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Atomfirmen vor Finanz-Super-GAU#

Nach der Jahrhundert-Katastrophe in Fukushima steuert die gesamte Branche in eine ungewisse Zukunft#


Von der Wiener Zeitung (Freitag, 3. Juni 2011) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Peter Muzik


Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi
Die Havarie im Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi stellt die weltweite Atomwirtschaft massiv in Frage.
Foto: © epa

Japans Tepco steht am Rand des Ruins. Marktführer EDF hofft auf Geschäfte in Großbritannien. Nur China setzt voll auf Atomenergie.#

Das verheerende Erdbeben samt Tsunami in Japan hat den Energiegiganten Tepco massiv erschüttert: Die Tokyo Electric Power Corp., die das Unglück in Fukushima noch immer nicht im Griff hat, schlitterte in das erwartete Finanz-Debakel. Kürzlich musste sie einen Rekordverlust von umgerechnet 8,6 Milliarden Euro eingestehen. Die Entschädigungszahlungen für die radioaktiven Emissionen werden auf bis zu 90 Milliarden Euro geschätzt.

Japans Regierung, deren Krisenmanagement höchst fragwürdig war, hat dem Betreiber des havarierten Kernkraftwerks notgedrungen eine gigantische Finanzspritze zugesagt, um die hektisch gewordenen Banken halbwegs ruhigzustellen. Mit vorerst 43 Milliarden Euro soll die Pleite des bisher größten Energiekonzerns Asiens abgewendet werden.

Kan übersteht Misstrauensvotum#

Im Gegenzug wurde der 66-jährige Tepco-Boss Masataka Shimizu, der es durch totale Hilflosigkeit zum meistgehassten Manager der Insel gebracht hat, samt drei verantwortlichen Managern gefeuert. Der Staat will den Skandal-Konzern, der fast 800.000 Aktionären, darunter japanischen Banken und Versicherungen, gehört, an die Kandare nehmen, womöglich sogar wieder verstaatlichen. Das 1951 gegründete Unternehmen – für 1. Mai waren bereits Jubiläumsfeiern vorbereitet – ist mit 160 Wasser-, 25 Wärmekraftwerken sowie den drei Atomanlagen Fukushima-Daiichi, Fukushima-Daini und Kashiwazaki-Kariwa der größte Stromlieferant des Landes. Speziell im vergangenen Jahrzehnt sorgte er laufend für Skandale, die seine Reputation stark beschädigten.

Mitte 2002 wurde etwa bekannt, dass der Quasimonopolist im Großraum Tokyo jahrelang Unfälle nicht gemeldet und Reparaturen immer wieder verzögert hatte. Mehrere Topmanager mussten zurücktreten und sämtliche Kernreaktoren zwecks Überprüfung für drei Jahre heruntergefahren werden. Dem neuem Boss Tsunehisa Katsumata ging es um nichts besser: Nach einem Erdbeben 2007 wurde das Atomkraftwerk Ka shiwazaki-Kariwa wegen Beschädigung für 21 Monate abgeschaltet. Der 38.000 Mitarbeiter zählende Konzern rutschte erstmals seit 28 Jahren in die roten Zahlen; Katsumata wurde als Firmenchef von Masataka Shimizu abgelöst. Im März 2008 gab Tepco bekannt, dass es bei vier geplanten Reaktoren in Fukushima und Higashi-Dori wegen technischer Unzulänglichkeiten zu Verzögerungen kommen werde.

AKW-Wartungsfehler am laufenden Band#

Nur zehn Tage bevor es in der Präfektur Fukushima, 250 Kilometer nordöstlich von Tokyo, zum Super-GAU kam, hatte die Atomaufsicht Nisa eklatante Mängel bei der Inspektion und Wartung der Kraftwerke nachgewiesen. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass im AKW Fukushima-Daiichi Kühlpumpen, Dieselgeneratoren oder Temperaturkontrollventile seit Jahren nicht kontrolliert worden waren. Der Horror vom 11. März zerstörte sodann nicht nur die Reaktorblöcke 1 bis 4, sondern versetzte AKW-Betreiber weltweit in helle Aufregung.

Japans Stromversorger, die zu den größten Kernkraft-Fans zählten, steuern auf eine ungewisse Zukunft zu: Derzeit sind 14 der bislang 54 Reaktorblöcke vom Netz. Tepco stellte die Bauarbeiten im Atommeiler Higashi-Dori prompt ein und will die drei geplanten Einheiten nicht mehr errichten. Mitbewerber Chubu Electric Power entschied sich, seine Reaktoren in Hamoka gänzlich zu schließen. Sie waren auf Verlangen von Ministerpräsident Naoto Kan vorsorglich abgeschaltet worden, weil Hamoka stets als das am meisten gefährdete Kernkraftwerk Japans galt. Ein weiterer Tepco-Konkurrent stellte den Bau der AKW-Anlage Ohma ein.

Es sind keine Einzelfälle: Nervös gewordene Regierungen in aller Welt sowie Polit-Initiativen wie die soeben angelaufenen AKW-Stresstests der EU werden dafür sorgen, dass weitere Schließungen bevorstehen. Derzeit sind laut Internationaler Atom-Energie-Agentur (IAEA) in weltweit 30 Ländern 437 Nuklearreaktoren zu finden. Die meisten (104) in den Vereinigten Staaten, gefolgt von Frankreich (58), Japan (50) und Russland (32). Weiters befinden sich rund 60 Atom-Meiler in 13 Staaten im Bau – 19 in Europa. Als Draufgabe listet die World Nuclear Association in London 68 geplante Kernkraftwerke in 14 Ländern auf, darunter sechs europäische – Großbritannien, Frankreich, Bulgarien, Rumänien, Litauen und Russland.

Das wären an sich keine schlechten Aussichten für eine Branche, die nach dem Unglück von Tschernobyl einen herben Rückschlag erlitten hatte, weil die Atom-Angst jahrelang zahlreiche Vorhaben vereitelte. Das umso mehr, als 170 der weltweit aktiven Reaktoren älter als 30 Jahre sind und auf ihr Ablaufdatum zusteuern. Schließlich mussten schon 127 Kernkraft-Blöcke aus Altersgründen eingemottet und ersetzt werden – wobei die USA mit 30 Abschaltungen die Briten (26) und Deutschen (17) auf die hinteren Plätze verwiesen.

Die größten AKW-Betreiber konnten sich auf fette Milliarden-Geschäfte freuen und nahmen strategisch aussichtsreiche Positionen ein: Die französische EDF (Electricité de France), mit 78 Reaktoren an 30 Standorten klare Nummer eins, setzt primär auf Großbritannien. Auch in den USA sowie in China, wo sie sich mit 30 Prozent am acht Milliarden Euro schwere Projekt Taishan beteiligt hat, ist sie aktiv.

AKW-Betreiber
AKW-Betreiber.
Foto: © Wiener Zeitung

Der italienische Energieriese Enel wiederum, der im AKW-freien Heimatland keine Chance hat, tat sich mit EDF zusammen, um beim französischen AKW-Meiler Flamanville-3 mitzumischen. Zum anderen konzentriert er sich auf die Slowakei, wo der Ausbau von Mochovce ansteht. Die Italiener haben sich rechtzeitig 66 Prozent an der zuvor staatlichen Slovenské Elektrárne gesichert. Außerdem erwarten sie sich von der Partnerschaft mit der russischen RosAtom einiges. Nicht zuletzt sollte ihnen die Mehrheits-Übernahme der spanischen Endesa SA die Türen nach Lateinamerika öffnen, wo die Spanier die Nummer eins der privaten Energieversorger sind.

Russland und China bauten um die Wette#

Die Aussichten haben sich jedoch seit 11. März abrupt eingetrübt, was zum Beispiel die deutschen Energie-Giganten E.On und RWE spüren: Auf Grund des von den Aufsichtsbehörden verhängten AKW-Moratoriums mussten in Deutschland sieben ältere der 17 Meiler vom Netz genommen werden. Kanzlerin Angela Merkel plädiert vehement für einen Ausstieg aus der Atomenergie mit Zieldatum 2022. Die Schweizer zeigen sich seit kurzem ebenfalls entschlossen, schrittweise auf die Kernenergie zu pfeifen. Das bedeutet für die deutschen AKW-Betreiber, dass sie sich anderweitig umsehen müssen.

E.On, in Deutschland und Schweden mit neun AKW präsent, wozu noch zwölf Minderheitsbeteiligungen kommen, will in Finnland ein riesiges Kernkraftwerk bauen, an dem das Unternehmen zu 34 Prozent beteiligt wäre. Zudem erhofft man sich viel vom Atomprogramm in Großbritannien: Horizon Nuclear Power Ltd, ein 50:50-Joint-venture mit RWE, will an den Standorten Wylfa und Oldbury tätig werden. Der erste Block könnte 2020 in Betrieb gehen.

Alle hoffen, dass die Regierungen nicht kneifen und (wie Tschechien oder die Slowakei) unbeirrbar auf Atom-Linie bleiben oder (wie Polen oder die Türkei) auf diese einschwenken. Trotzdem ist der Weltmarkt, auch für AKW-Errichter wie Westinghouse, Mitsubishi, Framatome & Co., enger und schwieriger geworden. Beispiel: Erst im Jänner haben sich RWE, GDF Suez und die spanische Iberdrola vom Ausbau des rumänischen AKW Cernavoda wegen finanzieller Unsicherheiten infolge der Krise zurückgezogen. Die RWE-Bosse versuchen es lieber in den Niederlanden, wo sie mit dem dortigen Versorger Delta das Atom-Kraftwerk Borssele betreiben und auf Folgeaufträge hoffen. Die französische GDF Suez hingegen, als Kernkraft-Newcomer nur in Belgien engagiert, spitzt auf Märkte wie Brasilien, Chile, Polen, Türkei und Saudi-Arabien.

Die besten Aussichten sind jedenfalls nicht im Westen zu orten – in den USA etwa ist nur ein AKW in Bau und kein einziges in Planung. Eine strahlende Zukunft verspricht der Osten, speziell Asien. Die Russen bauen trotz Fukushima-Schock wie wild drauflos und wollen den Anteil von Atomstrom im Energiemix binnen zehn Jahren von knapp 20 auf 30 Prozent hochschrauben. Neue Player entstehen in Indien und Südkorea, wo etliche Atom-Meiler aus dem Boden gestampft werden und noch mehr geplant sind.

Am meisten geben jedoch die Chinesen Gas, weil ihnen Atommüll offenbar ebenso gleichgültig ist wie eine etwaige Kernschmelze: Die führenden staatlichen AKW-Betreiber, die State Grid Corportation of China und die China Southern Power Grid Company, ziehen im Eiltempo 26 Reaktoren hoch. Die Volksrepublik, die bisher mit 14 Meilern das Auslangen fand, plant bereits weitere 28 Projekte, womit sie auf gutem Weg zur führenden Atom-Nation der Welt ist.

Wiener Zeitung, Freitag, 3. Juni 2011


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