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Martyrium in der Steppe des Hungers #

Alois Gosch (93), einer der letzten Heimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft, erinnert sich, als wär’s gestern gewesen. #


Mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt von der Kleinen Zeitung (21. Oktober 2018)

Von

Robert Preis


Vor 65 Jahren fotografierte die Kleine Zeitung den Russland-Heimkehrer Alois Gosch mit Eltern am Grazer Hauptbahnhof.
Vor 65 Jahren fotografierte die Kleine Zeitung den Russland-Heimkehrer Alois Gosch mit Eltern am Grazer Hauptbahnhof.Foto: GOSCH

Jedes Jahr am 15. Oktober bekommt Alois Gosch von seiner Frau Erika eine rote Rose geschenkt. „Dafür bin ich ihr unendlich dankbar“, sagt der 93-Jährige. „Denn dieser Tag markiert meinen zweiten Geburtstag. Es ist der Tag meiner Heimkehr.“

Erika (83) und Alois Gosch sitzen heute in ihrem Haus in Feldkirchen bei Graz mit Sohn Erich bei Tisch. Vor sich haben sie einen Holzlöffel. Ein Schwarz-Weiß-Foto. Eine Mappe mit Aufzeichnungen.

Dann hebt der Mann die Stimme. Sie ist laut und klar. Wie seine Erinnerung auch. Und seine Geschichte ist jeden Gedanken daran wert, denn dies ist die Erinnerung eines der letzten Heimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft.

„Es war an meinem 18. Geburtstag, als ich am 27. Mai 1944 zum Wehrdienst eingezogen wurde. Ich war der letzte Jahrgang, der noch an die Front musste.“ Als Pionier wurde er 1945 in Pest gefangen genommen. Was danach folgte, ist eine jener Geschichten, wie sie nur ein schauerlicher Krieg erzählen kann: In Sopron wurde er drei Wochen lang in einer Todeszelle unter vorgehaltener Waffe verhört und schikaniert und schließlich wegen „Spionage“ zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Auf der Zugfahrt nach Lemberg lag er tagelang neben der Leiche eines Kameraden, im Lager warf er Leichen auf einen Lastwagen.

Doch seine Odyssee sollte noch lange nicht enden. Er wurde ins 4000 Kilometer entfernte Karashal in Mittelasien gebracht, in die „Steppe des Hungers“, ins „Schweigelager“. „Niemand durfte hier schreiben, alle galten als verschwunden. Meine Eltern wussten fünf Jahre lang nichts von meinem Verbleib. Keiner wusste, dass ich noch lebte.“

Gosch kämpft auch 65 Jahre danach mit den Bildern im Kopf. „Manchmal, wenn es zu viel wird“, schildert Sohn Erich, „kann er nicht schlafen.“ Am schlimmsten war, erzählt der Vater prompt, „wenn sie Kameraden an meiner Seite einfach erschossen haben“. Er selbst sei aber nie körperlich attackiert worden, „und ich war jung und gesund genug, um alle Krankheiten zu überleben“. Er erinnert sich an das Arbeiten bei minus 30 Grad Celsius, daran, dass beim Weitertransport ins 6000 Kilometer entfernte Irkutsk ein Drittel der 2500 Gefangenen verstarben. Die Toten wurden einfach im Schnee verscharrt. In Irkutsk durfte er einen Brief an die Eltern schreiben. Als diese überglücklich ein Paket mit Buchstabensuppe zurückschickten, steckten die Russen Gosch in Einzelhaft, „die haben gedacht, die Nudeln seien eine Geheimbotschaft“.

1953 wurde Gosch neuerlich verfrachtet, in einem Entlassungslager ein halbes Jahr lang aufgepäppelt. „Sie wollten mich dazu überreden, russischer Staatsbürger zu werden, aufgrund meiner technischen Fähigkeiten als gelernter Vermessungstechniker und meiner Russischkenntnisse.“ Aber er kehrte heim.

Heute erinnert er sich an das Trauma, „als wär’s gestern“ In neun Jahren Gefangenschaft legte er 17.000 Kilometer zurück
Heute erinnert er sich an das Trauma, „als wär’s gestern“ In neun Jahren Gefangenschaft legte er 17.000 Kilometer zurück
Foto. FUCHS
Der selbst geschnitzte Löffel hängt heute in der Küche
Der selbst geschnitzte Löffel hängt heute in der Küche
Foto. FUCHS

„Am 15. Oktober 1953 kam ich im letzten großen Heimkehrerzug, dem insgesamt vorletzten, aus Russland zurück nach Graz.“ Das Foto der Kleinen Zeitung liegt vor ihm am Tisch. Die Emotionen sind kaum vorstellbar. „Ich hatte nichts, wurde von Kastner und Öhler eingekleidet und bekam eine Stelle im Grazer Bauamt.“ Wochenlang schlief Gosch auf dem Boden statt im weichen Bett, „denn ich war es nicht mehr anders gewohnt“.

Bei Kienreich kaufte er damals auch die Zeitung Prawda, um sich zu informieren. „Da erzählte mir die Verkäuferin einmal, dass zwei gebrochen Deutsch Sprechende nach mir fragten. Seitdem ging ich nie wieder hin. Und sprach nie mehr ein Wort Russisch. Ich hatte Angst, die holen mich.“

Die Treffen mit den Veteranen von einst wurden mit den Jahren auch immer seltener. „Wir erkannten, dass unsere Geschichte niemanden interessierte. Keiner konnte verstehen, was wir erlebt haben.“ Erst als der Historiker Stefan Karner Anfang der 90er-Jahre Kontakt zu ihm aufnahm, kehrten auch die Geschichten zurück. Begann er wieder zu erzählen. So wie heute, 65 Jahre danach.

Er betrachtet den selbst geschnitzten Holzlöffel, einziges Relikt jener Zeit. Und seine Frau: „Als ich heimkehrte, wünschte ich mir, wenigstens noch drei Jahre zu leben. Dann habe ich meine Frau kennengelernt. Ich hätte mir nie träumen lassen, jemals wieder so glücklich zu werden.“



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© "Damals in der Steiermark", Robert Preis