mit der Schleiermonstranz dar. 80 cm hoch, 52 cm breit, mit Brillanten, Edelsteinen und Perlen besetzt, zählt sie zu den Höhepunkten der europäischen Goldschmiedekunst.
Aus: Schaufenster Kultur.Region.Niederösterreich, 2019