Die Angst vor der „Kirchenspaltung“#
Von
Heribert Franz Köck
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 276/2018
In seiner treffenden Analyse des bisherigen Pontifikats des Papstes Franziskus schreibt Herbert Kohlmaier in der Nr. 275 der „Gedanken“ über das Verhältnis zwischen diesem und seinen konservativen Widersachern[1] an der Kurie: „Eine ganz schlimme Situation ist entstanden. Nach der ersten Phase verunsicherten Stillhaltens tritt die Kamarilla zum Abwehrkampf an. Sie hat eine leider wirksame und lähmende Waffe in der Hand. Sie führt dem Papst vor Augen, dass er, wollte er etwas gegen ihren Willen durchsetzen, eine Spaltung der Kirche riskiere.“
Diese Angst hat etwas Irrationales an sich. Die Kirche kann gar nicht „gespalten“ werden. Das Wort „Spaltung“ schließt ja in sich, dass aus einem Stück zwei gemacht werden können. Aber das Wesen der Kirche schließt eine solche Spaltung aus. Wenn, wie „Konservative“ und „Progressive“ in der Kirche gleichermaßen bekennen, es nur eine, nämlich die allgemeine (im eigentlichen Wortsinn „katholische“) Kirche geben kann, dann kann diese eine Kirche niemals „gespalten“ werden. Gleichgültig, ob man sie auf eine explizite Stiftung durch Jesus, also auf ius divinum postivum, oder auf eine organische Selbstorganisation nach den Grundsätzen des Naturrechts, also auf das ius divinum naturale, zurückführt, ist in ihr, wie es Paulus für den staatlichen Bereich eingemahnt hat, „der Obrigkeit“ zu „gehorchen“. Jene, die aus der Kirche austreten oder „ausscheren“, wie es die „Piusbrüder“ getan habe, bewirken also keine „Spaltung“ der Kirche, wie wenn aus einer Kirche plötzlich zwei Kirchen würden, sondern scheiden einfach aus der einen Kirche aus.
Das ist auch der Grund, warum die „Progressiven“ dem wohlmeinenden (?) Rat der „Konservativen“ nicht gefolgt sind, doch aus der Katholischen Kirche auszutreten und (z.B.) „zu den Protestanten zu gehen“, wo sie doch alle ihre Forderungen bereits erfüllt finden würden (insbes. keine Zölibatsverpflichtung, Zulassung von Frauen zu allen kirchlichen Ämter). Aber die „Progressiven“ bekennen nun einmal die „eine“ Kirche; und daher kommt für sie nur die Reform innerhalb der Katholischen Kirche in Frage. Sie handeln daher nach der Maxime „Nicht austreten, sondern auftreten“.[2]
Dieser Haltung konnten auch die „konservativen“ Anwandlungen unter Paul VI. und die „traditionalistischen“ Auswüchse unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. nichts anhaben. Die „Progressiven“ sind davon überzeugt, dass nicht alles in der Kirche so ist oder gar sein muss, wie es die „Amtskirche“ traditionell vorgibt; aber sie wollen mit ihr im Gespräch bleiben, soweit die Amtskirche dies nicht verweigert. Man kann die „Progressiven“ auch nicht aus der Kirche ausschließen, weil sie – auch nach herrschender traditioneller Lehre – durch die Taufe ein für alle Mal Glieder dieser Kirche geworden sind. Auch ihrer „Unbotmäßigkeit“ kann man nicht anders als durch „innerkirchliche“ Maßnahmen entgegentreten; und wenn sie diese – z.B. eine Exkommunikation – für nicht rechtens ansehen, so hat das für sie weder im Gewissen (pro foro interno) noch nach außen (pro foro externo) nachteiligen Folgen. Nicht nur, weil der Kirche mittlerweile, in der pluralistischen Gesellschaft, das brachium saeculare, also die zwangsweise Durchsetzung kirchlicher Sanktionen durch den Staat, abhandengekommen ist, sondern auch, weil innerkirchlich – d.h. unter Teilen des Klerus und der Laien – keine ausreichende Bereitschaft mehr besteht, diese (doch weitgehend als zumindest sehr zweifelhaft angesehen) Sanktionen mit Leben zu erfüllen.
Auch die „Konservativen“, selbst wenn sie sich in größerer Zahl mit Kardinälen, Bischöfen und Laien von der Kirche abspalten sollten, könnten dadurch keine „zweite“ oder „neue“ Katholische Kirche gründen, sondern hätten keinen anderen Status als die „Piusbrüder“. Und sollten sie sich unterfangen, sich als die „wahre“ Katholische Kirche auszugeben, dann würden sie sich nur in die Zahl der schon heute existierenden angeblich „wahren Katholischen Kirchen“ einreihen, von denen hier nur beispielsweise die Palmarianisch-katholische Kirche, die True Catholic Church oder die Katholisch-Apostolische Kirche Brasiliens genannt sein sollen, deren es aber zumindest ein Dutzend gibt.
Vor einer solchen „Kirchenspaltung“ braucht niemand Angst zu haben. Wenn sich die Traditionalisten (sozusagen) selber aus dem Verkehr zögen, wäre sogar der Weg für eine umfassende Reform der Kirche, die es ihr erlaubt, den Menschen von heute Christus glaubwürdig zu verkünden, endlich frei von Hindernissen. Solange sie noch über die Kamarilla in der Kurie Sand ins Getriebe streuen können, bleibt der Reformprozess viel mühsamer.
Eine solche Kirchenspaltung ist also kein Schreckgespenst, ganz gleich, welchen Weg (gehen oder bleiben) die Traditionalisten einschlagen.
Was einem aber Angst machen könnte, ist die Gefahr eines „Putsches“ innerhalb der Katholischen Kirche, mit dem man freilich unternehmen müsste, einen Papst nach eigenen Wünschen „herbeiführen“. Wenn sich also etwa die traditionalistischen Kardinäle zu einem neuen „Konklave“ zusammentäten, würden sie allerdings doch nur einen „Gegenpapst“ wählen können; und mit einem solchen „Gegenpapst“ wäre innerhalb der Katholischen Kirche kein Staat zu machen. Ohne einen „richtigen“ Papst wiederum wären jene, die dem im Amt befindlichen Papst den Gehorsam verweigern und sich als „Gegenhierarchie“ etablieren, nur eine den „Piusbrüdern“ vergleichbare Gruppierung. Ihre Mitglieder würden jeder Funktion in der Katholischen Kirche verlustig gehen bzw. vom Papst ihrer bisherigen Funktionen entkleidet werden. Es steht nicht zu erwarten, dass sich einer solchen Gruppierung viele Laien – außer vielleicht der harten Kern traditionalistisch Gesinnter – anschließen würden.
Ein solcher „Putsch“ müsste daher mit der „Beseitigung“ des im Amt befindlichen Papstes beginnen. Dafür gibt es aber nur zwei Möglichkeiten: entweder eine physische Beseitigung, wie es (allerdings nur zufolge bestimmter „Verschwörungstheorien“ und daher nicht nachweislich) im Fall von Papst Johannes Paul I. geschehen sein könnte, oder die Entfernung aus dem Amt. Eine solche ist zwar kirchenrechtlich derzeit nicht vorgesehen, nach alter Auffassung aber z.B. bei körperlicher oder geistiger Unfähigkeit, das Amt weiter auszuüben, möglich, oder bei offenbarer Häresie, durch die sich ein Papst von der Kirche trennen würde.
Bleiben wir noch bei dieser an sich ja absurden Überlegung: Wie immer wieder gemeint wird, habe Franziskus – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – gegen eine physische Beseitigung eine gewisse Vorkehrung durch den Umstand getroffen, dass er seine Wohnung nicht im Apostolischen Palast genommen habe (wo es ihm unbekannte Geheimgänge oder -türen geben könnte), sondern im vatikanischen Gästehaus Domus Sanctae Marthae. Überdies speise er immer zusammen mit Mitarbeitern und/oder Gästen, sodass sich eine plötzliche „Magenverstimmung“ auf mehrere Personen erstrecken würde und ihre eventuell letalen Folgen daher nicht allein der Konstitution des Papstes zugeschrieben werden könnten.
Bleibt als „realistisches“ Szenario daher nur der Versuch der „Absetzung“ des Papstes durch eine Gruppe von traditionalistischen Kardinälen, welche ihm Amtsunfähigkeit oder offenkundige Häresie unterstellen müssten. Ein solcher Versuch dürfte aber nicht die aktive oder passive Unterstützung aller Mitglieder des Kardinalskollegiums finden, sodass er eben nur ein umstrittener Versuch bliebe. Würde dann der Papst diesen als das bezeichnen, was er wäre, nämlich ein unrechtmäßiger Putsch, und sein Amt weiter ausüben, dann stünden die „Putschisten“ als „Schismatiker“ da und könnten sich kaum der Gefolgschaft einer erheblichen Zahl von Kirchenmitgliedern sicher sein.
Freilich hängt in einem solchen angenommenen Fall der Ausgang auch vom Stehvermögen des Papstes ab. Würde ihm ein solcher Putsch angedroht und der Versuch gemacht, ihn mit dem Hinweis auf den Schaden, der in einem solchen Fall der Kirche erwachsen würde, zum freiwilligen Rücktritt zu bewegen, so müsste Franziskus bereit sein, Widerstand zu leisten und sich diesem Druck nicht zu beugen. Dann bliebe den Putschisten als letztes Mittel nur, den Papst gewaltsam an seiner Amtsausübung zu hindern, indem sie ihn z.B. in irgendeinem Verlies des Vatikans incommunicado verschwinden ließen. Ob so etwas freilich in der Informationsgesellschaft von heute noch so ohne weiteres möglich wäre, ohne weltweites Aufsehen zu erregen und auf entsprechende Ablehnung, ja Gegenwehr zu stoßen, darf bezweifelt werden. Damit würden aber das ganze Unternehmen und alle, die sich an ihm beteiligen, diskreditiert.
Bleibt den potentiellen Putschisten als letztes Mittel nur der psychologische Druck auf Franziskus vor dem Putsch, um sich diesen – in welcher Form auch immer – zu ersparen. Sie könnten dem Papst eröffnen, dass sie zu einem solchen Putsch „ohne Wenn und Aber“ bereit seien, ihm die davon im Falle seines Widerstandes zu erwartenden negativen Folgen für die Kirche in den grellsten Farben schildern und ihn fragen, ob er „der Kirche so etwas wirklich antun“ möchte.
Ob der Papst einem solchen Druck nachgeben würde, kann niemand wissen, bevor sich die entsprechende Situation ergeben hat. Aufgrund der deutlichen Worte, die er den Kurialen bei offiziellen Anlässen schon öfter gesagt und mit denen er den Klerikalismus als eine Pest bezeichnet hat, kann man aber zumindest der Hoffnung sein, dass sich Franziskus einer solchen Herausforderung stellen und nicht aus Scheu vor einem kirchlichen Skandal einknicken würde. Freilich kann man sich gar nicht ausmalen, welchem psychologischen Druck (und vielleicht auch welcher auch physischen Bedrohung) der Papst ausgesetzt werden könnte, bis er zuletzt meint, sich selbst als „Opfer“ darbringen zu müssen, ad peiora vitanda – um Schlimmeres (für die Kirche) zu verhindern. Moraltheologisch gesehen wäre das natürlich verfehlt; und da Franziskus aus dem Jesuitenorden kommt, dessen Mitgliedern der Umgang mit moraltheologischen Fragen wohl vertraut ist, steht nicht zu erwarten, dass er einen solchen moraltheologischen Unfug nicht erkennen und ihm zum Opfer fallen würde.
Ich knüpfe noch einmal an Kohlmaiers „Gedanken“ an, und zwar dort, wo ich mit ihm ausnahmsweise nicht völlig übereinstimme. Ich glaube nämlich nicht, dass des Papstes allzu zögerliches Vorgehen in Sachen Kirchenreform auf eine Angst seinerseits vor einer „Kirchenspaltung“ zurückzuführen ist, obwohl eine solche gerade von seinen traditionalistischen Gegnern wie der Teufel an die Wand gemalt wird. Ich glaube vielmehr, dass einer umfassenden Kirchenreform ein vollständiges ekklesiologisches, fundamentaltheologisches und dogmatisches Konzept zugrundeliegen muss, sodass die einzelnen „Züge“ harmonisch ineinander greifen. Ich habe in meinem Leben bisher erst einen Bischof kennengelernt, dem ich ein solches Konzept zumindest in seinen Grundsätzen zugesonnen bzw. zugetraut hätte – und der ist auch schon lange tot. Ich habe aber eine ganze Reihe von Bischöfen – auch solche in Sachen Kirchenreform guten Willens – kennengelernt, denen dazu all die notwendigen ekklesiologischen, fundamentaltheologischen und dogmatischen Kenntnisse, die man für ein umfassendes Konzept bräuchte, abgegangen sind. Sie waren (z.B. auch) der Meinung, dass die Menschenrechte in der Kirche entweder ohnedies am vollkommensten geschützt seien oder aber gegenüber der Kirche erst gar nicht eingefordert werden dürften, weil dort ein höheres, „göttliches“ Recht gelte.
Ich glaube vielmehr, dass Franziskus nicht über ein solch umfassendes, ekklesiologisch, fundamentaltheologisch und dogmatisches fundiertes Konzept für die Kirchenreform verfügt und dass ihn daher immer wieder Einwände aus dem Lager der Traditionalisten zu verunsichern in der Lage sind. Hier wäre ihm zur Seite ein um zwanzig Jahre jüngerer Hans Küng als Präfekt der Glaubenskongregation zu wünschen gewesen! Nach dem einen oder anderen, der heute dafür in Frage käme, hat Franziskus aber entweder noch gar nicht gesucht oder ihn doch nicht gefunden. Der dem Papst aus dieser Lage erwachsende Unsicherheit hat er bisher vergeblich dadurch zu entkommen versucht, dass er Anstößen zur Reform von Seiten der Bischöfe eingefordert hat, die ihm allerdings ganz offensichtlich bisher nicht zugekommen sind. Dass von den Kreaturen Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. solche Anstöße nicht gekommen und auch nicht zu erwarten sind, liegt allerdings sosehr auf der Hand, dass Franziskus dies längst durchschaut haben müsste. Dass mit der Kirchenreform nichts weitergeht, liegt daher m.E. nicht primär an einer Ängstlichkeit des Papstes, sondern – sit venia verbo – an seiner offenbar grenzenlosen Naivität.
Fußnoten#
[2] Dementsprechend wies Heiner Boberski in der Wiener Zeitung (https://www.wienerzeitung.at/weltpoli-tik/297748_Der¬zeit-mehr-als-20-Gegenpaepste.html) schon vor längerem darauf hin, dass Absplitterungen von Rom meist nicht von Reformern, sondern von reaktionären Kirchenkreisen ausgehen.