Was machte Herkules am Großglockner? (Essay)#
Georg Rohrecker
Herakles (lat. Herkules) kam einst weit herum. Bei der heldenhaften Lösung seiner zwölf Aufgaben verschlug es ihn mindestens von Kreta über Arkadien bis zu den Kanarischen Inseln – wenn’s nicht sogar weiter nördlich war, z. B. bei der Apfelinsel Avalon, wo er den drei (!) Hesperiden aus ihrem Paradiesgarten die goldenen Äpfel des ewigen Lebens klaute. Klingt alles nach sonnigen Destinationen. Aber was sollte er bitte am Großglockner, demhöchsten Berg der Ostalpen, zwischen Eis und Murmeltieren gemacht haben? Und dennoch: Er war eindeutig dort!
Seit 1935 besteht zwischen Mai und Oktober die Möglichkeit, den Tauernkamm auf der imposanten Großglockner-Hochalpenstraße zu bezwingen. Doch beim Bau dieser Straße merkten die Techniker, dass sie dort nicht die Ersten gewesen waren. Das stellten sie nicht erst fest, als beim Ausschachten der Scheitelstrecke nahe dem Hochtor im September 1933 „ein Arbeiter beim Graben auf ein kleines grünes Etwas [stieß], das sich als eine bronzene Herkulesstatue entpuppte“. Der Architekt Franz Wallack hatte nämlich bereits bei der Trassierung der von ihm gewählten Strecke im Frühjahr merkwürdige Entdeckungen gemacht: „Als ich die erste Kehre in die Straßenlinie einlegen musste, entdeckte ich, dass hier schon einmal eine Wegkehre gelegen hatte. Als ich dann weiter trassierte, arbeitete ich haargenau auf den Überresten einer alten Weganlage, genau auf der Spur des an manchen Stellen bis zu vier Meter breiten, alten, verfallenen Wegkörpers. Vor vielen Jahrhunderten, vielleicht sogar vor Jahrtausenden, hatte schon ein anderer trassiert, hatte sich dabei von den gleichen Überlegungen leiten lassen wie ich und die Aufgaben in derselben Weise gelöst.“
Wallack hatte tatsächlich die alte Kelten- Straße über den Großglockner, die Scheitelstrecke der kürzesten Verbindung zwischen Salzburg, dem kelt. Juvavum, und Aquileia entdeckt, deren alte Linienführung „in groben Zügen der heutigen Scheitelstrecke der Großglockner-Hochalpenstraße entspricht“. Und es war kein schmaler Saumpfad, sondern eine echte Straße von der Art, wie sie die römischen Besatzer später mit Vorliebe zu ihren Reichsstraßen ausbauten. Der spärlich mit Löwenfell-Überwurf bekleidete so genannte „Herkules vom Hochtor“ wurde zum Zeugen für das Alter der Straße.
Ach, Sie meinen, Herkules sei gar kein Kelte gewesen? Da haben Sie zwar Recht – und doch wieder nicht! Der Grüne vom Hochtor ist nämlich kein Römer – und schon gar kein Grieche! Was da oben in unzureichender Kleidung entdeckt wurde, ist dem Äußeren nach eine höfliche Verbeugung vor den römischen Besatzern. Dahinter steckt aber niemand anderer als Belenus, der potente Heros der ostalpinen keltischen Göttinnen-Trinität. Und ob mit oder ohne Löwenfell: Belenus bot auch die Verbindung ins keltische Juvavum, dem mit Aquileia mythologisch verwandten und später Salzburg genannten Platz – dort befand sich ein zentraler keltischer Heils- und Wiedergeburtskult, der sich vor den heutigen Katakomben abgespielt haben könnte.
Dieser Essay stammt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem Buch: