Der Fall des glücklosen Kaisers #
Vor 100 Jahren starb Karl I., der nach seinem Aufstieg im medialen Blitzlichtgewitter nur knapp zwei Jahre lang regierte.#
Von der Wiener Zeitung (27. März 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Anton Holzer
Der letzte österreichische Kaiser, Karl I., starb mit 34 Jahren am 1. April 1922 an einer Lungenentzündung. Die Zeit im Exil verbrachte der in Österreich abgesetzte und des Landes verwiesene Habsburger in der Schweiz und ab Ende 1921 auf Madeira. Dass Karls Todestag auf den Tag der scherzhaften Lügen fiel, ist natürlich dem Zufall geschuldet.
Oft häufen sich freilich die Zufälle. Drei Jahre zuvor, 1919, wurde, ebenfalls am 1. April, das kaiserliche Schloss Schönbrunn, in dem wenige Tage vorher noch Karl mit seiner Frau Zita und den Kindern gewohnt hatte, für das Publikum freigegeben. In Massen strömten die Wiener in die seit kurzem verwaisten kaiserlichen Räume, um zu sehen, in welchem Prunk ihr abgesetzter Herrscher gelebt hatte. Der Kontrast zum armseligen Leben in der Stadt, das in diesem Winter von Hunger und Not geprägt war, konnte größer nicht sein.
Besonderer Beliebtheit bei den voyeuristischen Besuchern erfreute sich das Schlafzimmer des kaiserlichen Paares. Egon Erwin Kisch, der zu dieser Zeit als junger Reporter in Wien lebte, berichtete Anfang April 1919 in der Tageszeitung "Der neue Tag" über die neuen Schlosstouristen: "Seit dem 1. dieses Monats werden Besucher gegen Eintrittsgebühr von einer Krone über die eisglatten Parketts der Fremden- und Zeremonialappartements geführt, in die große Galerie, in das chinesische Rundkabinett, in das Karussellzimmer, den Zeremoniensaal, den Gobelinsalon (...) und in das Schlafzimmer, wo (...) Exkaiser Karl und Exkaiserin Zita bis zum November genächtigt haben." Und er ergänzte süffisant: "Wenn so ein alter Habsburger, zum Exempel Kaiser Franz Joseph, vom Himmel die Bewilligung bekäme, jetzt oder in zwei Monaten sein Schönbrunner Lustschloß zu besichtigen - er würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen."
Ein neues Image#
Kaiser Karl hatte sich, als er nach dem Tod des greisen Kaisers Franz Joseph (der übrigens ebenfalls an einer Lugenentzündung starb) die Regentschaft der Monarchie übernahm, seine Zukunft und die seines Landes gewiss anders ausgemalt, als sie schließlich kam. Als er in der Nacht vom 23. auf den 24. März 1919 mit einigen wenigen Vertrauten Österreich für immer verließ, weinte die Bevölkerung dem Habsburger keine Träne nach. Als sein Waggon, auf dem Weg in die Schweiz, in Feldkirch am Bahnhof stand, reagierten die Anwesenden betreten, aber nicht traurig. So memoriert Stefan Zweig in seinem Erinnerungsbuch "Die Welt von Gestern": "Die Gendarmen, die Polizisten, die Soldaten schienen verlegen und sahen leicht beschämt zur Seite, weil sie nicht wussten, ob sie die alten Ehrenbezeugungen noch leisten dürften, die Frauen wagten nicht recht aufzublicken ..."
Gut zwei Jahre zuvor, im Frühjahr 1917, war Karl auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt. Er trat das kaiserliche Erbe nicht etwa wie Franz Joseph als zurückhaltender, abwägender Monarch an, sondern setzte, mitten im Krieg, alle propagandistischen Hebel in Bewegung, um sich ein neues, tatkräftiges Image zuzulegen. Auf der Bühne der Öffentlichkeit präsentierte er sich als entschlossener und erfolgreicher Feldherr. Ihm, so ließ er Volk und Medien wissen, werde es gelingen, den Krieg, der nun schon ins dritte Jahr ging und der immer unbeliebter wurde, bald zu einem siegreichen Ende zu bringen. Eine falsche Versprechung, wie sich herausstellen sollte.
In den knapp zwei Jahren seiner Amtszeit war Karl pausenlos unterwegs. Die erste Frontreise führte ihn im Jänner 1917 an die Dolomitenfront, im April besuchte er die Isonzofront, Anfang Mai war er in Galizien unterwegs, Mitte Mai fuhr er wieder an die Dolomitenfront, im Juni 1917 besuchte er die Kriegsschauplätze in Kärnten, Istrien und am Isonzo, er fuhr nach Ungarn und abermals an die Dolomitenfront. Ende Juni, Anfang Juli war Karl neuerlich in Galizien, und auch im Oktober besuchte er die Ostfront. So ging es weiter.
Medialer Narzissmus#
Stets mit dabei war die Propagandaabteilung des Kaisers, die wenige Wochen nach seinem Amtsantritt auf "auf allerhöchsten Befehl" eingerichtet worden war. Der "Pressedienst für die Allerhöchsten Herrschaften" entfachte ein regelrechtes mediales Feuerwerk rund um den jungen Kaiser. Geleitet wurde die Einrichtung von Karl Werkmann, einem Reserve-Hauptmann und Journalisten, der die Klaviatur der medialen Inszenierung perfekt beherrschte. Er erkannte, dass die Bildmedien, der Film, vor allem aber die Fotografie, besonders geeignet für die massenmediale Vermarktung des Kaisers waren. Zwei Fotografen, Ludwig und Heinrich Schuhmann, begleiteten den Monarchen auf Schritt und Tritt. Sie lieferten jene Bilder, die gebraucht wurden: Karl nimmt Paraden ab, Karl schreitet durch Menschenmengen, Karl fährt im offenen Wagen durch das Spalier seiner Anhänger, Karl lässt sich bejubeln.
Der junge Monarch wusste um die Präsenz der Kameras, seine Rolle als Medienkaiser spielte er perfekt. Da ein Lächeln, dort ein Gruß oder ein Winken in die Kamera. Tage später tauchten die Kaiser-Bilder in hohen Auflagen in den Illustrierten des Landes auf. Den Gebrauch der Bildmedien zu seinen Gunsten hatte der Habsburger schon lange, bevor er Kaiser wurde, eingeübt. Bereits als Thronfolger hatte Karl einen starken Hang zum medialen Narzissmus, er liebte es, fotografiert zu werden. Am 26. September 1915 hatte der Kriegsfotograf Alexander Exax notiert: "Thronfolger Karl Franz Josef 28 mal geknipst."
Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg brach der Propagandakrieg im Dienst des Kaisers im Spätherbst 1918 innerhalb kürzester Zeit in sich zusammen. "Die Stimmung gegen das Kaiserpaar ist auch in Oesterreich die denkbar übelste", hatte der Wiener Polizeichef Franz Brandl, ein ordnungsliebender und habsburgtreuer Beamter, am 28. Oktober 1918 niedergeschrieben. Und am folgenden Tag hielt er fest, dass die Menschenmassen über die Ringstraße zogen und riefen: "Wir wollen die Republik! Nieder mit Habsburg!" Ebenfalls am 28. Oktober war der Politiker und Jurist Josef Redlich beim Kaiser zu Besuch. Am selben Tag schrieb er in sein Tagebuch, dass der Monarch "schlecht aussieht, bleich, kleines Gesicht".
Karl wollte das herannahende Ende nicht wahrhaben. Noch am 9. November 1918, zwei Tage vor seiner Verzichtserklärung und an dem Tag, da die Revolution Berlin erreichte, wurden in Wien im Namen des Kaisers Orden verliehen. Karl Werkmann, inzwischen Privatsekretär des Monarchen, wurde am 11. November 1918 in den Freiherrenstand erhoben. Am selben Tag setzte der Kaiser - mit Bleistift - seine Unterschrift unter die vorbereitete Erklärung, in der er auf die Regierungsgeschäfte verzichtete. Eine förmliche Abdankung wollte er nicht unterschreiben. "Der Thron", schrieb Joseph Roth 1919, "verfiel wie eine morsche Sitzbank in einem vernachlässigten Park; die Monarchie löste sich auf wie ein Zuckerwürfel im Wasserglase. Als kein Kaiser mehr da war, entdeckte man die Republik."
Die "Herrschertragödie"#
Der abgesetzte Kaiser wollte sich nicht in sein ziviles Schicksal fügen. Er widerrief seinen Thronverzicht und kehrte noch zweimal, im April und im Oktober 1921, nach Ungarn zurück, um seine Ansprüche auf den ungarischen Thron geltend zu machen. Beide Restaurationsversuche scheiterten kläglich. In Österreich blieb die Stimmung den Habsburgern gegenüber nach 1919 (mit Ausnahme der legitimistischen Kreise) ablehnend.
Am 1. November 1921, nach seinem zweiten Rückkehrversuch, verließ Karl für immer das Territorium der ehemaligen Monarchie. Den Wunsch, im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen, wollte er auch jetzt nicht aufgeben. Sein ehemaliger Leibfotograf Heinrich Schuhmann reiste dem Ex-Kaiser in die Schweiz nach und fotografierte ihn mehrmals, nunmehr in ziviler Kleidung.
Als Karl am 1. April 1922 starb, waren die Reaktionen in Österreich, milde ausgedrückt, wenig empathisch. Das "Neue Wiener Tagblatt" brachte am 1. April eine Extraausgabe mit einer einzigen Nachricht in riesigen Lettern auf der Titelseite heraus: "Exkaiser Karl gestorben". Dazu kein weiterer Kommentar. Am Tag danach wurde im Blatt der kolossale Absturz des Kaisers unter dem Titel "Herrschertragödie" nachgezeichnet, ohne viel Anteilnahme. Und die kritische "Arbeiter-Zeitung" resümierte nach Karls Tod: "Alles an ihm war schal und unbedeutend."
Sein "Größenwahn" und seine schlechten Berater hätten ihn zum "Unheil" und zur "Gefahr" für die Völker gemacht. Und so komme es, resümierte die Zeitung, dass man "unbewegt bleibt, wenn der letzte Habsburger stirbt".
Anton Holzer, geboren 1964, ist Fotohistoriker, Publizist, Ausstellungskurator und Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte". Im Internet: http://www.anton-holzer.at