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Das hinterfragte „Christliche Abendland“#

Von

Herbert Kohlmaier

Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 160/2015


Setzen wir wieder unsere Reise in die Kirchenzukunft und zu Franziskus II. fort, der gerade das große Reformkonzil vorbereitet – eine wahre Herkulesaufgabe! Aber hin und wieder braucht er doch eine Entspannung. Als der Papst von einem Konzert mit dem berühmten Operntenor Robert Dejeune im Auditorium Parco della Musica erfährt, beschließt er, sich das anzuhören. Der Sänger hatte nämlich mit ihm die gleiche Highschool besucht. So wird ein Wiedersehen in Form eines gemeinsamen Abendessens nach der Aufführung arrangiert.

Nun sitzen beide entspannt im „Pane & Vino“, um alte Erinnerungen auszutauschen. Robert formuliert seine Frage nach dem Befinden des nun so prominente Schulkameraden George May mit einem amüsierten Lächeln, aber höchst ungewöhnlich: „Wie geht es Dir, alter Freund, mit Deinem Schwindeljob?“ Die herum sitzenden Gäste schauen auf, denn der Papst lässt das Besteck mit einem Klirren auf den Teller fallen. Als der Musensohn merkt, wie erschrocken der alte Freund auf diese seine Worte reagiert, beeilt er sich zu betonen, dass das keineswegs bös gedacht war.

George hat sich wieder gefasst: „Wie meinst du das? Bist du gar ein Atheist geworden?“ Dies wird sogleich heftig bestritten. „Keine Rede! Ich bin ein sehr gläubiger Mensch! Aber ich will Dir sagen, was ich mit Schwindel meine und damit bin ich ja keineswegs allein. Unlängst habe ich wieder einmal in Bachs Matthäus-Passion gesungen und hab mir dabei so meine Gedanken gemacht. Da wird der liebe Jesus von den verhassten Römern umgebracht, alle sind erschüttert. Und dann wird bis heute vorgetäuscht, er hätte sich ein pompöses Kirchenimperium ausgerechnet in Rom gewünscht, wo ganz hoch oben sein Stellvertreter thront. Genau diesen Job machst du ja jetzt, mein lieber George!“

Damit nimmt das Zusammentreffen eine ganz andere Wendung als zunächst gedacht. „Ich versteh dich schon, lieber Robert“, meint nun der Papst, sich seines Bestrebens stets gleichmütiger Güte besinnend. „Du sprichst natürlich ein an sich großes Problem an, das auch mir seit dem Anfang meiner Priesterlaufbahn Kopfzerbrechen macht. Ich will dir gar nicht erzählen, welcher klerikale Imperialismus tatsächlich noch immer hinter den Mauern des Vatikans wohnt. Aber das hat sich schon seit Bergoglio sehr geändert und ich arbeite weiter daran. Diesen Ungeist wegzubringen, braucht lange, nämlich bis auch die Letzten der alten Garde endgültig abgetreten sind“.

Nachdem der Kellner die Weinkarte gereicht hat und eine sorgfältige Wahl getroffen wurde, setzt der Papst fort: „Aber sei gerecht und bedenke es doch auch – das Christentum musste organisiert werden, sonst wäre es ja bald weg gewesen. Wer hätte das sonst so effizient zusammengebracht wie die Kaiser Roms, ein Constantin und ein Justinian? Und danach die christlichen Herrscher Europas? In wahrhaft schweren Zeiten und unter widrigsten Umständen, aber doch das Beste für das bedrängte Volk wollend!“

Kopfschüttelnd erwidert darauf Robert. „Das stimmt schon, aber ist da nicht ein riesiger Widerspruch entstanden, nämlich und schließlich bei der Konstruktion dieser Kirche? Der Wanderprediger aus Galiläa war nicht nur arm und demütig, er hat auch verlangt, dass sich niemand zum Herrscher aufspielen sollte. Aber was haben Päpste gemacht? In Luxus und Machtrausch haben sie regiert und“ - er senkt seine Stimme – „gehurt! Ich weiß natürlich, dass es auch viele bewundernswerte Männer an der Spitze und überhaupt in der Kirche gegeben hat. Und mein Ärger bezieht sich schon gar nicht auf dich, ich weiß, was du für ein anständiger Kerl bist“.

Der Papst überlegt nun, ob er nicht das Thema wechseln soll, aber die kritische Angriffslust seines ehemaligen Schulkameraden lässt ihn nicht in Ruhe. „Natürlich stimmt, was Du sagst. Aber bedenke doch – es hätte das christliche Abendland nicht gegeben, wenn nicht die Kirche und die christlichen Herrscher gemeinsam sehr wohl ernst genommen hätten, was Jesus gelehrt hat. Aus einer nur brutalen und menschenverachtenden Welt ist etwas Neues und viel Besseres gewachsen und hat unendlich viele Früchte getragen.

Dass die Menschheit heute viel weiter ist und dass die Menschen frei und in ihrer Würde anerkannt sind, ist der Kirche zu verdanken. Sie hat die Anstöße gegeben, die dann viele große Geister aufgegriffen haben, was zu wenig bedacht wird. Und welch schreckliche Fehler gemacht wurden, ist uns sowieso klar, aber das war doch immer so! Bis heute, wo es oft nur bei Lippenbekenntnissen bleibt, aber das Ziel der Humanität als Frucht des Evangeliums steht doch fest!“

Robert will dennoch nicht ganz von seinen Einwänden ablassen. „Du sprichst von Freiheit und Würde. Haben nicht viele deiner Vorgänger Leute gemaßregelt, weil diese sich die Freiheit genommen haben, frei zu reden – Theologen und sogar Bischöfe? Wo blieb da deren Würde? Aber noch einmal: ich weiß, dass du das alles endgültig überwinden willst, und das schätzen alle. Aber jetzt sehen wir uns doch einmal die Situation ganz simpel an, sie ist doch klar: Das Christentum hat den Fortschritt gebracht, aber die Kirche selbst ist zurückgeblieben, dort wo die Herrscher des Altertums waren.

Und weißt du, was mich besonders ärgert? Eben diese Tricks, die nach wie vor bedenkenlos angewendet werden, weswegen ich das Wort Schwindel verwendet habe, was natürlich unpassend war. Noch ein Beispiel: Da wird uns immer wieder eingeredet, dass die Bibel das Wort Gottes sei, daher müsse alles genau beachtet werden, was dort steht. An der Spitze die zehn Gebote, von denen eines sagt, dass man sich kein Bild machen soll. Unlängst habe ich in einer Kirche gesungen. Im Lauf der Zeremonie haben sie eine Statue herumgetragen und angebetet. Es war eigentlich beklemmend. Wo ist da die Wahrhaftigkeit? Ich weiß schon, der Fundamentalismus verlockt auch die Kirche, aber wenn schon, dann müsste man doch jede Bibelstelle auf gleiche Weise streng beachten, sonst täuscht man eben die Menschen!“

Darauf macht der Papst, während er nun wieder lächelt, eine wegwerfende Handbewegung. Sie bezieht sich offenbar auf den ins Spiel gebrachten Fundamentalismus und wirkt in der Situation des Gesprächs irgendwie befreiend. Die beiden sehen einander verständnisvoll an – gleichsam unausgesprochen zum Ausdruck bringend, dass eben nichts auf dieser Erde vollkommen sei und die Kirche ein weites Feld des Versagens ebenso wie ein Hort des Guten und Schönen. „Trinken wir auf die menschlichen Schwächen und auf das große Verstehen!“ meint nun der Papst. Sie erheben ihre Gläser, sich nun doch ihrer Freundschaft vergangener Zeiten froh besinnend.

In diesem Moment betritt ein alter Mann das Lokal und bietet die neue Ausgabe des Corriere della Sera an. Auf der Titelseite prangt die Überschrift: „UNO-Generalsekretär nach Anschlag auf Islamschule: Menschenrechte sind unteilbar!“ George ruft den etwas schäbig Gekleideten herbei, bevor ihn der Padrone hinausweist, gibt ihm eine Münze und nimmt die Zeitung zur Hand. Er blättert ein wenig in ihr und stößt auf einen Artikel, der sich mit einem Philosophentreffen in den Tiroler Bergen befasst.

Dabei wird von einem Vortrag berichtet, in dem die Auseinandersetzung der Religionen mit dem Phänomen Gewalt behandelt wird. Er mündet in der Feststellung, dass die „Ethik des Mitgefühls“, wie sie der frühere Dalai Lama vertreten hätte, eigentlich in vollkommener Übereinstimmung mit der Lehre Christi stehe. Franziskus lässt seinen Freund diesen Beitrag lesen, der vielsagend nickt: „Passt doch wunderbar zu unserer Diskussion! Wie so oft im Leben ein Fingerzeig!“

Doch dann muss die Zeitung vom Tisch, denn es wird köstlicher Käse serviert. Während der genossen wird, plaudern die beiden Herren nun wirklich ausgiebig über die alten Zeiten. Schließlich verlassen sie das Restaurant in guter Laune, das Personal und auch einige Gäste verneigen sich in ihre Richtung. Der Papst klopft Robert auf die Schulter und sagt: „Weißt du, was die sich jetzt denken? Wer ist bloß der Mensch, mit dem der berühmte Dejeune hier war?“

Man verabschiedet sich mit guten Wünschen, der Papst besteigt sein Auto. Vorher umarmen sich die beiden und finden gemeinsam, dass diese Welt wohl wert sei, in ihr zu leben, wenn man nur nicht alles zu sehr ernst nähme. Dazu verhelfe immerhin ein Glas guten Weines auf einem Tisch, an dem man sich zusammengefunden hat, um frei und offen miteinander zu reden.


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