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Von

Herbert Kohlmaier

Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit, Nr. 1/2011


Der Deutsche Bischof und Ökumene-Beauftragte Gerhard Müller hat im Vorfeld des Papstbesuches und der geplanten Begegnung mit den Protestanten diese aufgefordert, sich von der Äußerung Martin Luthers zu distanzieren, der Papst sei der Antichrist. Die Evangelische Kirche reagierte mit dem wohl zutreffenden Hinweis darauf, was sich doch alles seit der Reformationszeit geändert habe. Der Schritt Müllers mutet insofern recht seltsam an. Er ist wohl nur psychologisch zu deuten. Offenbar fühlt man sich von Luthers Vorwurf noch immer betroffen und das ist immer dann so, wenn ein solcher „treffend“ ist. Hatte er also seine Berechtigung, sogar bis heute?

Lässt doch schon der erste Blick auf Rom einen zweifachen Widerspruch zum Willen Christi wahrnehmen. Das Oberhaupt der Katholiken wird „Heiliger Vater“ genannt, obwohl Jesus beide Worte als religiöse Attribute für Menschen abgelehnt hat – wollte er selbst doch nicht einmal gut genannt werden! Die Entwicklung der Kirche mit ihrer hierarchischen Verfassung muss also zum Standpunkt geführt haben, man habe die Befugnis, eindeutige Anweisungen des Herrn zu ignorieren. Geht es dabei nur um Äußerlichkeiten und belanglose Formeln oder nicht doch um die Substanz des Evangeliums?

Um dies zu beantworten, bedarf es jener Besinnung auf das Wesen der Lehre Jesu, wie es unbegreiflicher Weise in den Hintergrund des Kirchenbetriebes geraten ist. Zwar hat Wissenschaft geklärt, wo die Evangelisten Ungenaues berichten oder Erfundenes hinzufügen, aber unverkennbar ist, wie Jesus das Gottesreich verkündete. Seine Botschaft ist eine spirituelle und dringt in die Herzen. Alles hängt am biblischen Liebesgebot, das in vollendeter Weise zum Durchbruch kommen soll. Christentum bedeutet radikale Absage gegenüber Gewalt, Rücksichtslosigkeit und Materialismus. Heute, zwei Jahrtausende danach, hat die Bergpredigt unveränderte Aktualität – sind es doch noch immer diese Übel, unter denen die Menschheit schrecklich leidet.

Einen Auftrag zu Kult, Opferritualen und zur Befolgung religiöser Vorschriften hat Jesus nie gegeben. Sein epochaler Schritt zu einem neuen Glauben war, uns zu einer unmittelbaren, innigen und unbedingt vertrauensvollen Beziehung zum Vater im Himmel zu befähigen. Er hat geboten, sich jeder Form des Herrschens und allen Regelwerks zu enthalten, das sich nur Menschen und Würdenträger ausgedacht haben. Doch die Institution Kirche wurde bestimmender Ordnungsfaktor des alten Europa. Mag sie dabei auch Großes bewirkt und bis heute viel Heilbringendes geleistet haben: Mit dem Erlangen von politischer Macht hat sie den Weg des Herrn verlassen.

Wurde die Abwendung von Jesu Willen nicht schon längst zum Widerspruch? Hat nicht allzu oft klerikaler Eigennutz den Blick auf das verstellt, was der Herr wollte? Bei Betrachtung dessen, was der Kirche heute arge Probleme schafft, zeigt sich das sogleich, etwa bei der nicht zu unterdrückenden Diskussion über den Zwangszölibat und die Beauftragung von Frauen mit geistlichen Diensten. Man ruft zum Beten um Arbeiter im Weinberg des Herrn auf, aber weist unzählige kostbare Berufungen ab. Längst überholtes Regelwerk hat also mehr Bedeutung als die Sicherung der Seelsorge. Das ist ganz eindeutig ein Handeln gegen den Willen Christi!

Jesus ging auf alle zu, auch und gerade jene, die in einer herzlosen Gesellschaft Außenseiter waren. Verlorene und Ausgeschlossene gab es für ihn nicht, niemand war ihm zu gering. Wir haben daher die Pflicht, so wie er allen Menschen gegenüber immer Offenheit und Zuwendung an den Tag zu legen. Doch Abgrenzung und das Einnehmen autoritärer Positionen wurde zum Charakteristikum der Hierarchie. Sie sieht sich noch immer über einem Kirchenvolk stehend, das Gehorsam zu üben hat. An ihrer Spitze hat sich ein Mann die Befugnis erteilen lassen, alles selbst zu entscheiden, ohne Begrenzung oder Kontrolle seiner religiösen Macht. Er behauptet gar, diese wie alle seine Vorgänger von Jesus selbst erhalten zu haben!

Wer an der Kirchenleitung teilnehmen will, muss dem Papst bedingungslosen Gehorsam geloben. Wiederum ein eklatanter Widerspruch zum Herrn, der das Schwören nicht will! Lehrte er doch, dass Treue und Wahrhaftigkeit aus einem reinen Herzen kommen müssen, nicht aber aus formelhaften Zwängen. Jeder Mensch, welchen Ranges oder Titels auch immer, muss die Überzeugung eines Anderen hören und sorgfältig abwägen. Vor einem Urteil oder gar einer Verurteilung sich nicht selbst zu prüfen, hindert nach den Worten Jesu, von Gott gehört zu werden. Müsste ein Ökumene-Beauftragter nicht über die Fehler seiner Kirche nachdenken, bevor er Splitter im Auge des Protestantismus sieht?

Jesus ist in die Welt gekommen, die Repräsentanten seiner Kirche ziehen sich heute immer mehr von ihr zurück. Sie predigen, diese Welt sei durch den Tod Jesu am Kreuz erlöst worden, doch der Papst sieht in ihr den rechten Glauben verloren gehen, ja sogar den Teufel am Werk! Habe dieser doch das kürzlich abgehaltene Priesterjahr nicht leiden können. So stellen sich also die ausgerechnet in dieser Zeit zu Tage getretenen Missbrauchsskandale als Werk des Bösen heraus, nicht aber als Folge eigenen Versagens. Immer mehr scheint ängstliche Abwehr das vatikanische Denken zu bestimmen. Kardinal Walter Kasper, der ehemals den Rat zur Förderung der Christlichen Einheit (!) leitete, erklärte zur Absicht eines neuerlichen interreligiösen Treffens in Assisi: „Man kann nicht gemeinsam beten“.

Abgrenzung als Widerspruch zu der von Jesus geforderten Einmütigkeit in Liebe führt zur Flucht in abgeschlossene Bereiche. Trügerische Sicherheit wird bei Gruppen gesucht, wo rigide Regeln der Unterwerfung gelten und eine scheinbare Elite dem unheiligen Volk entrückt ist. Hier will man Jesus ausgerechnet in der Sprache jener antiken Macht anreden, die ihn zu einem grausamen Tod verurteilte. Aber jene, die in brennender Sorge zum Umdenken mahnen, werden auf strikte Distanz gehalten. Man antwortet ihnen nicht, man spricht nicht mit ihnen, sehr wohl aber mit denen, die den Fortschritt des Vatikanums verwerfen.

Hat Jesus je Antwort und Rechtfertigung verweigert? Ließ er sich nicht sogar von einer einfachen Frau vom Umfang seiner Sendung überzeugen? Ursünde der Schrift ist, wie Gott sein zu wollen. Sie wird auch durch die Behauptung begangen, allein zu wissen, was dieser will. Wer aufgrund heiligen Standes Vollkommenheit und alleinigen Wahrheitsbesitz beansprucht, erhöht sich selbst zur Göttlichkeit. Mit größter Eindringlichkeit warnt Jesus davor! Doch der Papst verkündet die blasphemische Meinung des Heiligen Pfarrers von Ars, der Priester habe sogar die Macht, Gott in die Hostie zu befehlen.

Hätte dies einer der Apostel gehört, wäre er wohl total verwirrt und entsetzt gewesen. Gehört die Kirche Jesus oder Jesus der Kirche? Hat sich diese nicht längst zwischen die Menschen und Gott gestellt, ja, den Unfassbaren sogar in ihren Besitz genommen? Jenen Gott, der uns allen nach den Worten Jesu ganz nahe sein sollte, meint man der Verfügung von Menschen überantwortet, die darüber bestimmen, wo er wohnt und wie ihm zu dienen ist.

Der Weg vom Wahn eines solchen Anspruchs hin zur Verlogenheit ist kurz. Der Papst behauptet, die Tradition zu garantieren, ignoriert sie aber bei den Bischofsernennungen. Man muss ja alles abwehren und leugnen, was jene eigene Heiligkeit gefährden könnte, die aber nach den Worten des demütigen Jesus dem Vater im Himmel vorbehalten bleibt, nicht dem in Rom. Benedikt erklärt, dass sie nur durch Keuschheit erreicht werden kann. Unzählige Priester können oder wollen dem nicht folgen, aber das wird so lange vertuscht, bis es ans Licht kommt. Und tritt dann ein Priester in den von Jesus geheiligten Stand der Ehe, wird er verjagt, während die Verheimlicher bleiben dürfen.

Die Abkehr vom Wollen Jesu wird immer grotesker sichtbar für eine gnadenlose Öffentlichkeit, die ihre Scheinwerfer überall hin richtet. Kirche sollte anziehen, nicht abschrecken, aber ihre unbiblische Frauenfeindlichkeit und neurotische Sexualmoral machen sie zum Gespött. Erst neulich erklärte Benedikt angesichts Michelangelos Fresken mit nackten Körpern, dass geschlechtliche Beziehungen nur der Fortpflanzung dienen dürften. Die „Sünde lustvoller Sexualität“ hingegen mache den Körper zum „Instrument der Unterdrückung und des Verlangens, zu besitzen und auszunutzen“. Hätte man solche Worte je von Jesus gehört? Der kannte und achtete die Menschennatur, wie sie Gott geschaffen hat, mit ihrem Leid und ihrer liebevoll geschenkten Freude. Aber der Papst will das alles besser wissen.

Ist er mit einer solchen Auffassung von „Stellvertretung“ Gottes tatsächlich der „Antichrist“? Benedikts Bücher zeigen seine Liebe zu Jesus, dem er wirklich dienen will. Muss man ihm also auch dann folgen, wenn er die Kirche auf Wege führt, die andere als die des Herrn sind? Aber der Papst verkündet und verehrt einen Jesus, den es nie gegeben hat. Der von Gott gesandte jüdische Rabbi aus Nazareth wurde über viele Jahrhunderte im Sinne eines nicht selten archaischen Glaubensbedürfnisses sowie der Macht der Kirche bis zur Unkenntlichkeit adaptiert und manipuliert. Die fleischgewordene Liebe Gottes wurde zum König, der als Herrscher seinem Statthalter in Rom freie Hand gibt. Ein Einmannbetrieb soll uns den dreieinigen Gott nahebringen.

Wenn sich der Vatikan heute verbissen gegen überfällige Reformen wehrt, liegt die eigentliche Ursache in dieser Konstruktion. Sie mag im Mittelalter ihren Nutzen gehabt haben, ist aber heute einfach unerträglich. Um sie zu rechtfertigen, propagiert Benedikt seine „kanonische Exegese“, die antike Philosophie und kirchliche Tradition über die ursprüngliche Frohbotschaft stellt. Aber die Nachfolge Jesu kann und darf nur dem Evangelium und dem folgen, was mit redlichem Bemühen als dessen Sinn zu erschließen ist. Matthäus berichtet von dem Wort Jesu: wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Dieses „Gegen“ ist im Lateinische jenes „Anti“, das man Luther noch immer nicht verzeihen will. Ist es wegen seines polemischen Charakters wirklich so falsch, dass es – wie der Bischof meint – zurückzunehmen wäre?