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Ein Experiment und sein blutiges Ende#

50 Jahre Prager Frühling: Ein bisschen Demokratie oder ein bisschen Diktatur kann es nicht geben.#


Von der Wiener Zeitung (18. Mai 2018) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Heinz Fischer


Wilde Szenen spielten sich am 21. August in Prag ab
Wilde Szenen spielten sich am 21. August in Prag ab.
Foto: © ap/ctk/Libor Hajsky

Das Gedenk- und Jubiläumsjahr 2018 bezieht sich im Besonderen auf den 100. Geburtstag der Republik Österreich und den 80. Jahrestag des "Anschlusses" an Hitler-Deutschland im März 1938. Darüber hinaus erinnern wir uns heuer auch an den 70. Jahrestag der Menschenrechtsdeklaration von 1948 und an den sogenannten Prager Frühling 1968.

Als wichtigstes Datum des Prager Frühlings wird meistens der 21. August 1968 gesehen, also jener Zeitpunkt, als Truppen der Sowjetunion und anderer Staaten des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakischen Republik einmarschierten, Prag besetzten und dem Prager Frühling ein brutales Ende bereiteten. Aber die faszinierendsten und spannendsten Ereignisse des Prager Frühlings, die man mit gutem Gewissen als den Anfang vom Ende der kommunistischen Diktaturen in Europa bezeichnen kann, fanden in den Monaten vor dem 21. August statt - ganz besonders im Frühling 1968, wodurch auch der Name "Prager Frühling" entstanden ist. Wilde Szenen spielten sich am 21. August in Prag ab.

Schon in der zweiten Hälfte des Jahres 1967 gab es wachsende Kritik an den herrschenden Zuständen in der tschechoslowakischen Öffentlichkeit, Studentenproteste und wachsende Spannungen im Zentralkomitee. Die Autorität von Staats- und Parteichef Antonín Novotný war im Sinken. Am 4. Jänner 1968 wurde Novotný als Generalsekretär der KPČ vom ersten Sekretär der kommunistischen Partei der Slowakei Alexander Dubček abgelöst, der sich den Ruf eines "Reformers" erarbeitet hatte.

Bemerkenswerte Reformen#

Der Führungswechsel markierte tatsächlich den Auftakt zu einem bemerkenswerten Reformkurs. Am 5. April 1968 wurde ein neues Aktionsprogramm der kommunistischen Partei vorgestellt und drei Tage später Ministerpräsident Jozef Lenárt durch den Reformer Oldřich Černík ersetzt. In der Wirtschaftspolitik gewann Ota ik an Einfluss, der ein Zurückdrängen der Planwirtschaft und eine Stärkung des Marktes forderte. Der tschechoslowakische Schriftstellerverband wurde immer deutlicher zum mutigen Motor und Sprachrohr der Reformbewegung, die in den kommunistischen Parteien der anderen Ostblockstaaten mit wachsendem Misstrauen beobachtet wurde.

Österreich hatte damals einen sehr erfahrenen, mutigen und sachkundigen Diplomaten als Gesandten in Prag, nämlich den späteren Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger, der nach der Wahl Dubčeks zum Generalsekretär der KPČ zunächst einen vorsichtig positiven Bericht nach Wien schickte, in dem es unter anderem hieß: "Alexander Dubček genießt großes Vertrauen in der ČSSR, nicht nur bei seinen slowakischen Landsleuten, sondern auch bei den Tschechen, aber es wird enorm viel von ihm erwartet: mehr individuelle Freiheit, Reformen, eine bessere Wirtschaft, ein größerer Spielraum für die Kulturschaffenden etc." So viel Vertrauen sei auch eine große Bürde, schrieb Kirchschläger und setzte fort: "Dubček wird es daher sehr schwer haben, die vielen Hoffnungen, die mit seiner Person verbunden sind, nicht zu enttäuschen." Ich habe mich später - nach 1989 - oft mit Dubček über das Jahr 1968 und die großen Probleme der damaligen Zeit unterhalten, und es ist eine wirklich gute Freundschaft mit ihm entstanden. Ich war auch bei seinem 70. Geburtstag im Jahr 1991 eingeladen, die Geburtstagsrede zu halten und mit ihm seine Geburtstagstorte anzuschneiden.

Dubček wollte 1968 keinen Umsturz, keine "Rückkehr zum Kapitalismus" und keinen Frontwechsel vom Warschauer Pakt zur Nato, er wollte - wie er es nannte - einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", er wollte Konkurrenz im politischen System zulassen, er wollte die Allmacht der kommunistischen Bürokraten zurückdrängen, die Partei entbürokratisieren und demokratisieren, er wollte mithilfe von Ota ik die tschechoslowakische Wirtschaft modernisieren und konkurrenzfähig machen. Er wollte auch mithilfe seines neuen Außenministers Jiří Hájek mehr außenpolitischen Spielraum für sein Land.

Als Dubček in einer Rede in Brünn vor 50 Jahren zum ersten Mal davon sprach, dass "Selbständigkeit und Unabhängigkeit der ČSSR" künftig die Basis für die tschechoslowakische Außenpolitik sein müssten, berichtete Kirchschläger nach Wien, dass "Selbständigkeit und Unabhängigkeit" zum ersten Mal von einem Generalsekretär der KP in dieser Form erwähnt worden seien und die Erfolgschancen der Prager Reformer durch solche Reden nicht größer, sondern eher kleiner würden.

Spannungen mit der UdSSR#

Tatsächlich hatten zu diesem Zeitpunkt die Spannungen zwischen Prag und Moskau bereits ein beträchtliches Ausmaß erreicht. Kurz darauf traf Dubček mit Leonid Breschnew, dem Chef der KPdSU, in Moskau zusammen, und der österreichische Botschafter Walter Wodak berichtete Mitte Mai 1968 aus Moskau, dass im sowjetischen Politbüro immer mehr Stimmen für eine militärische Intervention laut würden. Der Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Andrej Kirilenko, sei der Scharfmacher, Ministerpräsident Alexei Kossygin bremse, Breschnew schwanke noch, aber die Situation sei gefährlich. Neuere Forschungen haben übrigens ergeben, dass Breschnew die Befürworter einer militärischen Intervention länger gebremst hatte als bisher bekannt.

Am 27. Juni 1968 waren die "2000 Worte an jedermann" des tschechoslowakischen Schriftstellers und Journalisten Ludvík Vaculík publiziert worden, in denen er die Öffentlichkeit aufforderte, durch Kritik und Demonstrationen den Rücktritt von Personen zu fordern, die ihre Macht missbraucht hätten. Zu dieser Zeit begann sich in der Sowjetunion die politische Waagschale in Richtung militärischer Intervention zu senken. Geradezu demonstrativ wurde eine Militärübung des Warschauer Paktes auf dem Gebiet der ČSSR beschlossen und durchgeführt.

Die historische Begegnung von Dubček mit Breschnew in Čierna nad Tisou von 29. Juli bis 1. August war ein Wendepunkt. Der Eindruck der Öffentlichkeit und auch die Berichte der österreichischen Botschaft waren zunächst unvollständig und ungenau, weil man damals in der Öffentlichkeit noch nicht wusste, dass eine Gruppe tschechoslowakischer Hardliner unter der Führung von Vasil Bilak und Alois Indra heimlich einen Brief an Breschnew übergeben hatte, mit der Bitte um "brüderliche Hilfe" bei der Bekämpfung "konterrevolutionärer Tendenzen". Tatsächlich entschied am 16. August das Politbüro in Moskau, in der ČSSR militärisch einzugreifen, und die sowjetische Intervention mit Unterstützung von Militär aus anderen Staaten des Warschauer Paktes fand in der Nacht auf 21. August statt.

So labil die Situation in den Tagen und Wochen vorher auch war, wurde die Weltöffentlichkeit doch von der Nachricht der Militärintervention überrascht und geschockt. Das war auch in Österreich so. Es war und ist dem damaligen österreichischen Gesandten in Prag, Rudolf Kirchschläger, sehr hoch anzurechnen, dass er ausreisewilligen tschechoslowakischen Staatsbürgern das Gelände des Gesandtschaftsgebäudes offen hielt und an dieser Linie auch festhielt, als es in Wien starke Bedenken dagegen gab.

Mehrere tausend Visa pro Tag#

Ab 23. August 1968 wurden in Prag täglich mehrere tausend (!) Einreisevisa nach Österreich ausgestellt. Im Oktober berichtete Österreichs Innenminister Franz Soronics den Medien in Wien, dass seit 21. August 96.000 tschechoslowakische Staatsbürger aus der ČSSR und 60.000 aus Jugoslawien nach Österreich eingereist seien. Um Asyl suchten allerdings nur 2248 ČSSR-Staatsbürger an. Bis Anfang Dezember 1968 erhöhte sich die Zahl der Einreisen nach Österreich auf 208.000. Es ist ein Faktum, dass ein beträchtlicher Teil der damaligen Emigranten aus der ČSSR in andere Länder weiterreiste, ein Teil in Österreich verblieb (und sich relativ gut integrieren konnte) und ein weiterer Teil in die ČSSR zurückkehrte.

Eine große Rolle spielten in dieser Zeit auch der österreichische Rundfunk und das Fernsehen. Der ORF war nämlich in der ČSSR in einem breiten Streifen entlang der Grenze zu Österreich gut zu empfangen. Und er war bei seiner Berichterstattung über die Vorgänge in unserem nördlichen Nachbarland sehr aktiv.

Heinz Fischer
Heinz Fischer
© apa/Fohringer

Blickt man heute auf die vergangenen 60 Jahre zurück, dann könnte man sagen: Wir wurden Zeugen einer dramatischen Entwicklung in drei Akten. Der 1. Akt fand rund um das Jahr 1956 in Budapest statt, der 2. Akt vor genau 50 Jahren in Prag und der 3. Akt 1989 in ganz Osteuropa. Die wichtigste Lehre in dieser Entwicklung lautet für mich, dass Demokratie und Diktatur in so hohem Maße unvereinbar sind, dass es ein bisschen Demokratie oder ein bisschen Diktatur nicht geben kann. Wenn autoritäre und diktatorische Tendenzen in einer Gesellschaft überwiegen, dann geht die Demokratie letztlich zur Gänze verloren. Und wenn demokratische Elemente sich in einer Diktatur verbreitern, dann wird die Diktatur zusammenbrechen. Eine Koexistenz zwischen Demokratie und Diktatur in ein und demselben Land zur selben Zeit ist nicht möglich. Darum muss man autoritären Tendenzen von Beginn an energisch und konsequent entgegentreten.

Zum Autor#

Heinz Fischer#

wurde 1938 in Graz geboren. Von 2004 bis 2016 war er österreichischer Bundespräsident. Davor war er ab 1971 Abgeordneter der SPÖ zum Nationalrat (ab 1975 Klubobmann), von 1983 bis 1987 Wissenschaftsminister und von 1990 bis 2004 zunächst Erster und dann Zweiter Nationalratspräsident.

Wiener Zeitung, 18. Mai 2018