Heilung der Wunden der Vergangenheit #
Mit dem Kriegsende jährt sich auch die Vertreibung der Deutschen aus der damaligen Tschechoslowakei zum siebzigsten Mal. Im Umgang der Tschechen mit ihrer Vergangenheit hat sich in den letzten Jahren ein starker Wandel vollzogen, wie mehrere Initiativen erkennen lassen. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 11. Juni 2015)
Von
Niklas Perzi
Es erschien wie ein Traum: Petr Vokřál, Primator der zweitgrößten tschechischen Stadt Brünn (Brno), schreitet Seite an Seite mit der Führungsspitze der Sudetendeutschen Landsmannschaft mit Sprecher Bernd Posselt an der Spitze eines Zuges unter Polizeischutz durch die Straßen der Brünner Vorstadt, die sich noch immer den diskreten Charme des späten Sozialismus bewahrt hat. Man endet beim Augustinerkloster, dort wo am Tag genau vor 70 Jahren das Drama des „Brünner Todesmarsches“ seinen Ausgang hatte. Im Garten jenes Klosters, in dem einst Gregor Mendel wirkte, wurden am Abend des 30. Mai 1945 an die 30.000 deutsche Brünner gesammelt, um am nächsten Morgen (dem Fronleichnamstag) in Richtung Österreich getrieben zu werden, 2000 starben.
Unter den vielen Menschen sind heute tschechische Familien mit Kindern, viele Studenten, Alternative. Anstatt Schmährufen und drohenden Fäusten wie 1945 winken die Menschen dem Zug jetzt aus ihren Häusern heraus zu. Aus Wien ist Leo Zahel angereist, der, obwohl sein Vater als Funktionär der deutschen Sozialdemokratie gegen den Aufstieg der Nazis in den dreißiger Jahren gekämpft hatte, als damals 14-Jähriger gemeinsam mit seiner Mutter in die Kolonnen eingereiht wurde. Die symbolische Rückkehr in die Stadt endet mit Reden des Brünner Primators („Es tut uns leid“) und des Bischofs Vojtěch Cikrle.
„Tragische Notwendigkeit“ #
Die Rezeption der Ereignisse von Brünn illustriert den Umgang mit der als „odsun“ (Abschub) bezeichneten Vertreibung und Zwangsaussiedelung von etwa drei Millionen (Sudeten-)Deutschen 1945/46 aus der damaligen Tschechoslowakei, die von allen Parteien nach 1945 als nationaler Triumph und endgültiger Sieg über den deutschen Feind im eigenen Land gefeiert wurde. Als nach der totalen Machtübernahme 1948 die tschechischen Kommunisten den antideutschen Chauvinismus nicht mehr zur Gewinnung der Wählerschaft brauchten, verurteilten sie diesen als bourgeoises Relikt, ohne sich jedoch an die historische Aufarbeitung zu machen.
Diese versuchten erst die Reformer der 1960er-Jahre, die den „odsun“ als „tragische Notwendigkeit“ zur Überwindung der deutschen Gefahr, aber auch zur Herstellung einer neuen sozialistischen Vermögensordnung betrachteten. Nach dem Scheitern des Prager Frühlings wurde die Frage öffentlich tabuisiert, in den kleinen Zirkeln der Dissidenten und des Exils jedoch heftig diskutiert. Als der slowakische Historiker und Signatar der Charta 77 Ján Mlynárik seine „Thesen zur Aussiedelung der Deutschen“ veröffentlichte, erntete er von Regime und Opposition Proteste. Václav Havel, der sich noch vor seiner Wahl zum Präsidenten 1989 vom „odsun“ distanzierte, musste erleben, wie wenig die tschechische Gesellschaft darauf vorbereitet war, und zog sich im Gedenkjahr 1995 auf die neue, offiziöse Betrachtung von Ursache (NS-Herrschaft) und Wirkung (Abschub) zurück. Die zarten Bande, die in der postrevolutionären Euphorie zu den Vertriebenenorganisationen in Deutschland geknüpft worden waren, wurden rasch durchtrennt, die Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL), die Hauptrepräsentantin der Ausgesiedelten, wurde zum Schreckgespenst, mit dem jeder Kontakt ängstlich vermieden wurde.
Wie auf einem historischen Minenfeld standen so einander Kontrahenten in Deutschland (und Österreich) und Tschechien gegenüber, eingegraben in ihre imaginären Schützengräben. Es war kein Dialog, es waren parallel geführte Monologe, die sich durch Nichtwissen(wollen) über das Leid des jeweils anderen, aber auch dessen heutige Lebensrealitäten, und einen erstaunlichen Mangel an Empathie auszeichneten.
Konservierte Kampfrhetorik #
Da wurden in sudetendeutschen Publikationen die NS-Zeit und die eigenen Verstrickungen darin ebenso ausgeklammert wie die deutsche Besatzung im „Protektorat Böhmen und Mähren“ zur reichsdeutschen Angelegenheit erklärt, mit der man nichts zu tun gehabt habe, und die im Vergleich zur Vertreibung so schrecklich ja gar nicht gewesen sei. Wer tschechische Schriften las, konnte die Vorstellung gewinnen, als sei die Aussiedelung der Deutschen 1945 der tschechoslowakischen Politik von den Alliierten aufgezwungen worden und im Vergleich zur NS-Herrschaft so schlimm nicht gewesen. Mit einer für die nichtbeteiligte (bundesdeutsche und österreichische) Öffentlichkeit unverständlichen, hinter dem Eisernen Vorhang und in den Vertriebenenzirkeln über Jahrzehnte konservierten Rhetorik wurde da der „Volkstumskampf“ des späten 19. Jahrhunderts weitergeführt. Immerhin brachte die (bundes-) deutsch-tschechische Erklärung 1997 die Schaffung von Projekten und Gremien, in denen Sudetendeutsche und Tschechen ins (Geheim-) Gespräch kommen konnten.
Wichtiger zur aktuellen Trendwende in Richtung Verständnis waren jene Impulse und Initiativen von unten, die in den letzten Jahren aus jüngeren tschechischen und sudetendeutschen Kreisen kamen. So versammeln sich zum Jahrestag des Kriegsendes seit 2008 im geschleiften, ehemals deutschböhmischen Ort Romau, unmittelbar neben der österreichischen Staatsgrenze, (Sudeten-) Deutsche, Tschechen und Österreicher, um mit einer Fußwallfahrt und einem Gottesdienst dort, wo einst die Dorfkapelle stand, für die „Heilung der Wunden der Vergangenheit“ zu bitten und beten.
Die Marschstrecke von 1945 #
In der Waldviertler Gemeinde Waldkirchen, wo sich auf dem Friedhof die Gräber von 27 an den Folgen der Vertreibung aus Iglau (Jihlava) gestorbenen Kindern befinden, legen seit Jahren auch Vertreter der heutigen Stadtverwaltung Kränze nieder. Abseits von den staatlichen Institutionen, aber auch den meisten Historikern, waren es Künstler und Intellektuelle, welche die tschechische Gesellschaft provozierten – wie etwa die Brünner Autorin Kateřina Tučková mit ihrem Roman „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“, der das Schicksal einer Brünner Deutschen nachzeichnet.
Als vor fünfzehn Jahren eine Gruppe Brünner Studenten um den späteren grünen Minister Ondřej Liška die Ereignisse thematisierte, stieß sie auf Unverständnis und Ablehnung. 2007 nahm sich der damals 24-jährige Brünner Jaroslav Ostřcilík der Sache wieder an. Als er zum erstenmal die Marschstrecke von 1945 nachging, folgten ihm zwei Studienkollegen. Acht Jahre danach waren es Hunderte.
Der Autor ist Historiker am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung (INZ) der ÖAW und am Zentrum für Migrationsforschung (ZMF) St. Pölten