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Notre-Dame de Paris#

Die Haare sind weg, aber sie steht stärker und stolzer als je#

Was kann uns die Brandkatastrophe von Paris in der derzeitigen Krise Europas und der herrschenden Orientierungs- und Ratlosigkeit sagen?#


Von

Willibert Kurth

Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 296/2019


Der Schock saß tief, als wir die schlimmen Bilder sahen an jenem Montagabend vom brennenden Dach der Notre-Dame de Paris. Dieser großartigen Kathedrale, die für Frankreich und Europa eine so besondere Bedeutung hat. Es wurde schnell klar, dass die Bedeutung der Notre-Dame weit über ihren Stellenwert als Gotteshaus hinausreicht und ihre Ausnahmestellung, die sie für Christen einnimmt. Wenngleich klar ist, dass der Brand einer Kirche gläubige Christen ganz besonders schockiert. Es war für uns alle ein Stich mitten ins Herz.

Notre-Dame verkörpert diese übergeordnete Bedeutung, weil sie gerade auch für das steht, was Frankreich und Europa in ihrer Geschichte und heute substantiell auszeichnet; und womit wir auch die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung meistern können und die besten Voraussetzungen haben, in schwierigen, unsicheren und unübersichtlichen Zeiten die Zukunft gut zu gestalten:

  • Werte der Humanität,
  • die Hoffnung und den Mut, Neues, Großartiges, ja Unmögliches zu wagen und zu erreichen, und
  • dies auf der Grundlage von solidem Können und modernsten Erkenntnissen entschlossen umzusetzen
  • zum Wohle aller.

Mit diesen Werten, mit diesem Mut, mit diesen Fähigkeiten sind die Menschen von Paris und Frankreich damals am Beginn der Gotik in eine neue Zeit aufgebrochen, haben das Tor aufgestoßen in ein neues Zeitalter der großen europäischen Kultur, Baukunst und Wissenschaft. Sie haben so den Weg für die Kultur und den Fortschritt der Neuzeit bereitet, der die Grundlage auch unserer Zeit ist. So steht Notre-Dame als ein leuchtendes und herausragendes Symbol für all das: die Werte Europas, den Fortschritt und Erfolg der kulturellen, gesellschaftlichen, ökonomischen und wissenschaftlichen Entwicklung bis heute; was sich in ganz Europa fortgepflanzt hat, so wie die Gotik sich von der Ile de France über die Picardie und Frankreich ausgebreitet hat über ganz Europa.

Denken wir an den Kölner Dom oder die riesige gotische Chorhalle, die man als Glashaus von Aachen über den Goldschrein Karls des Großen gebaut hat, an das postantike, mystische Oktogon nach dem Vorbild der Notre-Dame und der Sainte-Chapelle gleich in der Nähe. Die Gotik, die sich als prägender Baustil des Hochmittelalters ausgebreitet hat von Bourges bis Burgos, vom Veitsdom in Prag bis Siena, von der Backsteingotik Nord- und Osteuropas bis hin zur Neogotik selbst in der Neuen Welt an der 5th Avenue. Eine Hochblüte erlebte die Gotik auf der britischen Insel, die von Westminster über Canterbury bis Salisbury zahlreiche große Baudenkmäler der Gotik aufweist und dort so manche besondere Ausprägung erhielt; wie könnte es anders sein in England...

Die Gotik beweist ganz klar: Auch Großbritannien zählt, von Geschichte und Werten her, zum europäischen Kulturerbe. Daran mahnt uns die brennende Notre Dame heute wie es die im Weltkrieg zerstörte Kathedrale von Coventry tat und tut. Damals haben die Menschen die notwendigen Folgerungen aus dieser unvergleichlich viel größeren Katastrophe des Weltkrieges gezogen. Und nicht zuletzt französische Staatsmänner und -frauen wie Robert Schuman, Charles de Gaulle, Francois Mitterrand, Valery Giscard d´Estaing und Simone Veil haben wesentlich zum Bau der Europäischen Union und zum gemeinsamen Haus Europa beigetragen, das ein Garant für Frieden und Freiheit und Wohlergehen für alle seine BürgerInnen ist und die besten Voraussetzung dafür schafft.

Welche Folgerungen nehmen wir aus der Katastrophe heute mit, die glücklicherweise viel glimpflicher ausgegangen ist? Vor allem sind keine Menschen zu Schaden gekommen, weshalb ein Vergleich mit anderen Katastrophen nur unter Vorbehalt gilt.

Es ist kein Zufall, dass der Beginn der Gotik, der vor allem durch den Baubeginn der beiden konkurrierenden frühgotischen Kathedralen von St. Denis im Pariser Umland und in der Hauptstadt selbst um die Mitte des 12. Jahrhunderts gekennzeichnet ist, zusammenfällt mit den Anfängen und der Gründung der ersten Hochschulen in Paris und letztlich der Gründung der weltberühmten und Maßstäbe setzenden Sorbonne um 1200. An ihr studierten und lehrten europäische Geistesgrößen wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Meister Eckhart, um nur einige herausragende Persönlichkeiten des 13. Jahrhunderts zu nennen. Verbunden mit der Solidität und Kompetenz der bewährten Werte und Fähigkeiten, schufen diese neuen Erkenntnisse der Wissenschaften die Voraussetzungen, gemeinsam, mutig und entschlossen in die Zukunft zu gehen und diese erfolgreich zu gestalten.

Diese Werte, Tugenden und Erkenntnisse ermutigten die Menschen im Hochmittelalter, Neues zu wagen, sogar solches, was alle für bislang völlig unmöglich hielten:

  • Wände verschwinden zu lassen und durch lichte und bunte Fenster zu ersetzen,
  • Räume in eine Höhe streben zu lassen, die in ihrer Ähnlichkeit zum Turmbau von Babel geradezu als gotteslästerlich gelten mussten,
  • das Vordringen in Dimensionen, die für die Menschen damals alles Vorstellbare überstiegen.

Allein die Kirchenschiffe überragten die Häuser der Stadt um ein Vielfaches, um wieviel mehr die Türme, die in grandiose Höhen ragten. Hier wurde gewagt, was als völlig unmöglich galt. Hier haben Menschen bewiesen, dass das Zusammenwirken vieler Menschen mit den verschiedensten Fähigkeiten und ihren kreativen Ideen solche Leistungen möglich machen kann. Hier in Frankreich wurde ein Quantensprung in der Geschichte der Menschheit realisiert, vergleichbar mit der Erfindung der Schrift, der Dampfmaschine, der Impfmedizin, der Raumfahrt oder der EDV. Wie erfolgreich dies bei dem grandiosen Bauwerk der Notre-Dame de Paris gelungen ist, hat die Geschichte eindrucksvoll bewiesen. Sie hat Kriege und Revolutionen überstanden. Doch noch nie wurde die Kathedrale so unmittelbar und so schwer heimgesucht wie jetzt: Der gesamte historische Dachstuhl brannte binnen Kürze ab und stürzte ein. Wer je einen solchen historischen Dachstuhl von innen gesehen hat, weiß, wie sich hier tonnenschwere Balkenkonstruktionen in Etagen auftürmen. Es ist kaum vorstellbar, welche Lasten mit einem Mal beim Zusammenbruch des brennenden Daches auf das über 850 Jahre alte hochgotische Gewölbe mit seinen Kreuzrippen niederprasselten. Und bis auf jene Stelle, wo der aufragende Dachreiter in der Vierung durchbrach, hat das gotische Kreuzrippengewölbe im ganzen Kirchenschiff und Chorraum standgehalten. Das ist mindestens so unglaublich wie der Wagemut der Erbauer, so Unvorstellbares von Licht, Glas und Höhe vor über 900 Jahren zu beginnen: Das gotische Gewölbe hat diesen brennenden Massen, diesem lodernden Inferno aus Riesenlasten und Gluthitze standgehalten! Und so die Gesamtzerstörung verhindert, mindestens aber die kostbaren Fenster, Rosetten und die bedeutende Orgel gerettet sowie die Westfassade samt Türmen und großem, erst 2013 deutlich vergrößerten Geläut.

Das stellt den Baumeistern und Handwerkern des 12. und 13. Jahrhunderts nach mehr als 850 Jahren nochmals einen Qualitäts- und Gütebeweis aus, wie er größer nicht sein könnte. Hier und heute ist nach fast tausend Jahren die Größe und Genialität der mittelalterlichen Baumeister und ihrer Handwerker auf eindrucksvolle Weise bestätigt worden. Die grandiose Leistung, das geniale Bauwerk der Notre-Dame de Paris, steht nach wie vor – wie so viele ihrer Geschwister und Kinder in ganz Europa – und erstrahlt, selbst und gerade nach dieser Brandkatastrophe, stärker und heller als je. Zwar sind die Haare ab, aber das Bauwerk, die Persönlichkeit steht vor uns und der Welt stärker, standhafter und stolzer als je. Notre-Dame ist schwer verwundet worden, aber sie hat standgehalten.

Die Substanz, die Mauern und Türme hielten stand; und sie streben wie ein unverbrüchliches Monument der Zuversicht und des Mutes gen Himmel. Die Türme der Notre Dame rufen uns zu: Uns wird auch in Zukunft nichts kleinkriegen, wenn wir nur auf jene Tugenden und Werte vertrauen, die dieses großartige Bauwerk ermöglicht haben. Und sie fragen uns: Wie steht es um den Mut, die Werte, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten heute?

Vom Brand in der Notre Dame und mehr noch davon, dass die Alte Dame demselben stark, stolz und siegreich standgehalten hat, wird nach dem Schock vor allem ein heilsamer und ermutigender Impuls ausgehen, eine Welle der Zuversicht, die uns Kraft und Ideen geben wird, aus unserer Kleingläubigkeit, Verzagtheit, Eigenbrötlerei und Schlechtrederei herauszukommen und aufzubrechen zu neuen, hoffnungsvollen Ufern. Nicht der eingestürzte kleine Dachreiter ist das Symbol der Stunde, sondern die stolzen und starken Türme. Sie können und werden uns Orientierung geben wie auch die vielen bedeutenden Monumente unserer europäischen Kulturgeschichte, die letztlich seit dem Hochmittelalter mehr oder minder Töchter und Söhne der Notre- Dame und des Aufbruchs der Gotik sind, was sich dann in Renaissance und Neuzeit fortsetzte und weiterentwickelte.

Von daher kann man den Platz vor der Notre Dame nicht lediglich als den Nullpunkt Frankreichs ansehen, sondern in gewissem Sinne auch als den Nullpunkt Europas, von dem ausgehend, von der Sorbonne und dem umtriebigen Leben der Seine-Metropole, Europa als Ganzes wichtigste Impulse und Leitideen erhalten hat, auf die auch unser modernes Europa sich beziehen kann und sollte. Um sich dessen wieder mehr bewusst zu werden und zu vergewissern, ist daher die Beschäftigung mit Kultur in Schule, Erziehung und ganz generell so wichtig! Sie ist nicht lediglich ein nettes Beiwerk für Höhere Töchter. Und daher muss der Kultur und ihrer Förderung im öffentlichen Bewusstsein der Rang zukommen, der deren zentraler Bedeutung für eine Gesellschaft entspricht. Kultur ist kein nettes Beiwerk, sondern essentiell für jeden und erst recht die Gesellschaft.

Ich bin sicher, dass Notre-Dame de Paris ein Fanal des Aufbruchs für Frankreich und Europa sein kann und wird. Wie Marianne einst die Fahne der Revolution siegreich über Frankreich und Europa in den Himmel streckte, so ragen nun die unüberwindlichen Türme der Notre-Dame in den europäischen Himmel und verkünden: Die Alte Welt ist nicht im Niedergang oder gar schon tot; die Alte Welt, Europa, lebt und steht fest, fest gegründet auf den Werten ihrer Kultur und mutig und engagiert in den Entwicklungen und Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. Der alte Glanz ist ab in Europa, so wie die Haare der Grande Dame dahin sind. Aber so wie die Alte Dame standgehalten hat, wie die Twin Towers von Notre-Dame in alter, erhabener Grandezza standgehalten haben und selbst, ja gerade im Schutt des Brandherdes strahlen, so kann auch Europa den Stürmen der Zeit standhalten und wird hoffentlich auferstehen und strahlen, heller und schöner als je zuvor. Dies ist die Botschaft, dies ist das Signal der Grande Dame de Paris, die so zur Notre-Dame eines erneuerten Frankreichs und zur Notre-Dame eines wiedergeborenen Europas werden kann. Die überwältigende europa-, ja weltweite Solidarität gibt Hoffnung auf einen solchen gesellschaftlichen Ruck.

Manchmal braucht es eine Katastrophe, um sich der Bedeutung und der Werte erst so richtig bewusst zu werden, die für unser Leben und unsere Gesellschaft wichtig sind. So ein einschneidendes Ereignis ist die Katastrophe der Notre-Dame. Wir sind sehr erleichtert, dass aufgrund der Meisterschaft der gotischen Baumeister und aufgrund des großartigen Handelns aller Rettungskräfte am 15. April 2019 Schlimmeres verhindert wurde und das Bauwerk in seiner Substanz diese Katastrophe erstaunlich gut überstanden hat. Unser Dank gilt besonders jenen, die die Menschen besonnen und sofort aus der Kirche evakuiert haben, so dass es keine Opfer gab, und den Feuerwehrleuten und Rettungskräften, die das Unmögliche möglich gemacht haben durch eine hervorragende Teamleistung unter Einsatz des eigenen Lebens. Nach alledem wird Notre-Dame de Paris nun den Parisern, den Franzosen und allen Europäern noch enger ans Herz wachsen. Und so hoffentlich auch all das, was dieser besondere Bau so wesentlich verkörpert an Werten und Haltungen.

Ich bin sicher, aus der Asche von Paris und mehr noch aus dem Standhalten des hochgotischen Gebäudes und seiner strahlenden Westfassade mit der Königsgalerie und den wundervollen Portalen mit all dem unvergleichlichen Figurenschmuck und seinen hoch in den Himmel aufragenden Türmen werden Frankreich und Europa neu erstehen und zuversichtlicher in die Zukunft gehen. Zum Wohle Frankreichs und eines geeinten Europas!

Willibert Kurth ist Unternehmensberater und Sprecher des Lainzer Kreises an der Kardinal König Akademie, Wien-Lainz