Der katholische Mikrokosmos im „Goldenen Ochsen“#
Von
Herbert Kohlmaier
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 148/2015
Wie jeden Donnerstag kommen sie wieder zu ihrer Tarockrunde zusammen – drei Männer und eine Frau, die dem geliebten Kartenspiel im Extrazimmer des renommierten Gasthofs zum Goldenen Ochsen frönen. Allesamt sind sie in der kleinen Stadt bekannt und angesehen, vor allem der schon recht betagte Pfarrer. Mit von der Partie weiters die eher jüngere Apothekerin, der Inhaber der Autowerkstatt und der Rechtsanwalt.
Man ist nicht nur durch das gemeinsame Spielvergnügen verbunden, sondern auch sehr befreundet. Dabei gelten aber zwei Regeln. Es darf nicht politisiert werden, denn man ist sich da nicht einer Meinung. Ebenso soll die Kirche kein Gesprächsgegenstand sein, was sich der Pfarrer erbeten hatte. Es hat den Anschein, dass er sich an diesen gemeinsamen Abenden von der Mühsal, drei Gemeinden betreuen zu müssen, einfach lösen will, aber auch von Dingen, die ihn bei Ausübung seines Dienstes bedrücken.
Trotzdem schneidet Willi, der Mechanikermeister, diesmal das heikle Thema an. Während man das Spiel für eine Stärkung unterbrochen hat, fragt er den Priester, wie dieser mit dem jungen Kaplan zufrieden sei, den man ihm neulich zugeteilt hat. Der so Angesprochene schweigt zunächst, nicht gerade erfreut dreinblickend. „Ich würde sagen, er ist sehr brav“. Darauf meint der sich Erkundende, also er wäre sehr froh, wenn er einen „braven“ Lehrling hätte, die seien nämlich heutzutage selten zu bekommen.
Nun hin sieht sich der Mann Gottes doch veranlasst, deutlicher zu werden. „Er ist deshalb brav, weil er den ganzen Tag in Soutane und Kollar umherläuft, immer hübsch artig. Als ihn die Jungschar zum Fußballspiel einladen wollte, lehnte er nicht gerade freundlich ab. Eine seiner ersten Fragen, die er an mich gestellt hat, war, ob es bei uns auch lateinische Messen gäbe. Da könnten die Leute das Heilige wirklich erfahren, und weil das nicht mehr passiere, ginge der Glaube verloren“.
Nach dieser Auskunft blicken alle so wie vorher der Pfarrer recht nachdenklich drein. Konrad, der Anwalt, wird aber dann zornig. „Jetzt sag mir, was mit unserer Kirchengemeinde sein wird, wenn Du nicht mehr da bist, lieber Josef! Solche Typen wie dieser seltsame Nachwuchspriester – wenn überhaupt einer da ist – vertreiben doch nur die Leute, dann kann die Kirche zusperren! Es gehen ohnedies immer weniger hin zu den Messen!“ Da wird aber dann auch der Pfarrer ärgerlich: „Du rede nichts vom nicht hingehen – die ganze Karwoche hab ich dich nicht gesehen, beim Kreuzweg nicht und auch nicht bei der Osternachtfeier – wobei alle sagen, dass die sehr eindrucksvoll war!“
Was eigentlich vermieden werden sollte, ergibt sich nun, ein streitender Disput. Konrad richtet sich auf, dann beugt er sich vor und schleudert dem geistlichen Tarockfreund geradezu entgegen: „Ich kann Dir sagen, warum ich nur mehr selten in die Kirche gehe, obwohl ich – wie Du weißt – ein Katholik bin. Ich halte dieses Gebrabbel, das auch du herunterleiern musst, einfach nicht mehr aus. Die ganze Osterwoche hört man nur Klagelieder und alles, was man dem armen Jesus Fürchterliches angetan hat, wird bis ins Detail ausgebreitet. Angeblich ist ja damit das große Erlösungswerk in Gang gesetzt worden, über das wir so unendlich glücklich sein sollen! Aber diese Welt ist nicht erlöst, weniger denn je!“ Er nimmt eine Zeitung zur Hand, wo als Schlagzeile Gräuel der Terrororganisation IS erwähnt werden.
Da schaltet sich nun Willi ein. „Also jetzt streitet nicht! Lieber Konrad, du weißt ganz genau, dass unser Herr Pfarrer ein sehr aufgeschlossener Mensch ist. Du tust ihm unrecht! Er muss sich ja an die vorgeschriebenen Regeln halten, und wo er kann, macht er eh alles sehr passend, besonders mit der Jugend. Schau, es wird sich ja jetzt alles verbessern, ich bin mir sicher, dass der Franziskus die alten Zöpfe abschneidet. Das wird auch der Herr Kaplan akzeptieren müssen, solche Leute sind ja immer“ – sich räuspernd – „papsttreu!“
Ganz anwaltlich mäßigt sich nun Konrad und entschuldigt sich wegen seiner Heftigkeit, die ja nicht dem lieben Josef galt. „Wenn wir jetzt schon davon reden – und einmal muss es ja gesagt werden: Ich mach mir um die Kirche nur noch Sorgen, ich, der ich als Mitglied des katholischen Cartellverbandes das Prinzip Religion hoch halte. Also lasst es mich sagen: Ich bezweifle immer mehr, dass diese ganze Katholizität noch in unsere Zeit und in unsere heutige Gesellschaft passt!“
Vielleicht auch angelockt durch die ungewohnt lauten Töne betritt der Wirt das Extrazimmer, setzt sich zum Tisch und fragt nach eventuellen Wünschen. „Ihr werdet doch nicht gestritten haben? Hat einer falsch gespielt?“ „Aber wo!“, lässt sich nun Elfriede, die Apothekerin vernehmen. „Eigentlich findet hier ein interessantes Glaubensgespräch statt. Wann warst denn du, lieber Herr Wirt, das letzte Mal in der Kirche?“ Doch da ist sie an den Falschen geraten. „Ich bin Protestant und gläubig, aber nicht praktizierend. Und der Herr Pfarrer“ – er verbeugt sich ein wenig in dessen Richtung – „ist allseits geschätzt. Aber ihr wisst es ohnedies: In meiner Kirche gibt es genau so Probleme wie bei euch“.
Womit das Spiel als eigentlicher Zweck der Zusammenkunft nun warten muss. „Bleib da, Herr Wirt, bestell mir vorher noch ein Bier, jetzt diskutiere wir ökumenisch“, ergreift Willi wieder das Wort. „Und nun möchte ich, dass ihr alle sagt, was euch Ostern bedeutet. Da wir ja alle Christen sind, glauben wir an die Auferstehung des Herrn. Also, lieber Herr Rechtsanwalt, was stört dich wirklich, wenn die Kirche das weltweit feiert – mit jubelndem Glockenklang?“
Der so angesprochene zögert ein wenig. „Ich will den Abend nicht verderben, wirklich nicht! Aber ich hab es schon gesagt.“ Er zeigt auf das Kruzifix im Herrgottswinkel. „Die Kirche schleppt eine riesige Last aus Altertum und Mittelalter mit sich und wirft sie nicht ab. Ja, Jesus ist auferstanden, davon bin ich überzeugt. Aber wie man das erklärt (oder, richtiger, nicht erklärt, denn es müsste für die Menschen unserer Zeit auch in der Sprache unserer Zeit geschehen), dem kann ich nicht mehr folgen; schon gar nicht tun das meine erwachsen werdenden Kinder“. Mit einer wegwerfenden Handbewegung: „trotz Religionsunterrichts. -
Mein älterer Sohn fragt mich unlängst, was so Besonderes an der Auferstehung wäre? Jesus sei doch nach der Kirchenlehre eine der drei göttlichen Personen. Dass er – sogar vom Vater gewollt! – grausam umgebracht werden muss, um sich und die sündige Welt mit einem Sühneopfer zu versöhnen, hält er – verzeiht das Wort, das ich hier wiedergebe – für ‚verrückt’. Ebenso, dass Jesus als Gott ‚erweckt’ werden muss, der erstens gar nicht sterben kann und zweitens, wenn er das getan hätte, doch nicht tot bleiben wird!“
Alle schauen nun auf den Pfarrer, aber der sitzt ganz ruhig da und sagt nichts. Die sich ausbreitende Verlegenheit nimmt Willi wahr und holt tief Atem. „Ganz ehrlich gesagt – ich denke manchmal auch so ähnlich. Für mich ist Jesus einfach der Mensch schlechthin! Und wenn er den Tod – wie es so schön heißt – besiegt hat, kann er das nicht als Gott getan haben, denn Gott braucht nicht kämpfen und nicht siegen, wie wir elende Menschen. ER steht ja unendlich weit über all dem. Wem sollte auch Gott ein Opfer darbringen? Sich selbst?
Nein, Jesus war für mich ein unendlich begnadeter Mensch. Gott hat nicht eingegriffen, als man ihn ans Kreuz schlug, weil er das nie tut, wenn Unrecht geschieht, auch wenn es noch so fürchterlich ist. Aber er hat den, der ihm ganz und bis in den Tod vertraut hat, zu sich genommen und gerechtfertigt.“ Dann erhebt Willi beide Arme. „Auferstehung heißt, dass Gott uns alle liebt und zu sich nimmt, wenn wir uns ihm anvertrauen! So wie den Jesus, der auferstanden ist, der lebt und unter uns ist! Halleluja!“
Draußen hört man die Turmuhr schlagen, durch das Fenster dringt das letzte Abendlicht. Da nimmt Elfriede das Wort, die bisher lächelnd geschwiegen hat. „Das war ein schönes Wort. Wir sollten nun aufhören. Aber vorher lasst mich noch sagen, was für mich Auferstehung ist: Gott ist der Gott des Lebens und Jesus ist für mich die Verkörperung des Lebens schlechthin.
Wenn ich zu dieser Jahreszeit in meinen Heilkräutergarten gehe, spüre ich, wie Leben als ewiges und unendlich heiliges Prinzip durch die Kälte des Todes bricht. Ganz und gar, mit allen meinen Sinnen und meinem ganzen Körper fühle ich diese Kraft. Sie ist göttlich! Sie ist zu erfahren und zu erleben, wenn man das will, aber niemals durch Erklärungen und Dogmen zu erfassen. Ich glaube, wir Frauen verstehen das viel besser als ihr Männer, die ihr gar so gescheit seid. “ Sie steht auf: „Und jetzt setzen wir unser Spiel fort. Josef, Du gibst und Willi hat die Vorhand“.
Der Abend endet harmonisch, als ob nichts gewesen wäre; man zahlt den bescheidenen Spielgewinn aus und leert die Gläser. Der Pfarrer geht heim und tritt wie immer, bevor er zur Ruhe geht, vor das Marienbild im Schlafzimmer. Doch heute betet er nicht ein „Gegrüßt seiest du…“, sondern ganz anders.
„Mutter Gottes, unsere Elfriede, die keine Theologin ist, hat uns heute geholfen, dich zu verstehen – und das vielleicht besser, als der Katechismus, der dich so seltsam portraitiert, als Jungfrau, Königin und Fürsprecherin. Sie hat gesagt, das Leben bricht durch den Tod. Heiliges Leben ist auch durch dich gedrungen. Auch du hast nicht viel gefragt, sondern wie Elfriede in ihrem Gärtlein einfach verstanden, gespürt und gefühlt, mit deinem Herzen.
Und als Dein Sohn auferweckt war, hat Maria Magdalena wiederum mit allen ihren Sinnen erfasst, dass dies der Triumph des Lebens war, die unmittelbare Erfahrung der Gnade des lebendigen und Leben spendenden Gottes. Sie verstand das besser als die Apostel. Und danach ist alles zerredet worden, von dieser Männerkirche.“
Dann wendet sich Josef dem Kruzifix an der Stirnwand zu. „Herr Jesus Christus, heute bitte ich Dich nur um Eines und das aus tiefer Bewegung: Gib den Frauen Kraft, Mut und Geduld, die Kirche wieder zu einer Gemeinschaft des Erlebens und Lebens zu machen. Das, was in Gott das Mütterliche ebenso wie das Väterliche ist, soll durchbrechen durch das, was wir Unwissende uns zurechtgelegt haben, schwachem Verstand folgend, aber nicht unserem Herzen.
Diesem unserem Herzen, von dem du immer wieder gesagt hast, dass nur wichtig ist, was in ihm geschieht. Als der große Heiler der Menschheit hast du denen, die deine Hilfe erfuhren, gesagt: Dein Glaube hat dir geholfen. So hilf nun deiner Kirche, aus der glaubenden Kraft der Herzens zu schöpfen, die Kraft des Lebens und nicht Macht gelehrter Worte ist. Amen.“
Von Kirchturm schlägt es Mitternacht. Ein neuer Tag will beginnen.