Zwischen Wien und Samarkand #
Vor hundert Jahren reiste Gustav Krist (1894-1937) durch Zentralasien: einmal erzwungen, einmal freiwillig.#
Von der Wiener Zeitung (10. Dezember 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Christian Hütterer
Am 1. März 1937 brachte die "Wiener Zeitung" auf Seite 4 eine kurze Meldung über einen Todesfall: "Nach kurzem Leiden ist der erfolgreiche österreichische Schriftsteller Gustav Krist im 43. Lebensjahre verstorben." In wenigen Zeilen wird in diesem Nachruf erwähnt, dass der Autor im Ersten Weltkrieg Gefangener im russischen Turkestan gewesen sei und ein "geradezu sensationelles" Buch darüber geschrieben habe.
Heute ist dieser Gustav Krist so sehr in Vergessenheit geraten, dass nicht einmal mehr ein Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia an ihn erinnert. Es lässt sich auch nicht viel über die Biografie Krists in Erfahrung bringen, was aber von ihm geblieben ist, das sind zwei Bücher, in denen er seine Erlebnisse in Zentralasien beschreibt.
Jahrzehntelang stritten Russland und Großbritannien im 19. Jahrhundert um die Vorherrschaft in Zentralasien, ein Konflikt, der salopp als The Great Game bezeichnet wurde. Das Zarenreich versuchte, über Turkestan, wie Zentralasien damals meist genannt wurde, nach Süden vorzustoßen, um am Indischen Ozean einen eisfreien Hafen zu errichten. Die Briten als Kolonialherren Indiens wollten dies verhindern und selbst nach Norden expandieren. Russland war in diesem Konflikt erfolgreicher und konnte große Gebiete in Turkestan besetzen. Das Emirat Buchara, das religiöse und kulturelle Zentrum des Islam in Zentralasien, bewahrte zwar auf dem Papier seine Unabhängigkeit, geriet allerdings als Protektorat unter russische Kontrolle.
In Gefangenschaft#
Von Wien aus betrachtet waren Turkestan und Buchara exotische Gegenden, die man nur vom Hörensagen kannte. Dies änderte sich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, denn nach Schätzungen von Historikern waren bis zu 200.000 Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee in diesem Teil des Zarenreiches in Kriegsgefangenschaft. Hier setzt Gustav Krists erstes Buch an. Im Vorwort betont er, dass er sich bemüht habe, "auch die grauenhaftesten Erlebnisse objektiv zu schildern. Das Buch ist wahr vom ersten bis zum letzten Wort. Nicht Dokumente, Statistiken und Erzählungen sind seine Grundlage, es ist erlebt in seiner ganzen Furchtbarkeit". Und furchtbar ist tatsächlich vieles von dem, was Krist zu berichten hat.
Die Geschichte, wie er nach Zentralasien kam, beginnt im Spätherbst 1914 am Ufer des Flusses San, der damals durch das Kronland Galizien floss und heute nahe der ukrainischen Grenze im östlichen Polen liegt. Gustav Krist nennt den Protagonisten des Buches, also sich selbst, Gurk (ein Spiel mit den ersten beiden Buchstaben seines Vor- und Nachnamens?). Über diesen Zugsführer Gurk erfahren wir wenig Persönliches, außer, dass er erfolglos Technik studiert und "fabelhafte mechanische Kenntnisse" hatte.
Jedenfalls wurde Gurk schon bald nach seiner Ankunft an der Front in einem Gefecht schwer verletzt und wachte in einem russischen Spital aus seiner Ohnmacht auf. Damit begann eine Odyssee durch das Zarenreich, bei der sich die Umstände mit jeder Station verschlechterten. Schon bald war der Hunger so groß, dass die Gefangenen um "ein Stückchen Brot auf Leben und Tod stritten und rauften. Die Menschen waren zu Tieren geworden".
Gurk wurde mit seinen Leidensgenossen immer weiter nach Osten verlegt, bis sie schließlich in Turkestan landeten. Dort gab es große Unterschiede zwischen den Lagern, denn während in manchen die Bedingungen schlichtweg erschütternd waren, beschrieb Gurk andere, in denen es zumindest vergleichsweise gut zuging und sogar manch kuriose Situation entstand, in der die Gefangenen ihre Wächter zum Narren hielten.
Gurk fasste den Entschluss, bei der erstbesten Gelegenheit zu fliehen, über Afghanistan, Persien und das Osmanische Reich wollte er nach Wien zurückkehren. Gurk konnte tatsächlich den Wächtern entkommen und marschierte nach Süden bis in die persische Stadt Täbris. Dort fand er eine Stelle bei einem Teppichhändler, mit dem er durchs Land reiste, um Wolle und Teppiche zu kaufen. Die Kenntnisse, die er dabei erwarb, sollten ihm später zugutekommen. Bald kam es aber zu einer unerwarteten Wendung: Im Jahr 1916 marschierte die zaristische Armee in Persien ein, Gurk wurde von den Russen festgenommen und landete wieder in einem Lager.
Die Oktoberrevolution änderte das Leben der Kriegsgefangenen, im Sinne der kommunistischen Völkerverständigung wurden sie von einem Tag auf den anderen zu Genossen, die im Kampf gegen die Bourgeoisie helfen sollten. Auf dem Papier waren die Gefangenen nun freie Männer, sie saßen aber weiterhin in Zentralasien fest, weil es durch den Krieg zwischen "Roten" und "Weißen" keine Transportmöglichkeit gab und der Weg nach Europa mitten durch das Kriegsgebiet geführt hätte.
Viele der ehemaligen Kriegsgefangenen begannen, in sowjetischen Betrieben zu arbeiten. Die Motive waren unterschiedlich, manchen begeisterten sich für die Revolution, andere wurden für die Arbeit eingeteilt, wieder andere wollten schlichtweg ihren Lebensunterhalt verdienen. Die Soldaten aus der Donaumonarchie mit ihren militärischen oder technischen Kenntnissen waren das, was man heute Schlüsselarbeitskräfte nennt, sie fanden in vielen Betrieben oder in der Armee rasch eine Stelle.
Fremd in der Heimat#
Für einige ergab sich noch eine andere Option: Der Emir von Buchara versuchte, die Wirren des russischen Bürgerkriegs zu nutzen, um der fremden Oberherrschaft zu entkommen und die Unabhängigkeit seines Reiches wiederzuerlangen. Auch Gurk wurde angeworben, er sollte eine Banknotendruckerei für das Emirat aufbauen. Religiöse Fundamentalisten, die in Buchara das Sagen hatten, sahen in Geldscheinen aber modernes Teufelszeug und stürmten die Druckerei, bevor sie den Betrieb aufnehmen konnte.
Nach dieser Episode war es endlich so weit, die früheren Kriegsgefangenen fuhren mit Stationen in Petrograd, im Baltikum und in Preußen wieder in die Heimat. Anfang 1922, also mehr als fünf Jahre nach dem Abmarsch an die Ostfront, kam Gurk alias Gustav Krist wieder in Wien an.
Hier sollte es ihn aber nicht lange halten: "Die Existenzmöglichkeiten waren für mich die denkbar ungünstigsten, da ich mich in die geänderten Verhältnisse nur schwer einfügen konnte." Also packte er wieder seine Koffer und reiste nach Persien, wo er für seinen alten Bekannten, den Teppichhändler aus Täbris, zu arbeiten begann. Aus Abenteuerlust entschied sich Krist, noch einmal an die Stätten seiner früheren Gefangenschaft zu reisen. Turkestan war zu dieser Zeit aber Sperrgebiet für Ausländer, und so musste Krist mit falschen Dokumenten und unter abenteuerlichen Umständen die Grenze überschreiten.
Er wurde Zeuge eines tiefgehenden Umbruchs, denn die Rote Armee hatte das Gebiet erobert und die Sozialistische Sowjetrepublik Turkestan ausgerufen. Die Städte Samarkand und Buchara waren bis dahin Zentren der islamischen Gelehrsamkeit und Zivilisation gewesen, mit der Ankunft der Bolschwiken hatte aber ein Kulturkrieg begonnen. "Tausende von Agitatoren überschwemmten das Land", wie Krist berichtete, um kommunistische Ideen zu verbreiten. Dies gelang aber nur teilweise, denn auf seiner Reise sah Krist große Unterschiede zwischen den Städten, in denen die KP Fuß gefasst hatte, und den ländlichen Gebieten, wo die Menschen noch in der traditionellen Weise lebten. Der Druck auf sie stieg aber stetig und viele flohen vor den Kommunisten in immer weiter abgelegene Gebiete.
Krist überwinterte mit Stämmen im Pamir-Gebirge und konnte die zu Ende gehende Kultur der Nomaden miterleben und beschreiben. Ihm war klar, dass ihr Widerstand gegen das sowjetische Regime auf Dauer keinen Erfolg haben würde. Sein Fazit lautete: "In ein oder zwei Jahrzehnten wird der Siegeszug westlicher Kultur den letzten Rest des ungebundenen Nomadenlebens zerstört haben."
Nach mehr als einem Jahr in Turkestan kehrte er nach Persien zurück, irgendwann - genaue Daten lassen sich nicht eruieren - landete er wieder in Wien. Er blieb bei den Teppichen und gründete im Jahr 1929 eine Zeitschrift mit dem klingenden Titel "Die Teppich-Börse. Internationales Fachblatt für die Erzeugung und den Handel mit allen Arten Teppichen, Decken, Möbelstoffen und Linoleum".
Die Zeitschrift war ein Ein-Mann-Unternehmen, denn Krist war Eigentümer, Herausgeber, Verleger und verantwortlicher Redakteur. Nur wenige Ausgaben dieser Zeitschrift sind noch erhalten und viele Beiträge wirken aus der Zeit gefallen. In der "Teppich-Börse" las man über "Neues aus der persischen Teppichindustrie", wenn in Bulgarien eine Linoleumfabrik gebaut wurde, konnte man das hier erfahren, und eine Serie trug den vielversprechenden Titel: "Das Gesamtwissen über antike und neue orientalische Teppiche für Laien, Sammler, Kenner, Kaufleute und Teppichforscher."
Zwei späte Bücher#
Erst später schrieb Krist seine Erinnerungen nieder. 1936 wurde das Buch "Pascholl Plenny" über seine Kriegsgefangenschaft veröffentlicht, im Jahr darauf folgte "Allein durchs verbotene Land: Fahrten durch Zentralasien", in dem er seine zweite und diesmal freiwillige Reise in die Region beschrieb.
Beide Bücher wurden in Rezensionen sehr gelobt, eine englische Übersetzung folgte bald. "Ein erschütternder Tatsachenbericht von russischer Kriegsgefangenschaft, eine moderne Odyssee", hieß es in einer Besprechung über "Pascholl Plenny". Eine andere Zeitung schrieb: "Ein Buch, das jeder gelesen haben sollte", und verglich diese Erinnerungen mit Erich Maria Remarques Klassiker "Im Westen nichts Neues".
Krists Bücher sind auf Deutsch heute nur mehr antiquarisch erhältlich, sein Reisebericht wurde aber im Jahr 1992 auf Englisch neu aufgelegt, also kurz nachdem die zentralasiatischen Republiken ihre Unabhängigkeit erlangt hatten und die Region wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt war.
Heute läuft wieder ein Great Game um Zentralasien, allerdings mit anderen Akteuren: Großbritannien ist nicht mehr bei diesem "Spiel" dabei, dafür streiten vor allem Russland und China, aber auch die Türkei und die USA um Einfluss in der rohstoffreichen Region. In den hundert Jahren, die seit Gustav Krists Aufenthalten in Zentralasien vergangen sind, hat sich dort natürlich viel verändert, seine Bücher bleiben trotzdem lesenswert, weil sie Mahnmale gegen den Irrsinn des Krieges sind und Zeugnisse einer untergegangenen Welt.
Christian Hütterer, geboren 1974, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Wien und Birmingham, schreibt Kulturporträts und Reportagen.