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Wien als Fluchtstation#

Nach der Arisierung ihres Berliner Buchladens glaubt sich die Familie Winter 1936 bei ihrer Verwandtschaft in Wien sicher. Wie sich der heute 93-jährige Berthold Winter an die Zeit des "inneren Anschlusses" erinnert.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 7./8. März 2015) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Katharina Ludwig


Berthold Winter
Berlin, Wien, Buenos Aires, Berlin: Das sind die Lebensstationen von Berthold Winter.
© Foto: Thilo Rückeis

Mit der Figur des Don Giovanni, dem Frauenhelden aus Mozarts Oper, hat der Berliner Berthold Winter nie viel anfangen können - und dennoch atmet der 93-Jährige bei dieser Musik heute noch schwer. Früher hat sein Vater, Arnold Winter, die Melodien während der morgendlichen Rasur gesungen und gepfiffen. Heute erinnern sie Berthold an den letzten Abend in Wien - und an all das, was er durch die Nazis unwiederbringlich verlor. "Symphonien, Solostimmen, Arien und Lieder sind mir alle wichtig", sagt Berthold Winter, "aber diese Oper nimmt mich heute noch mit."

Der Bahnsteig am Anhalter Bahnhof ist menschenleer am 5. April 1936, als der 14-jährige Berthold und seine Mutter Herta in den Zug steigen, um in die Heimatstadt des Vaters zu flüchten, nach Wien. Den Buchladen mit Leihbücherei und Antiquariat, den sich die Eltern gemeinsam aufgebaut hatten, mussten sie bis Ende 1935 an einen nicht-jüdischen Interessenten verkaufen. Die Eltern sahen in Berlin keine Zukunft mehr.

Nur Besuchervisa#

Wien ist die Geburtsstadt von Arnold Winter. Dort hatte er seine Ausbildung zum Buchhändler gemacht, bevor er 1915 als 19-Jähriger nach Berlin ging. 1917 musste er sich in Wien stellen und im Ersten Weltkrieg für die österreichisch-ungarische Monarchie kämpfen. Nun, angesichts der Bedrohung durch die Nazis, stellt sich das österreichische Konsulat in Berlin gegen die Flucht der jüdischen Familie nach Wien: die österreichische Staatsbürgerschaft erkennt der Beamte nicht an, weil der Vater sie nach Kriegsende zwar beantragt hatte, aber nicht nach Wien zurückgekehrt war. Auch ein gewöhnliches Einreisevisum bewilligt man der Familie nicht. Nur separate Besuchervisa, die für drei Monate gültig sind. Erst eines für den Vater, und wenn das abgelaufen ist, je eines für Mutter und Kind. Dabei hatte sich die Familie Österreich zugehörig gefühlt. "Ich bin als kleiner Österreicher in Berlin aufgewachsen", erinnert sich Berthold Winter.

Mutter und Sohn haben nicht viel dabei bei der Abreise: in einer Konfektschachtel, zusammen mit ihren Nähutensilien, bewahrt Herta Winter die beiden Briefe der Reichsschrifttumskammer auf, die die Arisierung des Ladens belegen. Ein gutes Kleid ist im Gepäck, mit dessen Stoff der Sohn später in Buenos Aires verschlissene Bücher restaurieren wird. Berthold hat sein geliebtes Fahrrad mit dabei. Er wird es bis nach Argentinien bringen. Mehr als 10 Reichsmark pro Person dürfen sie nicht ausführen. Mit einem Trick gelingt es dem Vater, etwas später nach Wien nachzukommen: er beantragt ein Besuchervisum für Italien und damit ein Durchreisevisum für Österreich. In Innsbruck steigt er aus dem Zug nach Italien aus und fährt weiter nach Wien.

Eltern und Sohn campieren in der Wohnung der Großeltern, im 3. Bezirk. Die Lokomotiven fauchen, wenn sie die Güterzüge direkt am Haus in der Unteren Viaduktgasse vorbei ziehen. Früh am Morgen, abends und nachts wacht der Bub auf von dem Lärm. Die Toilette teilt man sich auf dem Gang. Außer den Großeltern, der Tante Rosa mit ihrem Mann und deren zwei Kindern, Kurt und Liesl, kennt Berthold niemanden in der Stadt - aber bei der Familie fühlt er sich zu Hause. Noch heute kann Berthold Winter zärtlich beschreiben, wie die Großmutter über einer ausgebreiteten Zeitung den Strudelteig zog, so dünn, bis er fast durchsichtig war. Wie sie jeden Nachmittag in dasselbe Kaffeehaus ging, um die Zeitung zu lesen. Und wie auch die Urgroßmutter, die gar nicht lesen konnte, dort eine Zeitung bekam.

Der Großvater, Moritz Winter, war früher Buchhalter in einer Textilfirma und ist schon in Pension. Er erzählt dem 14-Jährigen, wie das österreichische Heer 1927 auf Teile der eigenen Bevölkerung geschossen hat. Berthold weiß, dass er in der Öffentlichkeit den Mund halten muss - und geht doch einmal zur Anzeigenannahmestelle: "Bin hier in Wien, mit Eltern aus Berlin hier her geflohen, darf nicht arbeiten, meine Eltern auch nicht - mein Vater war Soldat für Österreich-Ungarn. Sehe nicht, warum uns Unrecht geschieht", schreibt er auf. Die Anzeige wird nicht angenommen.

Die Familie hat keine Arbeitserlaubnis, in die Schule kann Berthold - mittlerweile 15 Jahre - auch nicht. Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) gibt ihnen Essensmarken für Mittagessen in der Gemeindeküche und auch ein Taschengeld für das Frühstück. Über 3100 Menschen, die seit 1933 aus Deutschland nach Wien emigriert sind, werden von der IKG betreut. Aber auch immer mehr Wiener Juden und Jüdinnen sind auf Unterstützung angewiesen: Angestellte und Arbeiter, Anwälte, Ärzte und Künstler können sich wirtschaftlich nicht mehr erhalten. 44.000 Personen regis-triert die IKG in der "Allgemeinen Fürsorge" im Jahr 1932, vier Jahre später sind es schon 60.000.

Der Sachbearbeiter der IKG und die Sekretärin versuchen, die Hand über alle zu halten, und sind zunehmend überfordert. Auch ein Pastor aus Schweden besucht das Kaffeehaus im 2. Bezirk, in dem sich viele Exilanten treffen und verteilt nach Gebet und Gespräch etwas Geld. "Die Religion stand nicht im Vordergrund, nur die Not", erinnert sich Berthold Winter. "Das, was man hinter sich gelassen hatte, die Traurigkeit, die Existenz. Und bei den Erwachsenen speziell die Überlegung: wie geht es weiter?"

Zu "piefkemäßig"#

Berthold verbringt viel Zeit als Tagesgast im Kinderheim des konfessionsübergreifend tätigen Jugendfürsorgevereins "Gute Herzen". (1938 wird der Verein als jüdisch eingestuft und aufgelöst.). Dort bekommt er ein Mittagessen und ist im Kontakt mit anderen Jugendlichen. Ein Bub aus dem Königreich Jugoslawien imponiert ihm besonders, weil er Violine spielen kann. Berthold selbst war in Berlin bei einer Kinderradiogruppe als Jungschauspieler tätig.

Kurz nach seiner Ankunft in Wien hatte er beim österreichischen Radio, der Ravag, vorgesprochen und "Wilhelm Tell" rezitiert. Doch dem Redakteur war seine Aussprache zu "piefkemäßig". Ein Ausbildungsangebot in einer Zeltfabrik, das ihm ein unterstützender Geschäftsmann später vermittelte, scheiterte am fehlenden Staatsbürgerschaftsnachweis. Mit seinem Rad erkundet Berthold die Stadt: die Reichsbrücke, die Kärntner Straße, Schloss Schönbrunn. Die Delikatessen-Handlung auf dem Radetzkyplatz verkauft ein bis zwei Mal pro Woche gebratenes Geflügel. Manchmal bekommt er Reste.

Berthold Winter wird krank und muss in die HNO-Abteilung des Universitätsklinikums, wo er mit Anna Freud ins Gespräch kommt. Die Psychoanalytikerin, Tochter von Sigmund Freud, arbeitet dort mit Kindern. Sie vermittelt eine Statistenrolle am Theater und später noch zwei Tage Arbeit für einen Film mit Heinz Rühmann. Arm in Arm mit einer anderen Statistin spaziert Berthold aus dem Theater. Mit den paar Groschen, die er sich verdient, kauft er sich Mannerschnitten und ein Himbeer-Soda und geht am Donaukanal spazieren. Er beobachtet den Zeitungsverkäufer, wie er Vögel füttert und mit jedem ein paar Worte spricht. "In meiner Jugend habe ich Wien wirklich geliebt", sagt Berthold Winter heute. Später in Argentinien wird er von den Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung erfahren und sich schwören: nie wieder nach Wien!

Am 11. Juli 1936 vereinbaren die deutsche und die österreichische Regierung unter Schuschnigg eine Amnestie für inhaftierte Nationalsozialisten. Von nun an sind zwei Vertrauenspersonen Nazi-Deutschlands in der Regierung. Es ist der "innere Anschluss" Österreichs. Berthold Winter ist in diesem Sommer für einige Wochen in einem Heim der "Guten Herzen" in Neulengbach in Niederösterreich untergebracht. In einer Lokalzeitung liest er von dem Besuch einer deutschen Wirtschaftsdelegation in Wien und von Hakenkreuzfahnen an der Fassade des Hotel Imperial zur Begrüßung. Für den 15-Jährigen ist klar, dass die Familie in Wien nicht mehr sicher ist. Er besteht darauf, vorzeitig zurück zu seinen Eltern zu fahren.

Für eine Ausreise nach Palästina hat die Familie zu wenig Geld, Bemühungen um ein Visum für die USA und Russland scheitern. Die IKG kann nach Südamerika vermitteln und bucht für Berthold Winter und seine Eltern drei Plätze auf einem Schiff von Marseille nach Buenos Aires. Es soll am 30. Dezember 1936 auslaufen.

Abends sitzt die Familie mit anderen Emigranten zusammen, die sich ebenfalls in Wien nicht mehr sicher fühlen, und sie beginnen Spanisch zu lernen. Ein Geschäftsmann, der die Familie die ganze Zeit lang unterstützt hat, schenkt ihnen zum Abschied drei Karten. Am 25. Dezember 1936 dirigiert Bruno Walter in der Staatsoper (die vor 1938 noch Operntheater heißt) "Don Giovanni". Ein jüdischer Dirigent aus Berlin, der die österreichische Staatsbürgerschaft annahm: Er wird Österreich 1938, zwei Jahre später als die Familie Winter, verlassen. "Eine Jahrhundertaufführung", erinnert sich Berthold. "So etwas Schönes hatte ich noch nie miterlebt."

Exil in Buenos Aires#

Am nächsten Tag fährt die Familie vom Westbahnhof aus über die Schweiz nach Marseille. Die Wiener Verwandtschaft glaubt, in Österreich bleiben zu können. Alle werden ermordet: Berthold Winters Tante Rosa, der Cousin und die Cousine in Auschwitz, sein Onkel im KZ Majdanek bei Lublin. Der Sachbearbeiter der Israelitischen Kultusgemeinde stürzt sich von der Reichsbrücke, auch die Sekretärin begeht Suizid. Von den Großeltern verliert sich nach 1938 jede Spur.

Berthold Winter lebt heute in einem kleinen Haus am Stadtrand Berlins. Nach dem Exil in Buenos Aires ist er 1964 nach Berlin zurückgekehrt und hat wieder einen Buchladen eröffnet. Zwanzig Jahre lang hat er gegenüber deutschen Behörden um Entschädigung gekämpft. Sein Versprechen, nie wieder nach Wien zurückzukehren, hat er ein Mal in den 1990er Jahren gebrochen, für ein Neujahrskonzert. Er vergisst nicht, was Wien den jüdischen Mitbewohnern und seiner Familie angetan hat, sagt Winter, aber er würde doch gerne wieder einmal kommen.

Katharina Ludwig, geboren 1982 in Graz, ist Journalistin und Autorin. Sie arbeitet u.a. für den "Tagesspiegel" in Berlin. Kontakt auf Twitter: @kolleginludwig

Information#

Berthold Winter: Schwierige Rückkehr. Das Schicksal einer jüdischen Berliner Buchhändlerfamilie. Metropol Verlag, Berlin 2013.
Wiener Zeitung, Sa./So., 7./8. März 2015