Von der Poesie zur Propaganda#
Der Intellektuelle, der keiner sein wollte und zur Stimme des Nazi-Regimes wurde: Vor 125 Jahren wurde Joseph Goebbels geboren.#
Von der Wiener Zeitung (29. Oktober 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Hermann Schlösser
Herr S., Sozialdemokrat, Leiter eines Betriebs und kein Freund der neuen Regierung, hatte im Frühjahr 1933 einen schweren Traum: "Goebbels kommt in meine Fabrik. Er lässt die Belegschaft in zwei Reihen, rechts und links, antreten. Dazwischen muss ich stehen und den Arm zum Hitlergruß heben. Es kostet mich eine halbe Stunde, den Arm, millimeterweise, hochzubekommen.
Goebbels sieht meinen Anstrengungen wie einem Schauspiel zu, ohne Beifalls-, ohne Missfallensäußerung. Aber als ich den Arm endlich oben habe, sagt er fünf Worte: ‚Ich wünsche Ihren Gruß nicht‘, dreht sich um und geht zur Tür. So stehe ich in meinem eigenen Betrieb, zwischen meinen eigenen Leuten, am Pranger, mit gehobenem Arm. Ich bin körperlich dazu nur imstande, indem ich meine Augen auf seinen Klumpfuß hefte, während er hinaushinkt. Bis ich aufwache, stehe ich so."
Dieser Albtraum wurde von der Berliner Journalistin Charlotte Beradt überliefert, die in den ersten Jahren der Naziherrschaft ihre Bekannten nach Träumen politischen Inhalts befragte. 1966 veröffentlichte sie im New Yorker Exil ihre Traumprotokolle feinfühlig kommentiert unter dem Titel "Das Dritte Reich des Traums". Aus diesem Buch lässt sich lernen, dass Angst-, Wunsch- und Fluchtträume ebenso aussagekräftige historische Quellen sind wie Reichstagsprotokolle.
"Kopfmensch"#
Die meisten Träume der Befragten kreisten um Adolf Hitler. Aber im Bericht des Herrn S., der das Buch eröffnet, tritt jener Funktionär auf, der neben Hitler am meisten zur Überwältigung deutscher Seelen beigetragen hat: Joseph Goebbels, von 1933 an "Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda". Machtbewusst und arrogant lässt er die Menschen antreten und durchschaut gnadenlos die Anpassungsversuche des verängstigten Gegners. Der kann sich allenfalls dadurch wehren, dass er seinen Blick auf den Schwachpunkt des starken Mannes heftet: den "Klumpfuß".
Der lahme Fuß war kein bloßes Traumbild. Joseph Goebbels war als vierjähriges Kind an einer Knochenmarksentzündung erkrankt, sein rechter Fuß blieb von da an deformiert, er hatte zeitlebens einen leicht hinkenden Gang. Von seinen Gegnern wurde diese Behinderung mit Witzen wie "Lügen haben kurzes Bein" verspottet. Er selbst kommentierte sie selbstbewusst: "Mein Fuß ist nun mal hinderlich, ich bin klein und nicht stark, aber die Natur ist gerecht, sie gab mir als Äquivalent einen Kopf, wie ihn wenige haben."
Ganz unrecht hatte Goebbels mit dieser Einschätzung nicht. Selbst seine Kritiker gaben zu, dass er bei der Durchsetzung seiner totalitären Ziele als intelligenter Kopfmensch agierte.
Als sichtbares Zeichen seiner Überlegenheit trug Goebbels einen Doktortitel vor sich her. Im Traum von Herrn S. spielt das keine Rolle, aber jeder veröffentlichte Artikel des Politikers war mit "Dr. Joseph Goebbels" gezeichnet und bei seinen Auftritten wurde er stets mit Name und Titel begrüßt. Selbst Adolf Hitler redete ihn in der Öffentlichkeit zuweilen mit "mein Doktor" an. Goebbels war nicht der einzige promovierte Nationalsozialist, aber kein anderer hat seine akademische Qualifikation so penetrant zur Geltung gebracht wie er.
Paul Joseph Goebbels wurde am 29. Oktober 1897 in der niederrheinischen Stadt Rheydt geboren, die heute zu Mönchengladbach gehört. Er wuchs in einer gläubigen, katholischen Familie auf, die vom Vater, einem Buchhalter, sparsam-redlich ernährt wurde. Von Kindheit an kränklich, entwickelte der Knabe bald eine hohe Intelligenz. Als er 1917 das Abitur bestand, durfte er die Rede zur Abschlussfeier halten, weil er den besten Deutschaufsatz seines Jahrgangs verfasst hatte.
Nach dem Wunsch der Mutter sollte aus dem schmächtigen Jüngling ein katholischer Priester werden. Er selbst bewegte sich jedoch in andere Richtungen. Im Wintersemester 1917 begann er an der Universität Bonn ein Studium der Fächer Germanistik, Geschichte und Klassische Philologie. Wie damals üblich, wechselte er mehrmals den Studienort: Freiburg, Würzburg und München hießen die weiteren Stationen. Im November 1921 beendete er sein Studium mit einer germanistischen Doktorarbeit in Heidelberg.
Man liest zuweilen, Friedrich Gundolf aus dem elitären Kreis um Stefan George sei der Doktorvater von Goebbels gewesen. Die beiden Biographen Ralf Georg Reuth und Peter Longerich berichten jedoch einhellig, dass Goebbels zwar versucht hat, Gundolf als Doktorvater zu gewinnen, von diesem aber abgelehnt wurde. Der berühmte Gelehrte hatte sich 1921 aus dem akademischen Alltag schon weitgehend zurückgezogen. Beide Biographen betonen, dass die Ablehnung nicht persönlich gegen Goebbels gerichtet war und von diesem auch nicht als Kränkung aufgefasst wurde.
3 Dramen, 1 Roman#
Gundolf empfahl dem Studenten, den Kollegen Max von Waldberg aufzusuchen, von diesem wurde Goebbels promoviert. Weiter wird berichtet, dass sich der Doktorand damals sehr respektvoll über seine Professoren geäußert hat. Dass beide Germanisten jüdischer Herkunft waren, hat ihn 1921 offenbar noch nicht gestört. Gundolf starb 1931, Max von Waldberg wurde 1933 zwangsemeritiert und lebte vereinsamt bis 1938 in Heidelberg. 1943 verlieh die Universität ihrem Absolventen Goebbels ein Ehrendoktorat. Bei diesem festlichen Anlass erwähnte er seine jüdischen Lehrer natürlich mit keinem Wort.
Goebbels’ Dissertation, "Wilhelm von Schütz als Dramatiker. Ein Beitrag zur Geschichte des Dramas der Romantischen Schule", behandelt das Werk eines schon damals fast vergessenen Dramatikers des frühen 19. Jahrhunderts. Nach den Kapiteln zu urteilen, die auf der Website der Heidelberger Universitätsbibliothek zugänglich sind, hat der 24-jährige Doktorand eine Fleißarbeit abgeliefert, die in ihrer Mischung aus Pedanterie und Betulichkeit den Standards der damaligen Literaturwissenschaft genügt, sie aber mit keinem eigenen Gedanken überschreitet. Goebbels erhielt die Note "rite superato" (rechtmäßig bestanden), die irgendwo zwischen "befriedigend" und "ausreichend" angesiedelt ist.
So viel Wert Goebbels auf den Titel legte, so wenig lag ihm an der Wissenschaft. Er fühlte sich zum Dichter berufen, musste aber erkennen, dass ihm der literarische Markt verschlossen war. Am 13. August 1924 schrieb er in das Tagebuch, das er sein ganzes Erwachsenenleben lang führen sollte: "Mein Ideal: schreiben können und davon leben. Aber niemand bezahlt mir etwas für meinen Mist."
Zu diesem "Mist" gehören zahlreiche Gedichte, drei Dramen und vor allem der Roman "Michael Voormann. Ein Menschenschicksal in Tagebuchblättern". Verfasst 1921, erschien er erst 1929 mit dem markant veränderten Titel "Michael. Ein deutsches Schicksal" im nationalsozialistischen Eher-Verlag in München. In rhapsodischem Wortschwall beschwört Goebbels hier das Schicksal des Studenten Michael, der auf der Suche nach absoluter Wahrheit den Glauben an Gott, die Wissenschaft und die Literatur verliert: "Ich halte das nicht mehr aus mit den toten Büchern", schreibt er. "Ich will gestalten. Mehr als Intellekt wirkt in uns."
Michael begegnet der faszinierenden Hertha Holk, die ihm aber die größte aller Enttäuschungen bereitet, weil sie seiner Forderung nach weiblicher Unterordnung nicht gehorcht. Angewidert vom Werteverfall gibt Michael sein Studium und seine Liebe auf, will als Bergmann zum Aufbau eines neuen Reiches beitragen, kommt jedoch bei einem Grubenunglück ums Leben. In seinem Nachlass findet man die Aufzeichnungen, aus denen der Roman besteht.
Auch und gerade in seinem schwülstigen Pathos zeigt dieser Roman, wie sehr der junge Goebbels von Verzweiflung und Orientierungslosigkeit bedroht war. Er litt unter der deutschen Niederlage im Weltkrieg, ohne nach deren Ursachen zu fragen, und er verachtete die Demokratie, den Liberalismus und die Intellektuellen. Wie viele seiner Zeitgenossen und -genossinnen suchte er einen Führer. Er fand ihn in Adolf Hitler, dem er 1925 erstmals persönlich begegnete.
Von da an gab es für ihn keine Bedenklichkeiten mehr, für seine Probleme machte er "die Juden" verantwortlich und die Erlösung aus all seinen Qualen bot ihm die NSDAP. Peter Gathmann und Martina Paul, die diesem Mann eine psychologische Studie gewidmet haben, erklären: "Adolf Hitler, gewiss kein Intellektueller, wird von Goebbels wegen seines Glaubens bewundert, beneidet und gelobt. Vor dem Altar dieses Glaubens kniet Goebbels nieder und opfert seine rationale Überlegenheit, seinen Intellekt."
Der "Führer" wusste, was er an "seinem Doktor" hatte: 1926 arrivierte Goebbels zum NSDAP-"Gauleiter" in Berlin, wo sich der einstige Germanist und verhinderte Dichter als skrupelloser Agitator und Redakteur des nazistischen Hetzblatts "Der Angriff" hervortat. Und 1933 wurde der damals 35-Jährige zum Propagandaminister ernannt.
Im Lauf seiner Amtszeit unterwarf er Zeitungen, Buchverlage, Rundfunk und Kino seinen kulturpolitischen Vorgaben. Er sorgte dafür, dass die Filmindustrie nicht nur Propagandastreifen produzierte, sondern auch unpolitische Unterhaltungsfilme. Er verstand, dass die Menschen bei Laune gehalten werden mussten, während man ihnen einen "totalen Krieg" zumutete. Auch dieser Begriff wurde vom raffinierten Stimmungsmacher Goebbels geprägt: am 18. Februar 1943 in der berühmt-berüchtigten "Sportpalastrede".
1945 begriff der Minister, dass das Reich, dem er tausend Jahre Lebensdauer zugesprochen hatte, schon nach zwölf Jahren am Ende war. Mit seiner Frau Magda folgte er seinem Führer in den selbst gewählten Tod, ihre sechs Kinder wurden vergiftet.
Literaturhinweise:#
- Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1994 (erstmals 1966).
- Peter Gathmann / Martina Paul: Narziss Goebbels. Eine psychohistorische Biographie. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2009.
- Peter Longerich: Joseph Goebbels. Biographie. Pantheon Verlag, München 2012.
- Ralf Georg Reuth: Goebbels. Eine Biographie. Piper Verlag, München 2021.
- https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/goebbels1922
Hermann Schlösser, geboren 1953 in Worms, ist Germanist und war viele Jahre Redakteur im "extra" der "Wiener Zeitung".