Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Kräftig und gerade über das Spielfeld rauschen #

Der leidenschaftliche Schachspieler Kurt Jungwirth, Gründer der „Styriarte“ und langjähriger Motor der kulturellen Entwicklung der Steiermark, über Kulturpolitik und Lebenskultur. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (29. August 2019)

Das Gespräch führten

David Prabitz und Anna Maria Steiner


Kurt Jungwirth
Kurt Jungwirth
Foto: © David Prabitz

Sprache, Schach und Politik: Am 3. September begeht Kurt Jungwirth seinen 90. Geburtstag. Der steirische Kulturpolitiker im Interview über die schöpferische Kraft des Menschen, über die Seitenblicke-Kultur der österreichischen Politik und darüber, dass Kulturkampf immer auch Sozialkampf ist.

DIE FURCHE: Herr Professor Jungwirth, beginnen wir das Interview mit einer Frage aus dem Bereich des Schach. Sie waren nicht nur über vier Jahrzehnte Funktionär, sondern sind von Kindheit an auch aktiver Schachspieler. Welche Schachfigur ist Ihnen persönlich die allerliebste?

Kurt Jungwirth: (lacht) Eine interessante Frage, die ich mir so noch nie gestellt habe. Ich sollte wohl antworten: die Dame, weil sie die stärkste Figur ist. Doch von Kindesbeinen an gefällt mir der Turm. Eigentlich unerklärbar, warum mir diese Figur immer so sympathisch war … Womöglich erschien mir die Dame immer kompliziert, weil man vor ihren Zügen so viel rechnen muss. Der König ist nur repräsentativ, der Gegner darf ihn nicht einmal berühren. Nein, es ist der Turm, der in einer Linie über das Spielfeld rauscht, kräftig und gerade.

DIE FURCHE: Das Bild vom geradlinigen Turm, der fest verankert ist und allen Stürmen widersteht, hatte womöglich auch ÖVP-Politiker Josef Krainer senior vor Augen, als er Sie 1970 als Quereinsteiger in die steirische Landespolitik geholt hat. Mit welchem politischen Verständnis sind Sie dem Ruf des „alten“ Krainer damals gefolgt?

Jungwirth: „Was ist der Mensch?“ Diese Frage war für mich ein wesentlicher Einstieg in die steirische Kulturpolitik. Im Menschen ein kreatives Wesen sehen – egal, ob Mann, ob Frau, ob jung, ob alt. Aufgabe der Politik soll sein, dem Menschen zu einem gelungenen Leben zu verhelfen, und dazu ist es nötig, seine schöpferischen Kräfte zu wecken und zu fördern. Zu finden sind diese Kräfte natürlich in den Künsten, in der Kunst – ihr Ursprung liegt allerdings im Alltag. Schon bei der Deckung grundlegender Bedürfnisse wie dem nach Essen, Trinken oder dem Sich-Kleiden werden die Talente eines Menschen offenkundig und zeigen sich im wahrsten Sinn des Wortes in der Alltagskultur. Als Kulturund Bildungslandesrat habe ich immer wieder betont, dass ich nicht nur zuständig bin für den „Steirischen Herbst“ und für die Oper – das ist alles sehr wichtig. Aber Kultur fängt schon viel früher an: bei der Kleiderkultur, bei der Kochkunst, beim alltäglichen Handwerk. Mitzuhelfen, dass Talente sich entwickeln können, ist letztendlich auch die Aufgabe von Schule. Mein Bild von Gesellschaft ist letztendlich eines, in dem auch der Bub und das Mädchen aus dem hintersten Gebirgstal Zugang haben zu einem Weg, der ein Bildungsweg ist und der ihn und sie dabei unterstützt, den eigenen Lebensweg zu finden.

DIE FURCHE: Von Kindergärten über Volkskultur bis hin zu experimenteller Musik des Musikprotokolls im Steirischen Herbst: Als Kultur- und Bildungslandesrat haben Sie – bis heute – einen offenen Kulturbegriff vertreten. Welche Rolle spielt Kultur heute in der Politik?

Jungwirth: Aktuell sehe ich in der Politik wenige Inhalte von Kultur und Kunst. Beides scheint für wahlwerbende Politikerinnen und Politiker vor allem dort wichtig, wo es Stimmen bringt. Kultur lebt dann in der Seitenblicke-Kultur – als Kultur vor der Adabei-Kamera. Es ist schon klar, dass Kulturinhalte oft sehr spezialisiert sind, wenig massentauglich und selten Thema für die öffentliche Diskussion. Doch indirekt spielt das Thema Kunst eine bedeutende Rolle – nämlich dort, wo es letztendlich um die freie Zeit des Menschen geht, um ein Arbeitszeitgesetz oder den Zwölfstundentag. Der Kampf um Freizeit ist ein Sozialkampf und weil der Mensch in seiner Freizeit Kultur erleben kann, ist der Kampf um die Arbeitszeit immer auch Kulturkampf und damit immer auch ein Kampf um Lebenskultur. Das darf man, glaube ich, nicht übersehen. Für den Kulturpolitiker ist es nicht befriedigend, wenn sich die Freizeit von Menschen lediglich darauf beschränkt, passiv zu schauen, vor der Glotze zu sitzen oder stundenlang zu klicken – aus welchen Gründen er das auch immer tut. Hier sollte die Politik im Menschen Interessen wecken und kreative Kräfte fördern. Das ist immer auch schon Teil von Kulturpolitik.

DIE FURCHE: Zum Stichwort „Gesprächskultur“ eine Frage an Sie als Sprachliebhaber, Pädagogen und Linguisten: Wie steht es Ihrer Ansicht nach mit der „Kultur des Miteinander“ in der Politik?

Jungwirth: Was die Gesprächskultur von Politikerinnen und Politikern untereinander und vor der Kamera betrifft, so sind die Freiheiten heute größer als zu meiner Zeit. Damals waren die Schranken höher – vieles, was heute längst salonfähig ist, hat man damals schlichtweg einfach nicht gesagt. Grund dafür waren Traditionen, Höflichkeiten oder Verbindlichkeiten auf der einen und eine patriarchal geprägte, autoritäre Erziehung auf der anderen Seite. Damit war auch der Umgangston verhaltener. Doch weil Freiheit mehr als nur die eine Seite birgt, gibt es neben der Befreiung des und der Einzelnen aus Konventionen auch den Missbrauch von Freiheit und die Möglichkeit, über alle Ufer zu gehen. Genau das hat zugenommen und zeigt sich in Wahlkampfzeiten noch verstärkt. Wahlkämpfen war übrigens auch in den Siebzigern kein Honiglecken. Selbst wenn man bis heute von „Wahlauseinandersetzung“ oder „Wahlwerbung“ spricht, so ist es letztendlich doch ein Kampf geblieben, bei dem es um Macht geht in ihren unterschiedlichen Ausformungen: selbst eine Chance zu bekommen, eigene Ideen umzusetzen oder ganz einfach den eigenen Sessel zu retten und dafür zu sorgen, dass das Geld stimmt. Darum geht es ja in den verschiedenen Spielarten je nach Personen und Funktionen. Nervosität in Wahlkampfzeiten war immer schon gegeben, doch heute ist sie stärker aufgrund von Fernsehen rund um die Uhr oder durch Echtzeitnachrichten über soziale Netzwerke. Das sorgt für Anspannung und so manche maßlose Übertreibung.

DIE FURCHE: „Ohne Kunst wäre das Leben ein Irrtum“, haben Sie in einer Ihrer Reden gesagt und sich dabei auf ein Zitat von Friedrich Nietzsche bezogen. In diesem Sinne, kurz vor Ihrem 90. Geburtstag und zurückschauend auf ein intensives Leben mit Kunst und mit Kultur, darf festgehalten werden, dass Ihr Leben wohl alles andere als ein Irrtum ist …

Jungwirth: (lacht) Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Besuch im Grazer Schauspielhaus. Gemeinsam mit einem Freund – übrigens jenem, der mir auch das Schachspielen beigebracht hat – kaufte ich mir um ein paar Pfennige eine Stehplatzkarte für das Grazer Schauspielhaus. An die ersten Eindrücke dort erinnere ich mich noch genau: an das Bühnenbild, die Dialoge … Mein Interesse für Kunst war offenbar grundgelegt, nur Geld dafür hatten wir kaum. Meine Mutter förderte meinen Kunstsinn mit ihren bescheidenen Mitteln, und schon vor meiner Zeit als Politiker lernte ich viele Künstlerinnen und Künstler kennen – jeder und jede ein kleiner oder großer Kosmos in sich. Durch Begegnungen wurde vieles möglich, anderes blieb offen. So vieles bleibt bis heute Rätsel, aber auf keinen Fall ist es ein Irrtum, mit der Kunst und für sie zu leben.

Zur Person#

Kurt Jungwirth wird 1929 in Graz geboren und verbringt dort eine materiell bescheidene Kindheit. 1970 holt Josef Krainer den Latein- und Französisch-Professor in die Politik. Bis 1985 ist Jungwirth steirischer Kultur- und Bildungslandesrat, von 1985 bis 1991 Landeshauptmann- Stellvertreter. 1986 gründet er die „Styriarte“, das Festival für Klassische und Alte Musik, bis 2006 fungiert er als Präsident des „Steirischen Herbstes“. Seit 1991 ist Jungwirth Präsident des Kuratoriums des Universalmuseums Joanneum. Von 1978 bis 1986 wirkt Jungwirth als Vizepräsident des Welt-Schachverbandes (FIDE) und gründet 1985 die Europäische Schach-Union (ECU), von 1971 bis 2017 ist er Präsident des Österreichischen Schachbundes. 2007 erhält er das Große Goldene Ehrenzeichen mit dem Stern für Verdienste um die Republik. Am 3. September begeht Kurt Jungwirth seinen 90. Geburtstag.

DIE FURCHE (29. August 2019)