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Der Materialismus als Experimentierfeld Gottes#


Von

Ferdinand Steiner

Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 308/2019


Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, dann Licht und Finsternis, Himmel, Sonne, Mond und Sterne, Pflanzen und Bäume, Fische und Vögel sowie Landtiere und zuletzt schuf er auch den Menschen. Und Gott sah, dass es gut war. Gut war es wohl, wenn es auch nicht ganz so war, wie es uns das Alte Testament in seiner blumigen Sprache erzählt. Die Forschung hat uns längst gezeigt, wie dieser Prozess ablief und dass er sehr viel länger benötigte, als die Menschen vor 3000 Jahren in ihrer Naivität ahnten. Die Forschung zeigt uns aber auch, wie ungeahnt verflochten die gesamte Ökologie funktioniert und welche Folgen es hat, wenn der Mensch in das System eingreift. Also kann man durchaus sagen: Und Gott sah, dass es gut war! Damals!

Am liebsten hätte er wohl gesehen, dass alle seine Geschöpfe sich in Liebe einander zuneigten. Und meinte damit nicht nur die Turteltauben mit ihrer sprichwörtlichen Sanftmut, sondern auch die raufenden Kater und die kampflustigen Steinböcke. Ohne es zu wissen, leisten sogar die Hechte eine Liebestat für den Menschen, indem sie die Fettleibigkeit der Karpfen verhindern.

Doch viel näher an der Liebe, oder zumindest an jenem Teil der Liebe, den man Sexualität nennt, stehen die röhrenden und kämpfenden Hirsche mit der göttlichen Absicht, nur die besten Gene in die nächste Generation weiterzureichen. Kampf und Krieg haben also auf der Schöpfungsebene die Funktion der Ernährung durch die Jagd wie auch die des evolutionären Fortschritts der gesamten Schöpfung. Ganz eindeutig bedeutet Liebe also nicht nur das konzentrische Wabern in den Augen des Verliebten, sondern auch die Förderung seiner Fitness durch eine konzentrierte Tracht Prügel. Dieses Programm funktionierte so über Millionen Jahre. Auch für den Menschen, solange er Jäger und Sammler war.

Jetzt weiß man natürlich nicht so genau, was diese ausgeklügelte Balance der Ökologie entgleisen ließ. Wie wir überhaupt ausschließlich auf Spekulationen angewiesen sind, wenn wir das Wesen und die Absichten Gottes zu ergründen versuchen. Man weiß nur, wie es zugegangen ist. Vielleicht war er so verliebt in sein schönstes Geschöpf, den Menschen, dass er ihm unsinnigerweise sein Leben einseitig verbessern wollte, oder es gab womöglich einen Fehler in der himmlischen EDV-Anlage, der dem allmächtigen und allwissenden Vater entgangen war. Jedenfalls geriet beim Menschen das Eingebundensein in die Ökologie und die wechselseitige Zuneigung unversehens in eine heftige Schieflage. Das Goldene Zeitalter ging zu Ende und die Evolution der Menschen nahm ein Tempo auf, das Gott selber sich nicht träumen hätte lassen. Und noch viel weniger, wie schnell er selbst vom Schöpfer zum Weltenrichter mutieren sollte, wenn es nach dem Willen seiner liebsten Geschöpfe ging.

Durch die neolithische Revolution wurde Gottes Plan zunichte, dass sich alle seine Geschöpfe untereinander respektvoll liebhaben sollten wie auf der Arche Noah. Kaum hatte der biblisch erste Bauer seinen Vieh treibenden Bruder Abel erschlagen, geriet Gott in die missliche Lage, über Kain, den Mörder, zu richten und man merkt seine göttliche Verlegenheit, indem er ihm zum Schluss dann doch das Land gibt. Eine arge Zwickmühle für den Schöpfer aller Dinge, hatte sich doch Kain längst des Landes bemächtigt und es auch mannhaft verteidigt gegen Nomaden und Viehtreiber.

Doch das war nicht das einzige Problem, mit dem sich der Allmächtige ab jetzt herumzuschlagen hatte. Es war noch relativ leicht damit umzugehen, dass sich seine Lieblingsgeschöpfe gegenseitig auf den Feldern beklauten und die jeweils Betrogenen dann laut nach Gerechtigkeit schrien, wenn sie den Neid in sich spürten. Es wurde schon schwieriger, als sie gar noch anfingen, die Felder einzuzäunen und zu sagen: „Das ist meins!“ Er sah sich verblüfft damit konfrontiert, dass seine Leute von Eigentum redeten, einem Begriff, den es in der ganzen Schöpfungsgeschichte noch nicht gegeben hatte. Hatte er das Land vom Wasser getrennt, nur damit ein paar Spitzbuben sich dieses Landes bemächtigen und es ihr eigenen nennen konnten? Er beauftragte seine Schamanen, sich um diese unseligen Streitigkeiten zu kümmern, was diese auch gerne taten. Allerdings waren da bald auch einige dabei, die ihre wachsende Macht nicht nur im Sinne des Schöpfers benutzten und sich zu Königen aufschwangen.

Die größten Kalamitäten aber bescherten Gott die ersten Bauernsöhne. Bauernsöhne sind eine eigene Art Mensch, das weiß man auch heute noch. Sie rücken den Vater in Gottes Nähe, wenn sie verlangen, dass er ihnen sein Feld zusichern solle für jenen Tag, an dem er stirbt. Nun gibt es bekanntlich gut geratene Söhne und solche, die weniger gut geraten sind. Das wäre dann ja einfach! Aber da gibt es dann noch die anderen Söhne, die so gar nicht nach dem Vater geraten sind, die womöglich sogar die Physiognomie des Nachbarvaters erkennen lassen. Der Vater, diesmal der oberste, hatte nicht geahnt, was er da mit ein paar Handvoll Urweizen an Problemen in seine heile Welt gestreut hatte.

Wer die Mutter eines Sohnes war, wird wohl kaum ein Streitthema sein können. Aber wem sie diesen Sohn verdankte, schon weit eher. Ein paar ernste Worte mag der Vater ins Gesicht seiner Frau geschrieben haben mit der Aufforderung, dass nur er in Zukunft das Recht habe, sein Feld zu besamen. Damit begann eine Entwicklung, die Gott mit Erschütterung zurückdenken ließ an die Zeit, als er noch hoffte, alle seine Geschöpfe könnten einander in Liebe zugeneigt sein. Der Vater begann die untreue Mutter zu verachten und die Mutter begann ihn dafür zu hassen. Liebe machten sie nur noch, damit ihre Söhne die Anwartschaft auf das Feld des Vaters erwarben. Die eheliche Pflicht war geboren, Erotik und sexuelle Lust unter Paaren, ja Lebenslust überhaupt schwanden. Mit der Abwertung der weiblichen Sexualität war die Beziehung auf Augenhöhe zwischen den Geschlechtern zerstört. Maximale Frustration drängt nach außen, das war schon immer so! Es gab erste Nähnadeln, und die Frauen begannen zu sticheln. Die Männer, wie immer ein klein bisschen weniger differenziert, griffen zum Dreschflegel. Üble Laune war zu allen Zeiten ansteckend und war einer im Dorf grantig, dann hatten bald auch alle übrigen etwas davon. Der Neid auf den Bauern mit dem größeren Feld und auf den mit der schöneren Frau wurden zu einem undurchsichtigen Konglomerat von Aggressionen, gewürzt mit der Wut über frühere Erfahrungen mit den allseits bösen Nachbarn. Der Krieg wurde zum Teil der menschlichen Gesellschaft, die Priester und Priesterinnen aber dienten ihrem jeweiligen Gott durch das neu erfundene Institut der Keuschheit. Ob sie es tatsächlich taten, wusste man damals so wenig wie heute. Weiß Gott, was Keuschheit oder Sexualität mit Religion zu tun haben mögen!

Innerhalb von etwa 10.000 Jahren verkam die Idee Gottes von einer Schöpfung der Liebe zu einem Planeten, der von Eifersucht, Hass und allen anderen üblen Gefühlen aufgebläht war und wo sich seine Lieblingskinder gegenseitig die Hölle auf Erden bereiteten. Sein erster Plan war gründlich in die Hosen gegangen. Vielleicht dachte er da zum ersten Mal, dass man ja auch fluchen hätte können. Doch dann schickte Gott voller Zuversicht seinen Sohn mit der Frohen Botschaft der Liebe zu den Menschen.

Der Mann, der sich Menschensohn nannte, hatte nicht nur außergewöhnliche Intelligenz, sondern auch ein hohes Charisma, seine Lehre herüber zu bringen. Wenn man dem Turiner Leichentuch glauben darf, war er überdurchschnittlich groß und sicher war er auch ein gutaussehender Mann, sonst hätte ihn ja keiner angeschaut, geschweige ihm zugehört. Auch wenn er die alten Bücher kannte und aus ihnen zitierte, war seine Botschaft einfach: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“

Wenn er von Liebe sprach, dann spürten die Menschen ganz tief in sich die alte Sehnsucht nach Frieden und Akzeptanz, nach dem Funken der Einheit mit dem Universum, der wohl im tiefen Unbewussten an die Zeit vor der jungsteinzeitlichen Revolution erinnerte. Als hätte er gewusst, was sich in den letzten 10.000 Jahren auf dem Planeten abgespielt hat, erzählte er ihnen ihre eigene Geschichte.

Wie sie vom Vater die Auszahlung ihres Erbes verlangten und dann in die Fremde zogen, bis sie ihre Vermögen in Saus und Braus vertan hatten und als elende Schweinehirten endeten. Wie es sie reute und sie beschlossen, zum Vater heimzukehren und um Vergebung zu bitten. Jesus krönt die Parabel mit der bedingungslosen Liebe des Vaters, der weder Schimpf noch Zurechtweisung kennt, noch Vorhaltungen, sondern der ein Kalb schlachten lässt, um ein Fest zu feiern aus Freude über den wiedergefundenen Sohn. Das ist die universale, die bedingungslose Liebe! Jeder moderne Guru oder Mentaltrainer würde hier enden und den Zuhörer dieser bedingungslosen Liebe Gottes und dem Genuss seiner Ego-Gefühle überlassen. Doch Jesus ist kein Idiot! Er vollendet die Geschichte mit dem Eintreffen des erstgeborenen Sohnes, der die ganzen Jahre immer willig gearbeitet und dem Vater treu gedient hat. Für ihn habe es nie ein Fest und kein geschlachtetes Kalb gegeben, bemerkt er mürrisch und sieht nicht, dass er selbst mit seinem Neid der Auslöser seines Unglücks ist. Jesus warnt uns vor unseren eigenen negativen Gefühlen und führt uns vor Augen, dass das unser sogenannter Normalfall ist seit wohl mehr als 10.000 Jahren, dass wir damit selbst unsere eigenen Opfer sind. Erst mit dieser Warnung ist die Geschichte vom verlorenen Sohn komplett!

In vielen anderen Gleichnissen zeigte Jesus den gläubigen Juden und später auch Nichtjuden, dass den Fehler meist nicht die anderen machen, sondern sie selber. Der Prediger vom Genezareth war der erste Psychotherapeut der Weltgeschichte: „Das Himmelreich ist inwendig in euch!“ Leute, die sich an ihr Unglück gewöhnt haben, lassen sich aber ungern eines Besseren belehren, im Gegenteil: sie verfolgen den, der Besseres lehrt. Kein Wunder, dass sich eine große Zahl von Menschen, insbesondere von jenen, die seit jeher an den Schalthebeln der Macht saßen, von Jesus bedroht fühlten. Da kommt doch glatt ein hergelaufener Wanderprediger, verstaubt und wahrscheinlich verwanzt, und sagte ihnen, was sie alles falsch machen. Da könnte ja jeder kommen!

Durch eine ausgezeichnete Regie starb dieser Sohn Gottes am Kreuz und seine Botschaft verbreitete sich in Windeseile über die damalige Welt. Sie versprach Patriziern und Sklaven gleichermaßen einen Platz am Tisch des Herrn. Nach etwa 300 Jahren verlor das Christentum aber an Schwung und ein gerissener Politiker besiegelte sein Ende, indem er es zur einzigen Religion erklärte und sogar sein Glaubensbekenntnis diktierte, ohne selber dieser Religion überhaupt anzugehören. Wäre Jesus aber nicht am Kreuz gestorben, wüssten wir heute selbst bei Hilfe durch Kaiser Konstantin mit aller Wahrscheinlichkeit nichts von ihm!

Von da an verband sich die Lehre Jesu mit der Macht des Staates und trieb ungeahnte Blüten, weil die Repräsentanten der jungen Kirche der Macht und der Politik nicht widerstehen hatten können. Das alte Spiel wiederholte sich. Weil die Epigonen des Nazareners sich nur noch auf die wörtlichen Wiederholungen der Lehre des Meisters konzentrierten, machten sie auf diese Weise das Werk des Meisters zuschanden. Die äußere Form erhielt sich, der Inhalt ging unter. Die äußere Form, das waren die Gottesdienstrituale, wurde weiter geführt, von den Inhalten, nämlich von der Lehre des Nazareners blieb nichts übrig, als gedankenlos nachgeplapperte Formeln. Anstatt den Neid und die Eifersucht und den ganzen Katalog negativer Gefühle in sich wahrzunehmen und loszulassen, verlegte man sich auf die Beobachtung all jener Schurken, die genau das Gleiche taten, um sie schließlich aufzudecken und ans Kreuz der öffentlichen Schande zu nageln. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun!“ Das ausgehöhlte Christentum bestand schließlich - und besteht auch heute noch - in dauernd repetierten Floskeln vom Dienst an Gott, der noch immer das Gesicht eines alten, machtgierigen Orientalen wie Herodes hat, vor dem man sich demütig in den Staub zu werfen hatte. Proskynesis nannten das die alten Griechen: Sich zum Hund machen!

Die Formeln, die dafür heute noch verwendet werden, sind der Anbetung eines unberechenbaren Despoten würdig, für einen normalen Menschen aber schon nicht mehr erträglich. Stellen Sie sich nur vor, Sie säßen auf ihrem Thron und rundum rufen Ihnen die Cherubim und Seraphim immer und ohne Ruh, heilig, heilig, heilig zu! Das ist keine Lobpreisung, das ist Mobbing! Die alten Römer nannten so etwas ein Katzengeschrei. Nach längstens einer Viertelstunde hat Gottvater einen Nervenzusammenbruch, der sich gewaschen hat!

Um diesen Frust loszuwerden und die prinzipiell richtige Lehre von der Liebe wiederzubeleben und zu stärken, schickte Gott einen Konkurrenten auf den Markt der Religionen, der seine Botschaft mit Feuer und Schwert verbreiten sollte. Zugegeben, die Unterschiede waren nicht so groß im Inhaltlichen. Über Worte aber ließ sich wieder trefflich streiten, weil einer dem anderen sein Feld nicht gönnen wollte wie weiland in Mesopotamien.

Der Schuss ging folglich nach hinten los, denn die beiden Gegner verbissen sich ineinander, ohne ihre Werthaltungen einer grundsätzlichen Überarbeitung zu unterziehen. Beiden meißelten ihre Wahrheiten (die in Wahrheit nur aus Worten bestanden) in Stein und ließen sich von ihren einmal gefassten Meinungen nicht abbringen. Wie man sein Feld zu pflügen hat, weiß keiner besser als der, der es tut! Die anderen machen es sowieso schlechter! (Würde es jeder so machen, wie er es selber macht, ohne sich um den anderen zu kümmern, wären wir schon wieder ganz nahe am Paradies.) Anstatt dessen halten sich Christentum und Islam seit über 1000 Jahren gegenseitig vor, was einer dem anderen angetan hat. In Wahrheit aber hocken sie nur auf ihren alten Lehrsätzen aus der Antike und jeder ist überzeugt, dass er rechter hat als der andere, dass sein Gott der wahrere ist. Der wahre Pfad unseres Planeten ist wohl der Egotrip!

In seiner Verzweiflung kam Gott nun auf die Idee, die Religion der Liebe einer inneren Spaltung zuzuführen – und das gleich zweimal. Vielleicht hoffte er damit, etwas mehr Bewusstheit in die Hirne seiner liebsten Geschöpfe zu pumpen. Doch eigentlich hätte er es schon wissen müssen: das Ergebnis war dasselbe wie mit dem äußeren Feind Islam. Anstatt innezuhalten, nachzudenken und sich des guten alten Sokrates bewusst zu werden, der sich immerhin bewusst war, dass er nichts wusste, hieben sie sich in altgewohnter Tradition gegenseitig auf die Köpfe. Das konnte eigentlich nur heißen, dass er die Intelligenz seiner Lieblingsgeschöpfe doch überschätzt hatte. Irgendetwas musste da jedenfalls gründlich danebengegangen sein und jetzt war nicht mehr alles gut! Es konnte gar nicht mehr gut sein, wenn ausgerechnet die Krone der Schöpfung den selbsterfundenen Unsinn zum heiligen Prinzip erklärt.

Er ging in sich und suchte nach einem brauchbaren Ausweg für Leute mit weniger anspruchsvollem Denkvermögen. Es musste etwas sein, das kurzfristig ebenso befriedigend wäre wie Verliebtsein oder ein Glas Schnaps, langfristig jedoch müsste es einen gewaltigen Kater nach sich ziehen, damit die Menschen anfingen nachzudenken. Da der liebe Gott schließlich nicht blöd war, erkannte er sofort die Schwachstelle seiner Menschenkinder. Es war die niedrige Schwingung der Materie, der sie so zugetan waren. Wenn sie auch noch schön glänzte, konnte man sich die Leute bequem kaufen und ihnen klarmachen, dass nur der von Gott geliebt wurde, der auch über das nötige Kleingeld verfügte. So erwuchs kerzengerade aus der letzten Reformation der Kirche die neue Religion des Kapitalismus, von dem kaum ein Mensch ahnt, dass sein Großvater Jean Calvin hieß.

Die niedrige Schwingung der Materie war jedoch auch sonst den Menschen vertraut, denn ihr begegnete man täglich. Ganz anders als diesem Geistwesen im Himmel, diesem Gott, den es geben mochte oder auch nicht. Den Tisch konnte man anfassen, in den Apfel hinein beißen. Man konnte ihm aber auch zuschauen, wie er vom Baum fiel, und daraus ein physikalisches Grundgesetz ableiten. Die Materie konnte man im Weltall beobachten und man konnte sie genauso in ihre kleinsten Teilchen zerbröseln. Und das alles mit fest verschlossenen Ohren und Äuglein, damit nur ja keiner auf die Idee käme zu fragen: Ja woher kommt sie denn, die Materie? Die Materie und die Evolution der belebten Natur wurden zur neuen Religion der Menschenkinder, der sie nun mit aller Begeisterung anhingen. Vor allem aber waren sie von ihren eigenen Fähigkeiten begeistert. Beobachtung, Denken, Logik und Technik veränderten die Gestalt des Planeten innerhalb weniger Jahrhunderte so nachhaltig, dass ein steinzeitlicher Jäger und Sammler sie nicht wieder erkennen würde. Wer sich der neuen Religion nicht anschließen wollte, keine neuen Wissenschaften entwickeln und daher weiter Hunger leiden wollte, wie es in abgelegenen Teilen des Planeten vereinzelt noch vorkam, der war selber schuld. Gott zeigte es ihm und ließ ihn arm bleiben. Selbstverständlich war es nur gerecht, wenn die, die sich der neuen Zeit nicht anpassten, Hunger leiden mussten. Das war das Ausleseprinzip der Evolution, die alles gnadenlos ausfilterte, was den geänderten Standards nicht entsprach. Und natürlich hat Jean Calvin schon vor 500 Jahren gepredigt, dass der Herr es seinen Erwählten schon zu Lebzeiten durch Reichtum zeigt und im Übrigen sei alles in der Weisheit Gottes vorherbestimmt. Mitgefühl mit den Nichterwählten ist nicht nur sinnlos, er ist ein Verstoß gegen den göttlichen Willen! Das ist der Religion gewordene Egoismus, der sich aus den USA kommend über Europa verbreitete und hierzulande nun den herkömmlichen Religionen ein stilles und sanftes Ende bereitet.

Selbst den Nichterwählten schickt der gütige Gott im Kapitalismus materielles Wohlleben in einem bescheidenen Maß, damit es nicht weiter auffällt, dass die Erwählten weit mehr vom Ertrag der Wirtschaft abbekommen. Auch früher gab es gegen solche Ungerechtigkeiten schon kleinere Revolten, sie waren aber lokal begrenzt und wurde meist rasch niedergeschlagen. Heute gibt es die lokale Begrenzung nicht mehr, denn heute gibt es das Wehwehweh [www]und jeder kleine Ärger kann in kürzester Zeit einen Shitstorm erzeugen. Dieser weltweite Gerechtigkeitswahn – und sei er hundertmal aus Neid geboren – hilft er uns das mühsame Treppchen einfühlsamer Liebe leichter zu erklimmen? Das wissen wir nicht, denn dieses Experiment Gottes ist noch nicht ganz abgeschlossen und wird wohl auch noch ein bisschen andauern. Eine neue Chance ist esimmerhin!

Dr. Ferdinand Steiner, ehem. Medizinproduktberater und Leiter des Instituts für energetische Raumklimaforschung in Graz, ist heute nach eigenen Angaben Pensionist