Unbekannte Verwandte#
Bis 1918 und während des Zweiten Weltkrieges in einem Staat und seit 2004 in der EU verbunden - trotzdem sind Österreichs Beziehungen zur Tschechischen Republik weniger gut entwickelt als zu anderen Nachbarstaaten.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 12. Jänner 2013) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Gerhard Stadler
"Wann warst du in Mährisch-Ostrau?" fragte Helmut Qualtinger 1960 im ersten Satz des Dialogs zweier alter Mimen über die Verflechtungen unserer Theater mit denen in unserem nordöstlichen Nachbarland vor 1945.
Hans Moser, Maxi Böhm, Attila und Paul Hörbiger hatten dort ihre ersten Bühnenerfolge, Max Reinhardt inszenierte schon 1912 den "Jedermann" in Prag, in Nikolsburg gab es in den dreißiger Jahren für die Wiener Jedermann-Freiluftaufführungen nach Salzburger Muster.
Illustre Zuwanderer#
Leo Slezak, Maria Jeritza, Fred Liewehr, Ernst Waldbrunn und Fritz Eckhardt wurden ebenso in Böhmen, Mähren oder Österreichisch-Schlesien geboren wie Gustav Mahler, Leo Fall und Ralph Benatzky, Karl Renner und Adolf Schärf. Über Clemens Maria Hofbauer, Kardinal Innitzer, die Wirtschaftsdynastien Primavesi, Mautner(Markhof) und Meinl, die Ärzte Karl Rokitansky, Joseph Skoda und Sigmund Freud ließe sich diese Liste fast beliebig fortsetzen. Noch heute zeigen viele Zunamen in Wiener Einwohnerverzeichnissen, dass die Zuwanderung nicht nur auf Deutschböhmen oder -mährer beschränkt war. 1911 war Wien mit mehr als 100.000 tschechischsprachigen Einwohnern deren zweitgrößte Stadt. Sie, an die noch der "Böhmische Prater" in Favoriten erinnert, waren damals der wichtigste Faktor des Wiener Bevölkerungswachstums. Die Ungarn bildeten weit dahinter die zweitgrößte Minderheit Wiens.
Die Übersiedlungen, die, abgesehen von Beamten, Offizieren und Künstlern, meist nur in der Nord-Süd-Richtung erfolgten, waren im Wunsch nach wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg begründet. Als Beispiel sei die Familie Freud genannt: sie wanderte von Galizien über mehrere Generationen west- und dann südwärts. Sigmund Freud wurde 1856 in Freiberg/Mähren geboren, 1859 zog die Familie nach Wien. Berühmt geworden, besuchte Freud seinen Geburtsort nicht mehr.
Viele bürgerliche Wiener reisten in die Sommerfrische ins Riesen- oder Altvatergebirge oder sie "frequentierten" die nördlichen Bäder wie Karls-, Marien- oder Franzensbad, Gräfenberg oder Karlsbrunn. Der Adel hingegen lebte nur wochenweise in Wien, zum Besuch der Bälle, der Sitzungen des Herrenhauses, oder um sich ein Anliegen in einem Ministerium "zu richten". Man "pendelte" zwischen Wien und den Schlössern am Lande: zur Jagd oder zum Verwalten der Güter, Brauereien, Fabriken oder Bergwerke.
Quellen des Reichtums#
Die Schwarzenbergs, Liechtensteins, Wilczeks, Larisch, Guttmanns, ja auch ein Zweig der Habsburger und der Rothschilds zogen ihren Reichtum aus ihrem Großgrundbesitz in Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien. Die Region von Ostrau wurde dank der Steinkohle- und Erzfunde der Monarchie wichtigstes Industriezentrum. Die adeligen Eigentümer ließen ihre bürgerlichen Direktoren am Reichtum partizipieren - Karl Wittgenstein und Paul Kupelwieser waren zwei von ihnen in den größten Unternehmen der Monarchie. Kupelwieser konnte sich die Inseln von Brioni kaufen, Wittgenstein in Wien in der heutigen Argentinierstraße ein prunkvolles Palais bauen und auf der Hochreith bei Hohenberg/NÖ einen von der Wiener Werkstätte ausgestatteten Landsitz.
Ostrau holte sich Camillo Sitte, der dort eine Stadtplanung, die ihm in Wien verwehrt war, verwirklichen konnte, und Architekten aus dem Atelier von Otto Wagner für die Stadtbahnstationen. Dass sich (nicht nur) Reichenberg rühmte, ein "Klein Wien" zu sein, zeigte es mit einem verkleinerten Nachbau des Wiener Rathauses.
Energieversorgung#
Wenig bekannt ist auch, dass das nordmährisch-schlesische Revier mit seiner hochwertigen Steinkohle hundert Jahre lang die Quelle der Energieversorgung Wiens war: Die Nordbahn war nicht nur aus strategischen Gründen gebaut worden, um das ferne Galizien mit der Reichshaupt- und Residenzstadt zu verbinden, sondern ihre Kapazität nahm von allem Anfang an auf die Versorgung Wiens mit Kohle Rücksicht - bereits 1847 war sie bis Witkowitz-Ostrau fertiggestellt worden.
Die Bahn revolutionierte die Energieversorgung Wiens: Von den dazugehörigen weitläufigen Anlagen des Nordbahnhofs, die erst heute einer neuen Verwendung zugeführt werden, wurden Kohle, Koks und Briketts verteilt, zum Heizen, für Dampfmaschinen, Lokomotiven und zur Erzeugung von Leuchtgas in den Gasometern in Leopoldau und Simmering (bis 1969).
Der Zerfall der Donaumonarchie gefährdete die für Wien lebensnotwendigen Lieferungen. Im Dezember 1921 muss Bundeskanzler Schober zum Präsidenten des neuen tschechoslowakischen Staates fahren, um mit dem Preis politischer Zugeständnisse die Kohlelieferungen weiter zu sichern. Die letzten Gruben im Ostrauer Revier wurden 1994 geschlossen, heute bezieht unser neben der Politruine Zwentendorf erbautes Kraftwerk Dürnrohr die Kohle aus dem polnischen Teil der schlesischen Gruben.
1919 kehrten viele Wiener Tschechen heim, und die Zuwanderung nach Wien ging zurück. Von 1939 bis 1944 wieder verstärkt, endete sie 1945/46 abrupt und gewaltsam. 1945 wurden die Deutschen vertrieben und enteignet. Auch das Eigentum von Österreichern in dem 1947 kommunistischen Staat wurde konfisziert (nur diese erhielten 1975 eine limitierte Entschädigung). Der Eiserne Vorhang hatte sich gesenkt. Während der Fluchtwelle im kurzen "Prager Frühling" 1968 kamen 160.000 ?SSR-Bürger nach Wien, doch bis auf rund 15.000 kehrten sie wieder zurück.
Als 1989 auch in der Tschechoslowakei das kommunistische Regime und der Eiserne Vorhang "auf der Müllhalde der Geschichte" landeten, hatte man in Ostösterreich Visionen von einer Renaissance der alten Zeit. Projekte wurden vorgestellt, an früher Gemeinsames erinnert, und neue Gemeinsamkeiten geplant. Die Infrastrukturen von Verkehr, Energie und Bildung, ja sogar die Flugsicherung sollten grenzüberschreitend werden. Wiederholt wurde dies 2004 bei der Osterweiterung der EU. Ein weiterer Anlauf zwischen Südmähren, Niederösterreich, dem Burgenland und je zwei benachbarten Komitaten bzw. Kreisen in Ungarn und der seit 1993 unabhängigen Slowakei begann mit Konferenzen einer "Central European Region". Im Oktober 2012 stellte das Wiener WIFO eine Studie vor, die der Region zwar großes Potenzial für eine grenzüberschreitende Wissensgesellschaft gibt, doch einen Mangel an Realisierungen bestätigt und grenzüberschreitende Raum-, Arbeitskräfte- sowie Verkehrsplanung und -verbund fordert.
Ein Urteil über die Realitäten in den nun seit zwanzig Jahren in vier Staaten geteilten Regionen muss zweifach differenzieren: Einerseits die Beziehungen zwischen den staatlichen Stellen und das Verhalten ihrer Menschen, seit alle diese Staaten der EU angehören und die meisten Beschränkungen und Kontrollen gefallen sind: Die EU-Normen, die die Gleichstellung und Anerkennung von Befähigungen sowie die Freizügigkeit von Personen und Dienstleistungen beinhalten, sind nun voll anzuwenden. Andererseits sind Differenzierungen nach der Nachbarschaft je zweier Staaten zu treffen. Zwischenbehördliche Kontakte funktionieren, doch Planungen sind nur selten grenzüberschreitend: Positive Beispiele waren der Bau der neuen Bahnlinie von Wien nach Bratislava über Kittsee, die Fertigstellung der Autobahnen A 4 und A 6 oder die Einbeziehung von Györ und Sopron in den Wiener Regionalverkehr der ÖBB.
Negative Beispiele sind die fehlenden grenzüberschreitenden Nationalparks (Thaya, Donauauen), und dass die Autobahnverbindung mit der Tschechischen Republik noch Jahre auf sich warten lässt. Der Bahnverkehr dorthin wird immer mehr auf den Grenzübergang Hohenau/B?eclav und auf Lokalzüge über Gmünd, Retz oder Freistadt reduziert.
Dies sind bereits Hinweise darauf, dass unsere Beziehungen mit dem nordöstlichen Nachbarstaat Vergleichen mit den anderen Nachbarn nicht Stand halten. Für die Vermutung, dass die menschlichen Beziehungen zwischen den Regionen beiderseits der österreichisch-tschechischen Grenze vergleichsweise dürftig sind, gibt es noch mehr Belege: Die Zahl der Studenten mit tschechischer Staatsangehörigkeit an unseren Universitäten ist die niedrigste aller unserer Nachbarstaaten (ausgenommen Liechtenstein), die Zahl der tschechischen Schüler an den höheren Schulen Ostösterreichs bleibt weit hinter den Zahlen der slowakischen oder ungarischen Schüler zurück. Daran zeigt sich das unterschiedliche Verhalten der Menschen in den Grenzregionen. Pflegeheime dürften in Wien ohne slowakisches Personal nicht mehr zu führen sein, und in Bruck/Leitha oder Neusiedl kommen viele Handelsangestellte aus Ungarn oder der Slowakei - doch im Wald- und Weinviertel spielen tschechische Angestellte kaum eine Rolle. Gleiches dürfte für den Gelegenheitsarbeitsmarkt gelten, auf dem sogar mehr Polen als Tschechen auftauchen.
Historische Defizite#
Vergleiche mit den Beziehungen Westösterreichs mit Südtirol, der Schweiz bzw. mit Deutschland (in Kufstein pendelt fast ein Viertel der Schüler der höheren Schulen aus Bayern ein) sind wegen der Sprachgleichheit und der langen "gleichgerichteten" politischen wie wirtschaftlichen Entwicklung unpassend. Auffallend ist aber, dass bei gleicher Ausgangslage sich unsere Beziehungen mit den Slowaken, Ungarn, ja auch Slowenen wesentlich rascher und intensiver entwickeln als mit den Tschechen. Eine neue Studie des WIFO zeigt, dass auch die Zahl der 2011/12 zugewanderten Arbeitskräfte aus der Tschechischen Republik die kleinste von allen neuen EU-Nachbarstaaten ist.
Die Gründe für diese Defizite liegen zum Teil in der Geschichte: In der Monarchie war die politische Gegnerschaft zwischen Deutschen und Tschechen notorisch. Vorlagen der k.k. Regierung, nationalen Bestrebungen der Tschechen entgegenzukommen - etwa nach Gleichberechtigung ihrer Sprache bei den Behörden in Mähren oder Böhmen -, scheiterten am erbitterten Widerstand der deutschen Abgeordneten im Reichsrat. Als 1939/40 in Prag Deutsche wieder die Macht übernahmen, gab es die bekannten Übergriffe gegen alle nicht kooperationswilligen Tschechen. 1945 folgte deren erwähnte Kollektivvergeltung an den Sudetendeutschen. Diese wirkt wiederum in den Familien, die fliehen mussten, nach.
Österreich hat nach 1989 zwar nicht die von diesen Kreisen geforderte Aufnahme der Tschechischen Republik in die EU behindert, agitiert jedoch weiter gegen den Betrieb der Atomkraftwerke Temelín und Dukovany. Das wiederum sehen die Tschechen, deren Stromversorgung zu 70 Prozent von diesen AKWs abhängt, als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten.
Die tschechischen Aversionen gegen Österreich wie gegen Deutschland sind auch ein Grund dafür, dass dort heute die erste Fremdsprache Englisch ist - was wiederum die Verständigung mit uns nicht fördert. Ein auch in Zukunft schwer zu überwindendes Hemmnis ist die wirtschaftlich schwierige Lage in unseren nördlichen Grenzbezirken und in den südlichen Kreisen der Tschechischen Republik - wo das Gefälle zwischen den wenigen prosperierenden Städten und den entfernten Agrarregionen noch größer ist als bei uns.
Nach der Wende kamen viele Tschechen in alten Bussen auf einen Tag nach Wien, um die für sie legendenhafte Stadt einmal zu sehen. Aus Österreich und Deutschland wagten sich die Sudetendeutschen erstmals wieder in ihre alte Heimat. Als sie feststellen mussten, dass ihre enteigneten Häuser und Geschäfte verwahrlost oder verfallen waren, und die Prager Regierungen weiter an den Bene-Dekreten festhielten, resignierten die Vertriebenen und kamen zu keinem zweiten Besuch.
Wenige Ausnahmen gibt es: Einige, die nach der, sogar in der namensgebenden Familie umstrittenen, "Lex Karel Schwarzenberg" und dem Beweis der Nicht-Kooperation mit den deutschen Besatzern einen Teil des Grundbesitzes zurückerhielten, und andere, die ihre 1945 enteigneten Häuser zurückgekauft haben. Für den Rest der Vertriebenen, heute meist schon deren Nachkommen, blieben nur Erzählungen, Heimatbücher und vielleicht Fotoalben.
Wir anderen fuhren nach Praha, auch nach Ceský Krumlov, Brno und vielleicht anlässlich der Niederösterreichischen Landesausstellung 2009 nach Telc. Sie ist mit ihren 400.000 Besuchern (davon aber nur rund zehn Prozent Tschechen) ebenso als eine der wenigen gelungenen biregionalen Initiativen der Zusammenarbeit hervorzuheben wie der 1991 initiierte grenzüberschreitende "Access Industrial Park Gmünd/Ceské Velenice". 2013 wird es in Freistadt und Ceský Krumlov (Krumau) eine ähnliche Landesausstellung geben.
Weiter kamen die meisten von uns bis heute nicht. Schade, denn die Tschechische Republik bietet mehr: Ihre Kurorte glänzen wie neu und haben mehr Atmosphäre als unsere Wellness-Oasen, und sie hat mit zwölf UNESCO-Weltkulturerbestätten mehr als Österreich (neun). In ihren nun renovierten Schlössern und Museen erinnert mehr an die gemeinsame Vergangenheit als bei uns. Neben Schlössern gibt es gepflegte Golfplätze, das Radwegenetz ist im ganzen Land gut ausgebaut. Was bei uns Sommerspiele, sind dort Wochen klassischer Musik, in wirklich historischem Ambiente.
Das Preisgefälle#
Unser "Einkaufstourismus" spielte kurzfristig eine große Rolle, als ein findiger Österreicher gleich hinter der Grenze nach Haugsdorf in einer Einkaufscity steuerschonend verkaufen konnte; seit dem EU-Beitritt Tschechiens ist die Fahrt dorthin weniger attraktiv.
Ebenso wie einige unserer Banken und Versicherungen ist eine in deutscher Hand befindliche, ehemals österreichische Supermarktkette nördlich unserer Grenze stark vertreten. Aber wir nützen das, außer bei internationalen Marken, doch beträchtliche Preisgefälle bei Lebensmitteln kaum (ganz im Unterschied zu Sopron oder von Westösterreich nach Bayern) - vielleicht auch wegen des nicht mehr gegebenen Preisunterschiedes bei Treibstoffen. Inzwischen zahlungskräftig gewordene Tschechen durchqueren Wien auf dem Weg zur Adria oder in unsere Berge. Sicher urlauben mehr Tschechen bei uns als Österreicher dort. Der Fremdenverkehr wird heute viel zu oft als Vademecum für wirtschaftlichen Aufschwung gepriesen. Aber vielleicht hilft er hier wirklich, die grenzüberschreitenden Beziehungen zu verbessern - auch wenn wir uns dabei auf Englisch unterhalten müssen.
Besonders muss aber auf den "Verein Europabrücke Raabs" hingewiesen werden, der sich mit einer seit 2009 aktiven und von der EU geförderten "Jungen Uni/Mladá univerzita Waldviertel" des hier beschriebenen Beziehungsproblems annimmt: gemeinsame Fragen sind nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Veranstaltungen, sondern auch und vor allem von Sommercamps Jugendlicher aus den Grenzregionen, die in zwei Sprachen diskutieren. Vielleicht ist das die beste Initiative, trägt sie doch dazu bei, dass in der nächsten Generation die "Grenze in den Köpfen" verschwinden könnte.
Gerhard Stadler, geboren 1947, Dr. jur., ist als Reiseschriftsteller tätig und begibt sich besonders gern auf "rotweißrote Spuren".
Die Tschechen wurden in der Monarchie politisch brutal unterdrückt, auch in den erwähnten Industriezentren wurden die Arbeiter enorm ausgebeutet, was sicher auch heute noch eine Rolle spielt. Bitte Vorsicht, die Bildunterschriften wurden offensichtlich verwechselt.Im übrigen sind auch in der EU die zentrifugalkräfte vorhanden, die Tschechen trennten sich von den Slowaken oder umgekehrt.. hg
-- Glaubauf Karl, Dienstag, 5. Februar 2013, 12:45
Danke. Die Bildunterschriften wurden richtiggestellt.
-- Ziegler Katharina, Dienstag, 5. Februar 2013, 13:27
Super, danke auch verbindlichst...
-- Glaubauf Karl, Dienstag, 5. Februar 2013, 15:48