Verführung oder Gewalt?#
Von der Wiener Zeitung (8. März 2008) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Rolf Steininger
"Als Führer und Kanzler der Deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich!" Mit diesen Worten beendete Adolf Hitler am Mittag des 15. März 1938 – einem Dienstag – die "Befreiungskundgebung" auf dem Heldenplatz in Wien, wo sich weit über hunderttausend Menschen eingefunden hatten. Hitlers "Vollzugsmeldung vor der Geschichte" vom Balkon der Neuen Hofburg wurde von der Menge mit nicht enden wollendem Jubel und "Sieg-Heil!"-Rufen beantwortet. Vor aller Welt sichtbar, war Österreich "heim ins Reich" geholt worden.
Anschlusswünsche#
"Heim ins Reich!" "Ein Volk, ein Reich!", "Großdeutschland unsere Zukunft!" – so und so ähnlich lauteten schon 1918/19 die Parolen in Österreich. Am 2. März 1919 wurde in Berlin in einem geheimen Protokoll festgelegt, wie "mit tunlichster Beschleunigung" der Zusammenschluss der beiden Staaten durchzuführen sei: Demnach sollte Österreich als "selbständiger Gliedstaat" mit gewissen Sonderrechten (etwa Wien als gleichberechtigte zweite Hauptstadt, in der sich der Reichspräsident zeitweise aufhalten sollte) Deutschland angeschlossen werden; verschiedene paritätisch besetzte Kommissionen sollten die Angleichung der beiden Rechts-, Handels-, Verkehrs-, Unterrichts- und Sozialordnungen vorbereiten. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs beendeten diese Politik mit den Anschlussverboten in den Verträgen von Versailles (Deutschland) und St. Germain (Österreich).
In den Augen vieler war Österreich damals nicht lebensfähig; und für all jene, die an diesen jungen Staat nicht glauben wollten, schien der Anschluss der einzig mögliche Weg aus dem immer größer werdenden Elend zu sein. Die Anschlussbewegung verlagerte sich weitgehend auf die Länder, vor allem auf Tirol, Salzburg und die Steiermark. Am 24. April 1921 fand in Tirol eine Abstimmung statt, bei der 98,75 % der abgegebenen Stimmen für den "Zusammenschluss" mit dem Deutschen Reich waren. Dabei hegte man die – vergebliche – Hoffnung, dass auf diese Weise Südtirol zurückgewonnen werden könnte.
Der Völkerbund gewährte Österreich im Oktober 1922 eine Anleihe, wobei sich die Republik aber erneut verpflichten musste, für die nächsten 20 Jahre "ihre Unabhängigkeit nicht aufzugeben". Für die späteren Ereignisse ist besonders interessant, dass sich Großbritannien, Frankreich, Italien und die Tschechoslowakei ihrerseits verpflichteten, "die politische Unabhängigkeit, die territoriale Integrität und die Souveränität Österreichs" zu achten.
Der Anschlussgedanke war damit allerdings noch nicht tot. In den folgenden Jahren wurden in Deutschland und Österreich "Arbeitsgemeinschaften" und "Volksbünde" ins Leben gerufen, die bald mehrere hunderttausend Mitglieder zählten und massive Anschlusspropaganda betrieben. 1931 ergriff Deutschland die Initiative, um mit Österreich eine Zollunion zu gründen. Dem geheim betriebenen Unternehmen sollte dabei ein "paneuropäisches Mäntelchen" umgehängt werden, wie es Staatssekretär von Bülow im Auswärtigen Amt in Berlin formulierte. Das Projekt scheiterte allerdings und wurde zum Sündenfall der deutschen Außenpolitik. Der Gedanke der internationalen Zusammenarbeit in Europa wurde damals zu Grabe getragen.
Für Hitler war der Anschluss die erste Voraussetzung für die Schaffung "Großdeutschlands", das wiederum eine der Voraussetzungen für die Realisierung seines außenpolitischen Programms war. 1933/34 unternahm er, in der Hoffnung, die aktuelle Dynamik der NS-Bewegung ausnützen zu können, den Versuch, den Anschluss auf schnellstem Wege herbeizuführen. Er scheiterte jedoch an der Haltung des autoritär regierenden Engelbert Dollfuß, der seit dem Frühjahr 1934 einen Zweifrontenkrieg führte - gegen Nationalsozialisten und Sozialdemokraten. Da im "Ständestaat" fast zwei Drittel der Bevölkerung von der politischen Mitgestaltung ausgeschlossen waren, war die Überwindung der Anschlussidee zum Scheitern verurteilt.
Hitlers Versuch der "schnellen Lösung" endete mit dem Putschversuch der österreichischen Nationalsozialisten am 25. Juli 1934. Dollfuß fiel zwar den Putschisten zum Opfer, der Putsch selbst aber brach angesichts der entschlossenen Haltung der Regierung und des Bundesheeres nach wenigen Stunden zusammen. Berlin distanzierte sich von den Putschisten - nicht zuletzt unter dem Eindruck von Mussolinis Entscheidung, fünf Divisionen in Richtung Grenze in Marsch zu setzen.
"Evolutionäre Lösung"#
Nun setzte man auf die "geistige Durchdringung" Österreichs. Das Land sollte von innen heraus unterhöhlt werden, was letztlich auch gelang. Mussolinis Abessinienabenteuer bewirkte im Herbst 1936 die "Achse Berlin-Rom". Ende 1937 befand sich Österreich innen- und außenpolitisch in einer fast hoffnungslosen Lage: Hitler hatte von Mussolini freie Hand im Hinblick auf Österreich erhalten. Der Nachfolger des ermordeten Dollfuß, Kurt von Schuschnigg, hat den Ernst der Lage wohl unterschätzt, sonst wäre er kaum zu jenem Treffen mit Hitler am 12. Februar 1938 am Obersalzberg in Berchtesgaden bereit gewesen. Falls er gehofft haben sollte, bestehende Differenzen klären zu können, so gab es für ihn ein böses Erwachen. (Die gleiche Befürchtung hatten die Briten 1955, als Bundeskanzler Julius Raab die sowjetische Einladung nach Moskau annahm; mehrfach wurde auf "Berchtesgaden" verwiesen).
Hitler diktierte Schuschnigg ein auf drei Tage befristetes Ultimatum, die österreichische Politik der deutschen anzupassen, der NSDAP Betätigungsfreiheit und Amnestie zu gewähren und einen Nationalsozialisten zum Innenminister mit unbeschränkter Polizeikompetenz zu ernennen. Für den Fall der Ablehnung drohte er mit dem Einmarsch der Wehrmacht.
Anfang März versuchte Schuschnigg, die Initiative zurückzugewinnen und löste damit den letzten Akt des Dramas aus. Mit dem einstigen Kampfruf des Tiroler Freiheitshelden Andreas Hofer, "Mander, es isch Zeit!" , kündigte er am 9. März in Innsbruck die Abhaltung einer Volksbefragung für Sonntag, den 13. März, an. Die Parole sollte lauten: "Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich!"
Hitler und seine Paladine befürchteten wohl zu Recht, dass eine Mehrheit für Österreich stimmen würde. Das musste verhindert werden: Hitler benötigte für die weitere Kriegsvorbereitung Österreichs Arbeitskräfte, Rohstoffe und Devisen. Der 10., 11. und 12. März 1938 waren von Chaos, Kompetenz- und Entscheidungswirrwarr in Wien gekennzeichnet, der 11. März wurde zum entscheidenden Tag.
Die März-Ereignisse#
Die Chronologie der wichtigsten Ereignisse stellt sich in Kurzfassung folgendermaßen dar: Am Vormittag des 10. März reagierte Hitler auf Schuschniggs Rede; er befahl, das "Unternehmen Otto", d. h. den Einmarsch in Österreich, für den 12. März vorzubereiten; um 18.30 Uhr wurde der entsprechende Mobilisierungsbefehl erteilt; Edmund Glaise-Horstenau, der sich zufällig in Deutschland aufhielt, wurde beauftragt, sofort nach Wien zurückzukehren und Schuschnigg ultimativ aufzufordern, die Volksbefragung zu verschieben. Ein Erfolg dieser Befragung schien sicher, als am Morgen des 11. März das Zentralkomitee der Revolutionären Sozialisten die Arbeiter aufforderte, mit "Ja" zu stimmen.
Dem folgten an diesem Tag gleich drei Ultimaten der österreichischen Nationalsozialisten in Wien - jeweils nach Rücksprache mit Berlin:
1. Um 10.00 Uhr wurde Schuschnigg von Arthur Seyß-Inquart, seit dem 16. Februar Innen- und Polizeiminister, und Glaise-Horstenau unter Androhung ihres Rücktritts – was den Bruch des Berchtesgadener Abkommens bedeutet und Hitler den offiziellen Grund zum Einschreiten gegeben hätte – aufgefordert, die Volksbefragung abzusetzen; Schuschnigg akzeptierte um 11.30 Uhr. Um 13.00 Uhr unterzeichnete Hitler die Weisung Nr. 1 für den Einmarsch am 12. März. Eventueller Widerstand sollte "mit größter Rücksichtslosigkeit durch Waffengewalt" gebrochen werden.
2. Wenige Minuten nach 13.00 Uhr folgte das bis auf 17.30 Uhr befristete zweite Ultimatum von Seyß-Inquart: Rücktritt des Kabinetts und Neubildung durch ihn. Fast gleichzeitig begann in den Städten und Ländern die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten; das alte Regime brach nahezu widerstandslos zusammen. Als diplomatische Anfragen in Paris, London und Rom deutlich machten, dass von dorther keine Hilfe zu erwarten war, trat Schuschnigg um 16.00 Uhr zurück. Wenig später folgte das
3. Ultimatum, diesmal an Bundespräsident Wilhelm Miklas: bis 19.30 Uhr Ernennung von Seyß-Inquart zum neuen Bundeskanzler, andernfalls Einmarsch der deutschen Truppen. Während Miklas sich noch weigerte, kapitulierte Schuschnigg; er verabschiedete sich um 20.00 Uhr über den Rundfunk von seinen Landsleuten und gab Ultimatum und Einmarschdrohung bekannt. Das Bundesheer wurde angewiesen, beim Einmarsch deutscher Truppen sei "kein Schuss abzugeben" .
In der Diskussion um einen möglichen militärischen Widerstand Österreichs wird gern übersehen, dass es keinen politischen Willen für einen solchen Schritt gab: Die Nationalsozialisten hatten praktisch schon die Macht im Lande übernommen, es gab keine funktionsfähige Regierung mehr, die Truppen waren von "illegalen Elementen" , sprich Nationalsozialisten, durchsetzt. Eine andere Frage ist, was wohl geschehen wäre, wenn Schuschnigg mit der Regierung ins Exil gegangen wäre und die Alliierten in ihrer Nachkriegsplanung auf diese Regierung hätten zurückgreifen können. Im ersten britischen Memorandum über "Die Zukunft Österreichs" vom April 1943 wurde eben darauf verwiesen.
Am 11. März um 23.00 Uhr wurde Seyß-Inquart von Miklas zum neuen Bundeskanzler ernannt. Obwohl der Sieg der österreichischen Nationalsozialisten damit vollständig war, änderte dies nichts an der von Hitler um 20.45 Uhr unterzeichneten Weisung Nr. 2, am 12. März bei Tagesanbruch mit dem Einmarsch zu beginnen; die letzte Ungewissheit auf Seiten Hitlers wurde am späten Abend beseitigt, als aus Rom mitgeteilt wurde, Mussolini habe nichts gegen die Aktion.
Der Jubel der Österreicher beim Einmarsch der deutschen Truppen am 12. März übertraf alle Erwartungen und trug zu Hitlers Entschluss bei, den Anschluss durchzuführen, ohne die zunächst beabsichtigte Übergangsregelung abzuwarten. Als letzten Akt seiner zweitägigen Kanzlerschaft unterzeichnete Seyß-Inquart am 13. März in Linz das Gesetz über die "Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich" . In London fragte man sich später, ob die Österreicher vergewaltigt oder verführt worden seien ( "rape or seduction" ).
Die Volksabstimmung#
Neben Begeisterung und viel Opportunismus gab es damals allerdings auch Österreicher, die mit dem, was da geschah, nicht einverstanden waren – auch wenn sie weitgehend unbemerkt blieben, denn Himmlers Schergen griffen schnell zu; die Öffentlichkeit sah nur Bilder vom Jubel und von Hitlers Auftritt am 15. März auf dem Heldenplatz in Wien. Wo noch Skepsis herrschte, wurde sie in den Wochen bis zur Volksabstimmung am 10. April von einem bisher nicht dagewesenen Propagandafeldzug erstickt – nicht ohne Zutun der Österreicher selbst.
Die katholischen Bischöfe begrüßten es, "dass durch das Wirken der nationalsozialistischen Bewegung die Gefahr des alles zerstörenden gottlosen Bolschewismus abgewehrt wurde" , und wollten "dieses Wirken für die Zukunft mit ihren besten Segenswünschen begleiten"; Kardinal Innitzer unterzeichnete die Botschaft mit "Heil Hitler" . Karl Renner erklärte: "Obschon nicht mit jenen Methoden, zu denen ich mich bekenne, errungen, ist der Anschluss nunmehr doch vollzogen, ist geschichtliche Tatsache; und diese betrachte ich als wahrhafte Genugtuung für die Demütigungen von 1918 und 1919 [. . .] Als Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, als erster Kanzler der Republik Österreich werde ich mit ‚Ja’ stimmen."
Wer wollte als Katholik oder Sozialist bei solchen "Vorgaben" noch mit "Nein" stimmen? Entsprechend war denn auch das Ergebnis. Auf die Frage: "Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?" gab es in Österreich 4.453.772 (= 99,73) Prozent Ja-Stimmen, 11.929 Nein-Stimmen und 5.776 ungültige Stimmzettel. Dabei ist davon auszugehen, dass es Wahlfälschungen im großen Stil nicht gab - sie waren unter den gegebenen Umständen auch nicht nötig.
Bei vielen Österreichern trat schon bald Ernüchterung ein. Hitler hatte die österreichischen Nazis nie besonders gemocht, aus diesem Grund übernahmen Nationalsozialisten aus dem "Altreich" führende Positionen in Österreich. Bis Dezember 1938 befanden sich rund 21.000 Österreicher in "Schutzhaft"; etliche von ihnen wurden ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert; es gab systematischen Terror und Racheakte und schlimme antisemitische Ausschreitungen mit zahlreichen Selbstmorden – dies war nur möglich, weil der Antisemitismus in Österreich tief verwurzelt war. Von März bis Mai nahmen sich allein in Wien 203 Juden das Leben (im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor waren es nur 19 gewesen). Am 8. Mai wurde auf Weisung Hitlers mit der Errichtung des Konzentrationslagers Mauthausen begonnen.
Aus Österreich wurde erst die "Ostmark", dann "Alpen- und Donaugaue". Von der Höhe einer reichen Kulturnation sank das Land in Provinzialismus ab. Dies wollte von all jenen, die beim Anschluss gejubelt hatten, wohl niemand, genauso wenig wie sie den 1939 beginnenden Krieg wollten. Die meisten Österreicher taten in diesem Krieg zwar ihre "Pflicht", aber für viele galt wohl auch, was der Sozialdemokrat und spätere Bundespräsident Adolf Schärf einem Vertreter des deutschen Widerstandes 1943 gesagt hatte: "Der Anschluss ist tot, die Liebe zum Deutschen Reich ist den Österreichern ausgetrieben worden."
Rolf Steininger, geboren 1942, ist Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck.