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"Geheime Reichssache" #

Am 20. Jänner vor 80 Jahren wurde in Berlin der Völkermord an den europäischen Juden organisiert.#


Von der Wiener Zeitung (16. Jänner 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Michael Gehler


Am Ort des Geschehens am Berliner Wannsee befindet sich heute eine Holocaust-Gedenkstätte.
Am Ort des Geschehens am Berliner Wannsee befindet sich heute eine Holocaust-Gedenkstätte.
Foto: Name. Aus: Wikicommons, unter CC BY-SA 3.0

An diesem Tag fand in der vormaligen Villa Marlier am Großen Wannsee 56-58 in Berlin, 1914/15 nach Plänen von Paul Otto August Baumgarten erbaut, später Gästehaus des Sicherheitsdienstes (SD) und heute Holocaust-Gedenkstätte, eine Besprechung zur Koordination der "Endlösung der Judenfrage" statt. So euphemistisch lautete die NS-Diktion.

Das Treffen am 20. Jänner 1942 dauerte nicht länger als eineinhalb Stunden. Der Vertreter von Reichsführer SS Heinrich Himmler und Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, war Initiator. Unter dessen Vorsitz und seinem "Juden-Sachverständigen" Adolf Eichmann hatte der Chef der Sicherheitspolizei die Staatssekretäre der relevanten Ressorts geladen. An diesem Tag wurde die schon zuvor getroffene Entscheidung zum Genozid intern abgestimmt und kommuniziert.

Es ging nicht mehr um einen Beschluss, sondern um den umfänglicher und systematischer zu organisierenden Massenmord. Ohne Involvierung der Ministerien war dieser nicht möglich. Heydrich rechnete mit verwaltungstechnischen Hindernissen, doch es gab keine, sondern nur Zustimmung. Der bürokratische Eifer war grenzenlos.

Rassistisch-völkisch motivierter Antisemitismus war integraler Bestandteil der NS-Ideologie. In "Mein Kampf" hatte Hitler bereits seit 1925 eine planvolle Beseitigung der Juden ausgesprochen. Mit den "Nürnberger Gesetzen" vom 15. September 1935 begann die zur Staatspolitik erhobene Ausgrenzung und Diskriminierung. Hitler betraute 1938 Reichswirtschaftsminister Hermann Göring mit der Judenpolitik. Sie erfuhr vom 9. auf den 10. November eine weitere Radikalisierung durch die Reichspogromnacht.

Vernichtung#

Am 30. Jänner 1939 traf Hitler in einer Reichstagsrede erstmals eine öffentliche Vorhersage: "Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann würde das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa."

Am 31. Juli 1941 bekam Göring ein Dokument von Heydrich zur Unterschrift vorgelegt, das ihn mit den Vorbereitungen der "Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa" beauftragen sollte, was gebilligt wurde. Bald darauf ermordeten Heydrichs Einsatzgruppen gezielt Juden an der Ostfront. Beim Massaker im Tal von Babyn Jar am 29./30. September 1941 wurden mehr als 33.000 jüdische Bewohner Kiews Opfer. Für die NS-Vernichtungstechnokraten sollten sich jedoch solche Exekutionen für die Ermordung der europäischen Juden nicht eignen. Im November wurden bereits Bauten in Belzec und Chelmno als Vernichtungsstätten mit Giftgasanlagen errichtet sowie Zyklon-B-Experimente im Bunker II und Krematorium des Hauptlagers in Auschwitz durchgeführt.

Ende November lud Heydrich die Staatssekretäre für ein Treffen am 9. Dezember nach Berlin, das jedoch verschoben werden musste. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember hatte Hitler den Reichstag einberufen, um dort am 11. Dezember 1941 die Kriegserklärung an die USA zu verkünden, was zur kurzfristigen Absage der Wannsee-Besprechung führte. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels schrieb in der meistgelesenen Wochenzeitung "Das Reich" vom 16. Dezember 1941 zu Hitlers Vorhersage, die Judenvernichtung müsse das Ergebnis des nun folgenden Weltkriegs sein: "Wir erleben gerade den Vollzug dieser Prophezeiung und es erfüllt sich am Judentum ein Schicksal, das zwar hart, aber mehr als verdient ist. Mitleid oder gar Bedauern ist da gänzlich unangebracht."

SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich war Initiator der Wannsee-Konferenz vom 20. Jänner 1942
SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich war Initiator der Wannsee-Konferenz vom 20. Jänner 1942.
Foto: © Bundesarchiv, Bild 146-1969-054-16 / Hoffmann, Heinrich. Aus: Wikicommons, unter CC BY-SA 3.0

Am 8. Jänner 1942 ließ Heydrich neuerlich Einladungen für ein Treffen am 20. Jänner aussenden, nachdem inzwischen schon wichtige Vorbereitungen für den Massenmord an den Juden getroffen worden waren. Heydrich begann mit einer Ansprache, die auf Vorlagen Eichmanns beruhte. Ohne Rücksicht auf geographische Grenzen sollte die Organisation des Genozids erfolgen. Bisher sahen sich 537.000 Juden unter NS-Herrschaft zur Auswanderung gezwungen, bis Himmler im Herbst 1941 jede weitere Emigration untersagt hatte. Stattdessen sollte nun "die Evakuierung der Juden nach dem Osten" erfolgen. Deportationen aus dem Reich begannen ab Mitte Oktober.

Laut einer Aufstellung für Heydrich sollten elf Millionen europäische Juden, einschließlich irische und englische, betroffen sein. Die "Evakuierungen" wurden als "Ausweichmöglichkeit" betrachtet, wobei von "praktischen Erfahrungen" die Rede war, die "im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage von wichtiger Bedeutung" wären. Im Klartext sollten Juden "straßenbauend" in Ostgebieten arbeiten, "wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird". Der "verbleibende Restbestand" sollte "entsprechend behandelt werden" (durch massenhaftes Töten), weil dieser "eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen" wäre. Die semantischen Verhüllungen konnten die Anwesenden nicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits erfolgte Judenmorde nun in größtmöglicher Zahl in ganz Europa fortzusetzen waren.

Sechs Millionen Opfer#

Heydrich ging auf Details der Organisation ein ("Altersghettos", "Judenberater" in "Satellitenstaaten", Regelung von "Mischehen" und deren Nachfahren mit Zwangsentscheidung, Deportation oder Zwangssterilisation von "Halbjuden", Behandlung von "Vierteljuden" als Deutsche ohne "jüdisches Aussehen und Verhalten" etc.). Angesichts noch offener Fragen fanden Folgekonferenzen am 29. Jänner, 6. März und 27. Oktober 1942 statt.

Hitler kam 1942 fünfmal öffentlich auf seine Drohung und ihre Verwirklichung zu sprechen, zuletzt am 8. November im Münchner Löwenbräukeller, indem er an die Reichstagserklärung von 1939 hinsichtlich der Juden erinnerte: "Sie haben mich immer als Propheten ausgelacht. Von denen, die damals lachten, lachen heute Unzählige nicht mehr. Die jetzt noch lachen, werden in einiger Zeit vielleicht auch nicht mehr lachen." Der Judenmord schien nun sein wichtigstes Kriegsziel. Am Ende des Massenmordens standen grob geschätzt sechs Millionen jüdische Opfer.

Eichmann hatte das Besprechungsprotokoll angefertigt, an dem mehrfach Überarbeitungen angebracht, schließlich 30 Abschriften für alle Teilnehmer angefertigt und als "Geheime Reichssache" abgestempelt wurden. Nur die Nummer 16 blieb erhalten. Es war jene des Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt mit dem bezeichnenden Namen Martin Luther (der gleichnamige Reformator hatte 1543 zur Vertreibung der Juden und Brandlegung von Synagogen aufgerufen). Offenbar entging dieses Protokoll der Beseitigung, weil Luther wegen einer Intrige gegen Außenminister Joachim von Ribbentrop im KZ Sachsenhausen inhaftiert, seine Abteilung aufgelöst und sein Aktenbestand ausgelagert worden war. Amerikaner und Briten konnten es erst Jahre nach Kriegsende entdecken, mikroverfilmen und dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes übergeben.

Ein Teil der Konferenzteilnehmer überlebte den Krieg nicht. Heydrich wurde am 27. Mai 1942 in Prag bei einem Attentat tschechoslowakischer Widerstandskämpfer schwer verwundet und erlag am 4. Juni seinen Verletzungen, worauf der NS-Terror Massaker an der Zivilbevölkerung durchführte. Roland Freisler starb bei einem US-Luftangriff am 3. Februar 1945 in Berlin. Andere begingen wie Hitler Selbstmord. Luther verstarb an den Folgen seiner Haft. Noch vor Entdeckung des Protokolls wurden zwei Teilnehmer wegen Kriegsverbrechen hingerichtet.

Verfahrenseinstellungen erfolgten nach Entlassungen aus der Untersuchungshaft wenige Jahre nach Kriegsende. Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, kam im Wilhelmstraßen-Prozess unter Anrechnung der Internierung 1949 frei. Eichmann konnte nach Argentinien fliehen. Er wurde von einem Mossad-Kommando aufgegriffen, nach Israel entführt und 1962 nach einem spektakulären, internationale Aufmerksamkeit erregenden Prozess in Jerusalem hingerichtet.

Historikerurteile#

Der Historiker Christian Gerlach ging von einem Entschluss Hitlers zum Genozid aufgrund eines Eintrags im Tagebuch Goebbels und im Dienstkalender Himmlers auf den 12. Dezember 1941 aus. Aufgrund des Kriegs gegen die USA habe sich eine neue Lage und eine Änderung der von Heydrich entwickelten Pläne ergeben. Die Mehrheit der Geschichtsforscher meint dagegen, dass bereits im Spätherbst 1941 die Weichen für die Entscheidung zum Judenmord gestellt worden waren.

Vor dem Hintergrund der Erkenntnis der nicht mehr fortführbaren Blitzkriegstrategie gegen die Sowjetunion erwies sich das unausgegorene Konzept Heydrichs als unrealistisch, die Juden weit in den Osten abzuschieben und diese erst nach Kriegsende ihrem Schicksal auszuliefern. Himmler wollte jedoch keine Zeit mehr verlieren, zumal Umsiedlungsprojekte graue Theorie waren.

Der deutsche Zeithistoriker Peter Longerich
Der deutsche Zeithistoriker Peter Longerich.
Foto: Goesseln. Aus: Wikicommons, unter CC BY-SA 4.0

Historiker Peter Longerich erkennt auch nach dem 20. Jänner 1942 keine konkrete Vorstellung, mit welchen Instrumenten und in welchen Zeitabfolgen der Genozid umgesetzt werden sollte. Heydrich versuchte mit der Konferenz, von seinem ursprünglichen Plan abzurücken. Belegbar ist, dass sich seit diesem Zeitpunkt Judendeportationen auf das gesamte deutsche Herrschaftsgebiet erstreckten und ein umfangreicher Zwangsarbeitereinsatz begann.

Thomas Sandkühler zeigte, dass bis zur Wannsee-Besprechung in Ostgalizien bereits "arbeitsunfähige" Juden umgebracht worden waren. Sodann galt der Mordbefehl allen - außer jenen wenigen in der Erdölindustrie als "unabkömmlich" Eingestuften. Mark Roseman hält in seinem Buch "Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte" dieses Ereignis für den bereits begangenen Judenmord nicht für besonders relevant. Erst in der Rückschau erhelle das Protokoll den Augenblick eines monströsen Mordgeschehens, in dem sich der europaweite Holocaust als Ziel konkretisierte.

Michael Gehler, geboren 1962 in Innsbruck, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Hildesheim und an der Andrássy Universität Budapest.

Wiener Zeitung, 16. Jänner 2022


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