Entdecker, Dichter und Monster in Whitby#
In der kleinen Stadt an der Küste von Yorkshire hallen die Echos englischer Geschichte - der realen wie der fiktiven.#
Von der Wiener Zeitung (1. Dezember 2019) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Andreas Tesarik
Es wäre zu schön. Denn so beginnen nur Romane - mit einem überraschenden Fund. Ein vergessener Van Gogh auf einem Dachboden etwa, ein Schiffsmodell, in dem eine Schatzkarte versteckt ist, im Gewühl eines Flohmarktes. Oder jene Lanze, die James Cook, dem großen Seefahrer, im Jahr 1779 auf Hawaii das Leben nahm.
Unauffällig liegt der Speer neben einem Fernrohr, drei Flaschenschiffen, einer Holzmaske unbekannter Herkunft, Taschenuhren, Pfeifen, Muscheln, einem Kompass aus glänzendem Messing und anderen Schätzen, die sich für die Auslage eines Altwarenhändlers in einer kleinen, englischen Hafenstadt ziemen. Möwengeschrei schwebt über der Gasse, an ihrem Ende ahnt man das Meer, und es nieselt leicht. Das tut es in Whitby an durchschnittlich vier von sieben Wochentagen.
Ob dieses Lanzenblatt wirklich mit dem Blut des Weltumseglers und Entdeckers Captain James Cook benetzt war, darf man mit Recht bezweifeln; unzweifelhaft ist aber, dass Cook als junger Mann nach Whitby kam, um die christliche Seefahrt zu erlernen. Er war keineswegs der Einzige: 5000 Einwohner hatte das Städtchen an der englischen Nordseeküste damals, mehr als ein Fünftel davon waren angehende Matrosen. Cook trat in die Dienste eines gewissen Captain John Walker, segelte neun Jahre vorwiegend zwischen den Häfen der Britischen Inseln, trat schließlich in den Dienst der Royal Navy und bewährte sich im Siebenjährigen Krieg in den Gewässern vor Kanada nicht nur als Marineoffizier, sondern auch als Kartograph - was ihn schließlich dafür qualifizierte, 1768 eine Expedition der Royal Society in die Südsee zu kommandieren.
Museum für Captain Cook#
Nach zwei weiteren Reisen war der Erdball umrundet, der Pazifik von Nord bis Süd durchkreuzt, Australien besucht und Neuseeland wiederentdeckt, und als Cook bei einem Konflikt mit den Einwohnern von Hawaii sein Leben lassen musste, war er bereits eine internationale Berühmtheit.
"Die größte Lobrede auf Cook ist die Seekarte des Pazifiks", meinte der neuseeländische Historiker John Beaglehole. Das meint man auch im Captain Cook Memorial Museum, das die Seereisen des berühmten, nun ja, nicht gerade Sohns der Stadt - geboren wurde Cook in einem Weiler in Yorkshire - dokumentiert.
Fragwürdige Lanzen werden dort natürlich nicht gezeigt, und die wichtigsten Stücke aus der Sammlung des Entdeckers werden in Australien und im Weltmuseum Wien verwahrt. Doch hier in dem Haus, in dem der junge Cook während seiner Lehrzeit wohnte, beschwören zahlreiche Memorabilien, Dokumente und das Ambiente aus der Mitte des 18. Jahrhunderts das Flair vergangener Tage. Die reichen in Whitby aber noch viel weiter zurück, bis in die Tage der Angelsachsen.
Auf der südlichen Seite des Flusses Esk, an dessen Mündungshängen die Stadt aufsteigt, nur einige Gehminuten vom Cook Memorial entfernt, stehen hoch über dem Meer die Ruinen von Whitby Abbey. Gut achthundert Jahre lang behauptete sich die Abtei als spirituelles Zentrum Nordenglands, bis sie unter König Heinrich VIII. dem Verfall überlassen wurde; zumindest das Skelett des Kirchenschiffs steht dank einer Restaurierung in den 1920ern noch heute majestätisch im Wind. Ein Mann namens Caedmon träumte hier im 7. Jahrhundert die ältesten erhaltenen Verse in englischer Sprache. Eine Bildsäule unweit der Abtei, gleich neben den 199 Stufen, die vom Esk hinaufführen, erinnert an den Hirten und Laienbruder.
Sie markiert auch den Eingang zum Friedhof von Whitby, rund um die Kirche Saint Mary’s. Windschief stehen die Grabsteine auf dem sattgrünen Rasen. "The memory of Henry Bennison, Master-Mariner, who departed this life November the 20th 1824", steht darauf zu lesen, oder: "Edward Spencelagh, Master-Mariner, murdered by pirates off the coast of Andros, April 1854".
Darüber können manche aber nur spotten. "All die Steine, die aus Stolz den Kopf hoch tragen, stehen schief - fallen einfach um unter dem Gewicht der Lügen, die auf ihnen stehen. ‚Hier ruht‘ oder ‚Dem geheiligten Andenken‘ steht auf allen, und dabei liegt nicht einmal unter der Hälfte davon auch nur eine Leiche begraben; und um ihr Andenken schert sich keiner auch nur einen Deut und heilig ist es ihnen noch weniger. Alles Lügen, nichts als Lügen, so oder so!"
Die beiden Besucherinnen sind erstaunt. Der alte Mann, an die hundert soll er sein, teilt sehr nachdrücklich seine Erinnerungen und seine Wut mit den jungen Damen aus London. Lucy Westenra hat ihre Freundin Mina Murray zu sich eingeladen, während Minas Verlobter Jonathan Harker im tiefsten Osteuropa ein Immobiliengeschäft abwickelt.
Epischer Seesturm#
Die beiden Freundinnen logieren am Crescent auf der anderen, nobleren Seite des Flusses, doch sie kommen gerne auf den Friedhof, um die Aussicht zu genießen. Ihre liebste Sitzbank liegt ausgerechnet über dem Grab eines Selbstmörders. Und es ist auch diese Bank, auf der Mina, spätnachts im Mondenschein, die somnambule Lucy finden wird, bleich und dem Tode nah. War nicht eben noch eine dunkle Gestalt über die Unglückliche gebeugt?
7. August, in einem der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts: Ein Sturm, wie man ihn noch nicht erlebt hat, peitscht die Nordsee. Boote und Schiffe haben sich in Whitbys schützenden Hafen gerettet. Alle bis auf eines: Weit draußen kämpft sich ein Schoner durch das Unwetter. Doch plötzlich nimmt er Fahrt auf, schießt unter vollen Segeln zwischen den beiden Molen hindurch in das Hafenbecken und setzt den Kiel auf das sandige Ufer gleich unterhalb von Lucys und Minas Aussichtsplatz. Ein riesiger Hund springt von Bord, läuft zum Friedhof hinauf und verschwindet in der Dunkelheit. An Bord der "Demeter" wird keine Menschenseele gefunden; der Kapitän hängt festgebunden und tot am Steuerrad, sein Logbuch berichtet von Todesfällen, Angst, Wahnsinn und einem "Teufel oder Ungeheuer" an Bord.
So meldet es ein Korrespondent des "Daily Telegraph"; doch sein Bericht ist erfunden. Er stammt, wie auch Mina, Lucy und der polternde Hundertjährige, aus Bram Stokers Roman "Dracula", womit wir, nach Caedmon und James Cook, beim dritten berühmten, nun ja, nicht gerade Sohn der Stadt wären, denn geboren wurde dieser irgendwo in Transsylvanien. Zumindest haust er dort, dieser Graf Dracula, als ihm Jonathan Harker ein Grundstück in London verkauft. Nach England gelangt Dracula in einer Kiste, gebettet auf heimatliche Erde, an Bord eben jenes Schoners "Demeter", dessen Mannschaft nach und nach seinem vampirischen Hunger zum Opfer fällt. An Land springt er in Hundsgestalt (Vampire können das), und bevor es nach London geht, rastet Dracula noch ein wenig in einem Grab des Friedhofs von Whitby, auf dem sich nachts die Schlafwandlerin Lucy Westenra einfindet.
Des Grafen Spuren#
Doch warum ausgerechnet Whitby? Die Motive Draculas für diesen Zielhafen sind unbekannt, sicher ist aber, dass Bram Stoker - Schriftsteller, erfolgreicher Theatermanager im Londoner West End und eben Autor von "Dracula" - hier eine Urlaubswoche verbrachte und die Szenerie gut kannte. Tatsächlich sind die Gassen, Wege, der Hafen und der Friedhof im Roman klar wiederzuerkennen, und wenn eine stille Besucherin sich an die Mauer von Saint Mary’s lehnt, ihr Buch sinken lässt und über die Grabsteine, das Meer und die Stadt blickt, sieht sie heute im Wesentlichen noch das Gleiche wie Stoker und seine Heldinnen in den 1890er Jahren.
Und da sich hier die Szenen des ungebrochen populären Romans, der das gruselige Genre wie kaum ein zweiter prägte, so klar über einen realen Ort legen lassen, wandeln Besucher auch gerne auf Draculas Spuren durch Whitby (weit weniger hingegen auf denen James Cooks, und kaum einer ehrt den frommen Dichter Caedmon). Das "Bram Stoker International Film Festival" liegt schon ein paar Jahre zurück, doch auch bei anderen düsteren Gelegenheiten, wie dem "Tomorrow’s Ghosts Festival" Anfang November, füllen sich die Gassen schwarz mit Freunden der Gothic Culture. Der transsylvanische Graf würde da gar nicht auffallen. Vielleicht würde er sich für eine Lanze interessieren, auf der möglicherweise noch ein paar Tropfen Blut eines berühmten Mannes kleben.
Denn es gibt sie tatsächlich, die Lanze, die Captain Cook durchbohrte. Einer seiner Offiziere, der für ihre Echtheit bürgte, nahm sie mit nach England, später wurde sie zu einem Gehstock verarbeitet und 2003 in Edinburgh um 135.000 Pfund versteigert. Seitdem ist sie verschwunden. Der Käufer ist unbekannt.
Andreas Tesarik ist Mitarbeiter der "Wiener Zeitung".