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Ein manipulierbares Lexikon?#

500 Millionen Besucher hat das Online-Lexikon Wikipedia im Monat - aber ist es auch verlässlich?#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 22./23. März 2014)

Von

Andreas Lorenz-Meyer


An Wikipedia kommt so schnell keiner vorbei. Egal, welchen Begriff der Nutzer in die Suchmaschine eingibt, ob er Informationen über David Alaba oder die Relativitätstheorie sucht: Immer steht ganz oben in der Ergebnisliste ein Wikipedia-Link. Hinter dem inzwischen 13 Jahre alten Online-Lexikon steckt die Wikimedia Foundation. Diese in San Francisco sitzende Non-Profit-Organisation will das gesammelte Wissen der Menschheit frei zugänglich machen. Momentan umfasst Wikipedia rund 30 Millionen Artikel, davon 1,6 Millionen deutschsprachige. Und es kommen immer neue dazu. Auf einer Echtzeit-Weltkarte, der Wikipedia Recent Changes Map, tauchen in Abständen von wenigen Sekunden frische Einträge auf.

Deren Urheber sind Freiwillige. Denn jeder darf an der Enzyklopädie mitschreiben, sofern er sich an die Regeln hält. Der Schreibstil soll neutral sein, Behauptungen sind mit unabhängigen und möglichst etablierten Quellen zu belegen. Damit folgt Wikipedia der Theorie der "Weisheit der Vielen", auch Schwarmintelligenz genannt. Danach kommen Massen "unter bestimmten Bedingungen" zu klugen, also richtigen Ergebnissen. Aber wie sehr ist dem zu trauen?

René König vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse in Karlsruhe hält die Informationen grundsätzlich für "erstaunlich verlässlich". Und der Erfolg gäbe der "sehr offenen Arbeitsweise" auch recht. Immerhin hätten etablierte Enzyklopädie-Herausgeber, etwa Brockhaus, vor Wikipedia mehr oder weniger kapituliert.

Allerdings sei die Offenheit des Lexikons gleichermaßen Stärke und Schwäche, ergänzt König. So versuchen interessierte Stellen, das "Wissen der Welt" in ihrem Sinne zu manipulieren. Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung beschreibt, wie Pharmaunternehmen oder Handelsketten unangenehme Fakten löschen oder verschleiern. Wikipedia vermag der Schönfärberei nicht Herr zu werden, so die Verfasser.

Auch Schleichwerbung findet den Weg ins Lexikon. 2013 kam heraus, dass bezahlte Autoren, von einer Firma namens Wiki PR gesteuert, allzu lobende Texte über bestimmte Produkte in Umlauf gebracht hatten. Die Wikimedia Foundation schloss zwar deren Profile. Aber blindes Vertrauen sei unangebracht, sagt König, denn es könne im Regelfall jederzeit von jedem editiert werden.

"Neutralität ist umstritten"#

Dabei finden sich im Lexikon deutliche Hinweise darauf. Manche Seiten sind mit einem Ausrufezeichen markiert. "Die Neutralität dieses Artikels oder Abschnitts ist umstritten", heißt es dann. Wen die Hintergründe dazu interessieren, der kann in der Versionsgeschichte nachschauen. Dort steht, wer den Text verändert hat. Bei heiklen Themen passiert das sehr häufig. Der Beitrag zur Krimkrise etwa wird ständig bearbeitet, am 15. März allein 59 Mal.

Auf den Diskussionsseiten - wie die Versionsgeschichte für jeden zugänglich - rechtfertigen die Autoren ihre Korrekturen. Im Fall der Krimkrise wird der Ton zum Teil ruppig - die Ansichten über Putins "Einflusspolitik" gehen eben auseinander. Den Prozess des gegenseitigen Kontrollierens und Korrigierens sieht König aber als Vorteil: "Im Gegensatz zu herkömmlichen Enzyklopädien legt Wikipedia die Kontroversen offen. Die Konflikte sind prinzipiell für jeden nachvollziehbar." Nicht überraschen dürfte, dass vor allem politische und religiöse Themen - Jesus, Israel, Holocaust, Gott, Iran, Rasse, Krieg - die Gemüter erhitzen. Die Zankäpfel unterscheiden sich je nach Sprachausgabe, wie eine internationale Forschergruppe herausfand. Auf spanischen Seiten sorgen der FC Barcelona und Augusto Pinochet für Meinungsverschiedenheiten, auf französischen Seiten wird viel über Islamophobie und Atomkraft gestritten, und deutschsprachige Autoren können sich nicht über Hitler und Homöopathie einigen.

Wie demokratisch ist also Wikipedia? Drückt es die ganze Bandbreite von Meinungen aus? Die Community ist weit davon entfernt, gesellschaftlich repräsentativ zu sein, meint König. So sei nur eine Minderheit weiblich. Eine Studie der University of Minnesota zeigte die Folgen auf: Beiträge von Frauen würden eher gelöscht als die von Männern. Die Offenheit schützt auch nicht vor der Dominanz kleiner Gruppen. Eine Studie der Universidad Rey Juan Carlos Madrid ergab: Nur 10 Prozent der Autoren sind für 90 Prozent der Bearbeitungen verantwortlich. Wikipedia ist das Werk von Vielen - aber ein harter Kern gibt den Ton an.

Nur wenige haben das Sagen#

Hinzu kommt: Wikipedia soll nicht nur für jeden offen, sondern auch qualitativ hochwertig sein. Weniger etablierte Positionen würden deswegen schnell ausgegrenzt, sagt König. Etwa wenn es um die Terroranschläge vom 11. September 2001 geht. Anhänger alternativer Deutungen versuchen, ihre Sichtweisen einzubringen. Diese werden pauschal als "Verschwörungstheorien" stigmatisiert und in den Diskussionsbereich oder eigens dafür angelegte Artikel ausgelagert. Teilweise sei Wikipedia erstaunlich konservativ und elitär, so König. Was er aber nicht als Widerspruch zur offenen Organisation sieht, sondern vielmehr als ihr Resultat: Gerade wegen der offenen Strukturen müsse sich Wikipedia vor abwegigen Positionen schützen.

Selbst in der Wissenschaft breitet sich Wikipedia aus - begleitet von Zweifeln, ob ein von Freiwilligen geschriebenes Lexikon als Quelle auch allen akademischen Ansprüchen genügt. An der Liverpool Hope University führen diese gemischten Gefühle zu einer paradoxen Situation, legte eine Umfrage offen. 74 Prozent der Dozenten schlagen in der Wikipedia nach. Ihren Studenten wollen sie dies aber mehrheitlich nicht zugestehen. 58 Prozent verbieten ausdrücklich das Online-Lexikon.

Wiener Zeitung, Sa./So., 18./19. Jänner 2014


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