Die Kirchenkrise hat neue Gestalt angenommen#
Von
Herbert Kohlmaier
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 252/2018
Ich traute meinen Augen nicht: Da las ich in einer offiziellen Ausendung, dass der so genannte Familienseelsorger der Diözese St. Pölten, Bischofsvikar Helmut Prader, erklärte, das kirchliche Verbot von Verhütungsmitteln in der Ehe sollte „nicht aufgeweicht“ werden. Da sich Verhütung "dramatisch" auf die Paarbeziehung auswirke, sei es "vernünftig", sich an Humanae vitae zu halten. – Und das 50 Jahre nach dieser missglückten „Pillen-Enzyklika“, die für den Vertrauensverlust in die Lehre der Kirche den entscheidenden Anstoß gab!
Wie es oft so ist, fallen manche Dinge auf bemerkenswerte Weise zusammen. Zur selben Zeit war von einer deutschen Studie über die Ursachen des Kirchenaustritts zu lesen. Entscheidend sei da das Erscheinungsbild der Kirche; besonders die Sexualmoral werde mit einer "nicht mehr zeitgemäßen Haltung" verbunden. Es ist also wirklich unfassbar, was dieser Kirchenmann von sich gab! Aber mir geht es nun nicht um eine Klage über das Unwesen der Stockkonservativen, sondern um eine höchst bemerkenswerte Situation in der Kirche überhaupt. Auch dazu gab es für mich ein aufschlussreiches zeitliches Zusammentreffen insofern, als ich am folgenden Tag einen Vortrag des Benediktinerpaters Martin Werlen zu seinem Buch «Zu spät – Eine Provokation für die Kirche, Hoffnung für alle» hörte.
Am Beginn kam auch die skandalöse Aussage des Salzburger Ex-Weihbischofs Laun zur Sprache, der die Segnung von homosexuellen Paaren u. a. mit der eines Bordells oder eines KZ verglich. Er reagierte damit wütend auf die Erklärung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Marx, dass auch eine Segnung homosexueller Paare im Einzelfall möglich sei, denn stärker als bisher müsse in der Seelsorge die Lebensgeschichte jedes Einzelnen in den Blick genommen werden.
Es geht bei all dem keineswegs um Einzelfälle oder gar Ausrutscher. Es tut sich in unserer Katholischen Kirche immer deutlicher eine Kluft auf. Auf der einen Seite erleben wir einen inspirierten Papst, dessen Linie breite Zustimmung im Kirchenvolk findet und der auch Werlen überzeugend folgt. Es ist ein angestrebter Paradigmenwechsel, den wir hier wahrnehmen. Die Kirche soll gleichsam vom hohen Ross autoritär ausgeübter Macht heruntersteigen und die Menschen gleich wie Gott ganz in den Mittelpunkt ihres Tuns stellen. Sie soll eine Kirche der Barmherzigkeit sein, eine Kirche der Armen und der an den Rand der Gesellschaft Gedrängten. – Diesem Konzept einer ebenso zeitgemäßen wie in der Nachfolge Jesu befindlichen Seelsorge stehen Hardliner gegenüber, die ideenlos und ängstlich in der Haltung des Bewahrens eines längst überholen und untauglichen Kirchenverständnisses verharren.
Während sich bisher ein Spannungsverhältnis zwischen der Kirche in ihrer hierarchischen Gestalt und der Außenwelt einschließlich des immer mehr dorthin abdriftenden Kirchenvolkes darstellte, ist nun der Widerspruch im Inneren des Systems manifest geworden. Das ist in weitaus größerem Maße zu einem Problem, eigentlich zu einer großen Herausforderung geworden, als man vermeinen könnte! Dabei geht es um viel mehr als um die Frage, wie sehr sich Franziskus gegenüber der konservativen Phalanx durchsetzen kann und wie weit er gehen kann, ohne die Gefahr einer verhängnisvollen Spaltung herbeizuführen. Auch nicht darum, was der nächste Papst tun wird. Es geht um die „von oben“ kommende Absicht und die Chance, einen Wandel im Wesen der Kirche herbeizuführen, in ihrer Eigenart, ihrer Aufgabe und in dem Verständnis, das sie selbst von sich hat und das die Menschen von ihr haben.
Die Konsistenz geht verloren #
Das wünschenswerte Bild einer einigen Kirche, um welche ja in der Messe gebetet wird, hat man bisher durch vatikanische Machtausübung verwirklichen wollen. Mit Strenge, ja mit Unbarmherzigkeit wurde vorgegangen, wenn jemand das System und seine Lehre in Frage stellte. Viele und bedeutende Theologen wurden deshalb gemaßregelt, ebenso hohe Geistliche. Da wurde schon hart geahndet, als der australische Bischof William Morris auch nur auf neue Möglichkeiten wie die Ordination von Frauen und Verheirateten hinwies, er wurde deshalb seines Amtes enthoben. Doch der Preis dieser künstlich und willkürlich herbeigeführten „Einheit“ war hoch. Er bedeutete den Verlust der Vertrauenswürdigkeit einer Kirche, die ohne Rücksicht auf Verluste den im gesamten Gemeinschaftsleben unentbehrlichen Prozess der freien Meinungsäußerung und des Fortschritts durch Abwägen der Standpunkte unterdrückte.
Das war ganz zweifellos eine wichtige Ursache der allseits wahrgenommenen Kirchenkrise. Man stellte sich außerhalb der historischen Entwicklung zur humanen Gesellschaft. Hier müssen wir uns allerdings die Bedeutung des Wortes Krise (altgriechisch κρίσις)vor Augen führen. Sie nennt nicht eine schwierige oder bedrohliche Situation an sich, sondern die durch eine sich abzeichnende Wende entstehende Situation der Entscheidung. Genau das ereignet sich jetzt in der Kirche!
Führen wir uns vor Augen, was es bedeuten würde, unterbliebe die Entscheidung für die eine oder die andere Gestalt der Kirche. Die „einige“ Gemeinschaft des Glaubens hätte dann so etwas wie zwei Fraktionen. Die eine würde Franziskus folgen wollen, die andere auf die unbeeinträchtigte Gültigkeit von Lehre und Kirchenordnung pochen, so wie sie einst hergestellt wurden. Das wäre ein Zwist von ganz anderer Qualität als jene Vielfalt der Glaubensvorstellungen, die sich längst entwickelt hat! Wie es ja überhaupt eine Illusion ist, zu meinen, alle hätten das gleiche zu glauben. Aber diese vielen persönlichen Meinungen bestanden bisher einfach, das war weder zu verhindern noch ein wirklicher Missstand. Sie traten aber nicht als offenkundiger Gegensatz zweier prinzipieller Standpunkte auf, und bildeten keine Zusammenschlüsse unter jeweiligen Spitzenrepräsentanten.
Das Schreckgespenst einer „Spaltung“ ist jetzt aufgetreten, ob man es wahr haben will oder nicht. Sie ist keine organisatorische oder institutionelle, sondern eine des verschiedenen Grundverständnisses von Kirche. Das ist höchst bemerkenswert! Es geht dabei keineswegs um ein Geschehen, das wie einst bei der Reformation mit dem Entstehen eines anderen und neuen religiösen Gebildes einhergeht, sondern es ist ein Ringen entstanden, das sich innerhalb der Kirchenleitung und – man kann es eigentlich nicht anders nennen – in der geistigen Sphäre abspielt. Es darf nicht zu lange andauern, soll die Kirche nicht ernsthaften und bleibenden Schaden erleiden. Diese Gefahr darf keinesfalls übersehen werden!
Seltsamer Weise setzt man derzeit da und dort wieder auf „Mission“. Natürlich ist es naheliegend, dass eine Glaubensgemeinschaft wirbt, und das gerade dann, wenn viele verloren gegangen sind und wieder gewonnen werden sollen. Aber welche Kirche will man da propagieren? Die des Franziskus oder die seiner Gegner? Die einer lebensnahen und einfühlsamen Seelsorge oder die eines traditionellen und kultorientierten Kirchenbetriebes, der den Menschen fremd gewordenen ist? Bei der Mission ist es durchaus angebracht, einen Vergleich mit dem Geschehen in der Wirtschaft herzustellen. Man kann ein Produkt nur bewerben, wenn es von eindeutiger Qualität ist und den gestellten Ansprüchen entspricht. (Oder anders gesagt: Man kann nur fertig vergorenen Wein vermarkten – es sei denn, man findet Liebhaber des nur kurze Zeit zur Verfügung stehenden „Sturmes“, auch „Federweißer“ oder „Sauser“ genannt.)
Wie kann und soll es weitegehen?#
Eine schwerwiegende Krise ist also eingetreten, eine dramatische Situation. Welches Bemühen sie beheben kann, ist schwer vorauszusehen, weder von Vatikankennern noch von gescheiten theologischen Köpfen. Natürlich ist denkbar, dass das aufkeimende Neue in einer erstarrten Umgebung sich irgendwie hält und weiterwirkt, abseits der offiziellen Institution Kirche. Doch die wird allemal noch vom Papst repräsentiert! Was auch die Pflicht bedeutet, Klarheit zu schaffen. Gibt doch das Kirchenrecht dem Pontifex maximus die Befugnis in die Hand, alles allein und frei zu entscheiden.
Aber Franziskus will diese seine Macht nicht ausüben. Man könnte das als Schwäche ansehen, aber bei ihm wirken vielmehr Realismus und jesuitische Klugheit. Sehr spricht für ihn, dass er seine weltweit das bischöfliche Amt ausübenden Mitbrüder in die Verantwortung nehmen will, dass er kollegiale und nicht einsame Entscheidung wünscht. Es ist das auch ein wesentlicher Bestandteil seines Erneuerungsdenkens.
Aber hat er da aufs falsche Pferd gesetzt? Es ist eindeutig sichtbar: Der Eifer, dem Kirchenoberhaupt auf neuen Wegen zu folgen hält sich, wie man so schön sagt, in Grenzen. Jahrzehnte lang hat man ja die „Oberhirten“ nicht nach der Tugend mutigen und selbständigen Denkens ausgewählt, sondern die „Papsttreuen“ befördert. Doch diese Haltung scheint den meisten von ihnen nun zu riskant. Schließlich weiß man ja nicht, wer bald der nächste Papst sein wird und ob man dann nicht von diesem eine auf den Bischofshut verpasst bekommt. Dabei wäre es sonnenklar: Würden jetzt schon alle Bischöfe dem Franziskus mit einer gehörigen Portion von Pflichtbewusstsein, ja von Begeisterung folgen, dann hätte ein auf Restauration bedachter Nachfolger keine Chance. Wie bedauerlich, dass dieser Gedanke nur eine Illusion ist.
Martin Werlen stellte bei seinem Vortrag fest, der nächste Papst werde es sich nicht leisten können, wieder die ihm vorbehaltenen vatikanischen Gemächer zu beziehen. Er meinte, dass diese wie überhaupt alle kirchlichen Prunkbauten als Symbol angemaßter Macht sogar niedergerissen und erneuert werden sollten. (Dabei nannte er auch sein barockes Kloster Einsiedeln, was ein unüberhörbares Murren im Auditorium auslöste). Was er sagen wollte, ist aber offenbar, dass es nach Franziskus keine Rückkehr zu den früheren Gepflogenheiten mehr geben könne, denn das würde jeden Nachfolger nur ins Unrecht setzen. Werlen baut – oder hofft – darauf, dass es wohl niemand wagen würde, die als so attraktiv empfundene Haltung seines Vorgängers zu desavouieren.
„Der Starke ist am mächtigsten allein“ (Schiller)#
Was er damit anspricht, ist wahrlich entscheidend. Hat der von einem menschennahen Jorge Mario Bergoglio SJ, der in die Armenvierteln ging, in Gang gesetzte Prozess der Erneuerung und der Wiederbesinnung auf das Evangelium schon so viel Anziehungskraft entwickelt, dass er nur noch fortgesetzt werden kann? Früher oder später, aber ohne unnötigen Aufschub? Darum geht es heute in der Tat! Werlen meinte, wir sollten uns da nicht nur wie Zuschauer verhalten, sondern wir wären alle herausgefordert, uns für das Bessere einzusetzen.
Wie das geschehen soll, konnte er nicht konkret sagen. Genügt moralische Unterstützung? Reicht da eine Aktion Pro Pope Francis (https://www.pro-pope-francis.com)? Sollte nicht geradezu ein Gebetssturm einsetzen, als Bestandteil, ja an der Spitze aller im Gottesdienst gesprochenen Fürbitten? Doch zu sehr unerkannt ist das Problem bei den meisten, den gleichgültig Gewordenen, auch zu groß ist das Misstrauen der traditionell denkenden Katholiken, die eben auch die Kirchen bevölkern. Freilich in immer schütterer werdenden Zahl, wie überhaupt jene Entfremdung als Folge einer Kirche eingetreten ist, die – wie die genannte Studie sagt – ein „nicht mehr zeitgemäßes Erscheinungsbild aufweist“.
Immer noch steht er irgendwie allein da, dieser Papst in seiner Auseinandersetzung mit den Unbeweglichen. Er vertraut auf Gottes Hilfe, er will nicht ein ungeliebter Störenfried sein, der Streit und Unruhe auslöst. Er will sich auch nicht mit den Reformern verbünden, sondern durch sein persönliches Beispiel überzeugen. Damit hat er gewaltig viel bewegt, er hat auf wirklich bewundernswerte Weise das Bild einer anderen und viel besseren Kirche sichtbar gemacht.
Es könnte sein, dass er damit nicht den durchschlagenden Erfolg schafft. Aber es ist sein historisches Verdienst, auf großartige Weise eine Alternative sichtbar gemacht zu haben; das wird ihm niemand nehmen können. Doch es ist so wie immer: Er hat mit seinem Tun eine neue Kirchenkrise herbeigeführt, gewollt oder eher ungewollt. Das bedeutet aber auch Hoffnung. Es ist das Wesen jeder Krise, dass sie entweder zum Unheil oder zur Heilung führt. Hoffen wir, dass das Zweitgenannte eintritt. Vieles spricht dafür, dass die Zeit reif geworden ist.