Der Riss in der Kirche und seine Gründe Teil I#
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 322/2020
Von
Heribert Franz Köck
Die zum 25. Jänner und 1. Februars 2020 in zwei Teilen (Nr. 320 und 321) versandten >Gedanken zu Glaube und Zeit<, in denen Wolfgang Oberndorfer die Frage „Quo vadis, Ecclesia mea?“ gestellt hat, haben mich erneut dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie es sein kann, dass die Kirche heute praktisch in zwei Teile zerfallen ist, die in zentralen Punkten nicht mehr übereinstimmen. Dabei sind die Traditionalisten (von mir wegen der Ablehnung der vom Zweiten Vatikanum eingeleiteten Reformen scherzhaft auch „Altgläubige“ genannt)[1] hauptsächlich an der Römischen Kurie konzentriert. Progressisten (von mir wegen der Annahme der vom Zweiten Vatikanum eingeleiteten Reformen scherzhaft auch „Neugläubige“ genannt)[2] sind an der Römischen Kurie nur sehr vereinzelt zu finden, aber in den modernen Industriestaaten stärker repräsentiert, und zwar nicht nur unter den Theologen der verschiedenen Fachbereiche, sondern auch im Seelsorgeklerus und unter den Laien. Sie dringen auch allmählich in die Hierarchie ein (weil auch schon Bischöfe trotz aller „gebotenen Vorsicht“ die eine oder andere grundlegende Reform einfordern). Sie haben Anhänger unter Klerus und Laien in der ganzen Welt, werden aber dafür von ihren traditionalistischen Amtsbrüdern – oft auch mit bis nach Rom gesponnenen Intrigen – angefeindet.
Als typisches Beispiel für diesen Riss in der Kirche kann das vor Beginn der nun auch schon ein paar Jahre zurückliegenden Bischofssynode mit dem Thema „Familie“ von Robert Dodaro OSA herausgegebene Buch „In der Wahrheit Christi bleiben“ dienen. Mit diesem vermeinten traditionalistische Kardinäle gegen jede Lockerung der kirchlichen Praxis betreffend die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur „Kommunion“ eine unübersteigbare Mauer auf der Grundlage des Jesus-Wortes „Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen“ (Mt 19, 6) aufrichten zu können. Das ist ihnen zwar nicht gelungen, aber sie verunsicherten doch viele Amtskollegen derart, dass die Synode es dem Papst überließ, das Fazit im Abschlussbericht von 2015 zu ziehen. Und als dann Franziskus im nachsynodalen Schreiben Amoris laetitia im März 2016 einen Türspalt für mehr Barmherzigkeit in der Seelsorge aufmachte, veröffentlichten wiederum einige traditionalistische Kardinäle im Oktober desselben Jahres einen Brief an den Papst. In diesem baten sie ihn zwar direkt nur darum, gewisse „Zweifel“ über seine diesbezüglichen Aussagen auszuräumen, unterstellten ihm aber damit indirekt ein Abweichen von der Lehre der Kirche.
Dieser Riss in der Kirche muss seinen Grund haben, für den ich mit diesem Beitrag eine Erklärung suchen möchte. Vorweg eine Klärung des Begriffs „Lehre der Kirche“, weil dieser auch im Nachstehenden öfter vorkommt, von der Kirche aber meist sehr undifferenziert verwendet wird. Auch wenn die Kirche für sich beansprucht, in Glaubensfragen „unfehlbar“ lehren zu können, so kann sich diese „Unfehlbarkeit“ doch nur auf den „Glaubensschatz“ erstrecken, den uns Jesus hinterlassen hat. Da dieser Glaubensschatz aber nicht systematisch ausgestaltet vorliegt, sind die Versuche des kirchlichen Lehramts nicht legitim, diese Unfehlbarkeit auch auf alles zu erstrecken, was notwendig ist, um die Lücken im System zu füllen.
Wo sie dies trotzdem tut, übt sie nicht das unfehlbare Lehramt oder Lehramt i.e.S. aus, sondern nur ein Lehramt i.w.S., das allenfalls dem über den kirchlichen Zuständigkeitsbereich des Lehramts hinausgehende „Hirtenamt“ subsumiert werden kann. Mit diesem bietet die Kirche Hilfestellung in den verschiedensten Lebenslagen an und beruft sich dabei auf ihren großen Erfahrungsschatz auch im weltlichen Bereich. Man kann der Kirche das Recht, den Gläubigen Ratschläge zu erteilen, nicht absprechen, weil es jedem Menschen freisteht, (einem) Anderen solche Ratschläge zu erteilen.
Leider verwendet die Kirche den Begriff des Lehramts aber in unterschiedsloser Weise – für das Lehramt i.e.S. und für die Äußerungen im Rahmen des Hirtenamtes. Sie verwirrt damit all jene Gläubigen, die selbst nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten in der Lage sind bzw. wären, selbst eine Zuordnung nach materiellen Kriterien vorzunehmen. Auf diese Weise ist über die undifferenzierte Verwendung des Begriffes „Lehramt“ eine schleichende Ausweitung des kirchlichen Unfehlbarkeitsanspruches erfolgt, die den Traditionalisten nicht ungelegen kommt. Die Progressisten stehen – falls sie nicht genug theologische Kenntnisse besitzen oder sich nicht theologischen Rat verschaffen können – dieser Entwicklung hilflos gegenüber, soweit nicht ihr Gewissen sie dann doch in die Lage versetzt, das Eine oder Andere als falsch zurückzuweisen – besonders dann, wenn es hanebüchen oder gar absurd ist.
Die schlampige Verwendung des Begriffs „Lehramt“ durch das kirchliche Lehr- bzw. Hirtenamt selbst hat auch dazu geführt, den Anspruch auf authentische Auslegung des Naturrechts zu erheben. Auf diesen Anspruch, der stracks in den sog. Integralismus führt, wird im Folgenden noch zurückzukommen sein.
Gewissen unter oder über dem kirchlichen Lehramt?#
Aber jetzt zurück zum Riss in der Kirche und dem Versuch, denselben zu kitten! Der richtige Ansatz dafür scheint mir im Stellen und/oder Beantworten einiger Grundfragen zu liegen, die sich alle auf die fides quae, also auf das beziehen, was die Einen oder Anderen als Glaubensinhalte sehen; denn wäre man sich über die Antwort(en) darauf einig, gäbe es ja keinen Grund zur Verketzerung der Gegenseite, d.h. keinen Vorwurf der Einen, die Anderen würden irrgläubig sein, und vice versa.
Nun wäre selbst das noch kein Grund, sich in die Haare zu kriegen, denn immerhin gibt es ja die moraltheologische Denkfigur des „unverschuldet irrenden Gewissens“. Aber schon in diesem Punkt wird der Riss deutlich. Denn für die Einen (die Traditionalisten) hat jeder Christ die Pflicht, sein Gewissen von der Lehre der Kirche leiten zu lassen – worauf er dann kein irrendes Gewissen mehr haben könne. Die Anderen (die Progressiven oder Realisten) sind der Meinung, dass die Lehre der Kirche niemals alle auftauchenden Fragen von vornherein beantworten könne. Der Christ wäre daher im Zweifel auf sein Gewissen (zurück)verwiesen, das über die Lehre der Kirche hinaus seine Stütze im Naturrecht fände, das Gott den Menschen schon mit der Schöpfung mitgegeben, ihnen aber auch schon „ins Herz gelegt“ habe.
Der Umstand, dass es über Inhalt und Sinn der kirchlichen Lehre ja auch verschiedene Auffassung geben und die Auffassung der einen oder die der anderen Seite ihrerseits auf einem unverschuldet irrende Gewissen beruhen kann, zeigt schon, dass dem Christen die Verantwortung, nach seinem Gewissen zu handeln, auch durch die Lehre der Kirche nicht abgenommen werden kann. Das Gewissen liegt der Lehre der Kirche ja immer voraus, ist immer umgreifender als diese, weil – um es auf den Punkt zu bringen – das, was Lehre der Kirche ist oder nicht ist, ja wiederum nur vom Einzelnen nach seinem Gewissen entschieden werden kann.
„Autonomie“ des Gewissens#
In der Literatur spricht man in diesem Zusammenhang manchmal auch von einer Autonomie des Gewissens oder von einer moralischen Autonomie des Individuums. Das wird manchmal nach zwei Seiten hin missverstanden. Auf der einen wird fälschlicherweise angenommen, dass der Mensch das Recht habe, sich seine Moral völlig frei selbst nach seinem Gutdünken oder, besser, nach seiner Willkür zu entwerfen bzw. zu gestalten. Auf der anderen Seite gibt es die ebenso falsche Meinung, ein nicht an der Lehre der Kirche orientiertes Gewissen habe überhaupt keine Orientierungsgrundlage mehr. Letztere Meinung ist deshalb falsch, weil die Grundsätze, an denen sich das Gewissen orientieren kann und muss, dem Menschen schon als solchem mit seiner Vernunftnatur „eingegossen“ sind. Mit ihrer Hilfe können aus der gesamten Schöpfung von Gott in diese Grundsätze hineingelegte Richtlinien bzw. Regeln (das ius divinum naturale) für das menschliche Verhalten abgeleitet werden. Weil sie die (Grundrechte und) Grundpflichten des Menschen aus dem Wesen (oder, wie man traditionell auch sagt, aus der Natur des Menschen und der Gesellschaft) erkannt bzw. erhoben werden können, werden sie herkömmlich auch als Naturrecht bezeichnet. Das menschliche Gewissen ist daher auch dann nicht orientierungslos, wenn es seine letzte Orientierung aus der Natur des Menschen und der Gesellschaft entnimmt, nicht aber aus der Lehre der Kirche. Nämlich an das Naturrecht gebunden, das ja seinerseits – wie gerade ausgeführt – ebenfalls göttliches Recht ist, nämlich ius divinum naturale.
Erstere Meinung ist ebenfalls falsch, weil der Mensch ja Teil der Schöpfungsordnung ist und diese Ordnung bei seinem Verhalten zu beobachten hat. Er muss sich daher an die mit seiner Vernunftnatur eingegossenen Grundsätze und die aus der Natur des Menschen und der Gesellschaft ableitbaren Regeln halten. Dabei kann von vornherein nicht davon ausgegangen werden, diese Regeln könnten durch etwaige in der Offenbarung enthaltene Anordnungen abgeändert worden sein. In diesem Sinn hat schon der Gründer und das erste Haupt der Schule von Salamanca der spanischen Moraltheologen im 16. Jahrhundert, Francisco de Vitoria, festgestellt: „Nichts, was von Natur aus erlaubt ist, kann durch die Offenbarung verboten sein. Gerade darin besteht die evangelische Freiheit.“
Naturrecht und kirchliches Lehramt#
Diese durch die kirchliche Praxis erst ignorierte, später auch bekämpfte Auffassung, welche konsequenter Weise zur Anerkennung des Primats des Gewissens über die kirchliche Lehre führt, hat die Kirche im 20. Jahrhundert – zuerst unter Papst Pius XII. – veranlasst, für sich in Anspruch zu nehmen, auch für die authentische Interpretation des Naturrecht zuständig zu sein. Sie sei ja berufen, den ganzen Menschen in all seinen Belangen zum ewigen Heil zu führen. Diese typisch integralistische Auffassung führte kirchenoffiziell zu allerlei merkwürdigen Verboten, etwa: mit Menschen anderer politischer Überzeugungen z.B. in Form einer Gewerkschaft zusammenzuarbeiten, Parteien mit einem „unchristlichen“, d.h. von der Kirche abgelehnten Programm zu wählen oder mit ihnen auf politischer Ebene zu koalieren bzw. zu kooperieren. Besonders in Italien mischte sich die Kirche in die Politik ein, indem z.B. die Bischöfe vor den dortigen Wahlen jede Unterstützung der Kommunisten mit der Exkommunikation bedrohten. Ein solcher Integralismus wurde zwar schon zu Lebzeiten des Papstes unter der Hand, nach seinem Tod aber auch öffentlich von den meisten Theologen abgelehnt, weil er zuletzt alle menschlichen und gesellschaftlichen Bereiche dem Diktat der Kirche unterwerfen würde. Er fand aber irgendwie doch noch Eingang in die Akten des Zweiten Vatikanischen Konzils und unter den Pontifikaten Johannes‘ Pauls II. und Benedikts XVI. auch wieder mehr Zuspruch.
Jede „authentische Interpretation“ des Naturrechts durch die Kirche stößt aber an die gleichen Grenzen wie die Lehre der Kirche insgesamt; sie steht unter dem Vorbehalt zugunsten der besseren Einsicht des am Naturrecht orientierten Gewissens.
Dass es zuletzt also keine über dem Gewissen stehende kirchliche Lehre oder Vorgabe aufgrund „authentischer Interpretation“ des Naturrechts geben kann, auf dem Weg der Formierung dieses Gewissens aber nicht nur einerseits die kirchliche Lehre als Weitergabe des „hinterlegten Glaubensschatzes“ der Kirche (depositum fidei samt des darin enthaltenen ius divinum positivum, dem geoffenbarten göttlichen Recht), sondern andererseits auch das Naturrecht in Betracht zu ziehen ist, sollte eigentlich zu einer Befriedung zwischen den beiden Seiten führen, oder wenigstens zu einem Waffenstillstand. Naturrecht allerdings als solches und nicht als von der Kirche „authentisch interpretiertes“! Im Respekt der Einen vor der (anderen!) Meinung der Anderen ist ein Zusammenleben im Rahmen der Kirche, also eine „Communio“, auch im Sinne einer „Kommunionsgemeinschaft“ möglich.
Keine Koexistenz von Wahrheit und Irrtum?#
Dass dies bisher nicht möglich war, liegt daran, dass zwar die Progressisten oder Realisten bereit wären, auch der traditionalistischen Auffassung den Charakter einer tolerierbare Position in der Kirche zuzubilligen – und sei es auch nur unter Zubilligung eines unverschuldet irrenden Gewissens an jene, die ihr anhängen. Die Traditionalisten zeigen aber vice versa keine derartige Bereitschaft, dem, was sie als Irrtum in der Kirche ansehen, und jenen, die ihm anhängen, eine auch nur zumindest vorläufige Daseinsberechtigung in der Kirche zuzubilligen. Nämlich vorläufig bis zu jenem Zeitpunkt, wo sich alle Progressisten oder Realisten (nach Meinung der Traditionalisten) bekehrt hätten oder spätestens beim Jüngsten Gericht eines Besseren belehrt würden. Die Traditionalisten vertreten vielmehr die Auffassung, dass das, was sie als Irrtum ansehen, und jene, die diesem Irrtum anhangen, wie ein Krebsgeschwür seien, das aus dem Leib der Kirche entfernt werden müsse. Ihre bevorzugtes Instrument wäre der Ausschluss aller Andersdenkenden aus der Kirche; nachdem aber ein (katholisch) Getaufter für immer Glied der (Katholischen) Kirche bleibt, weshalb auch ein Austritt aus ihr nicht möglich ist, bleibt nur der Ausschluss aus dem Leben der Kirche, also die Exkommunikation.
Fußnoten#
[1] Mit derartigen Scherzen muss man freilich vorsichtig sein, weil die „Altgläubigen“ dies wieder einmal zum Anlass nehmen könnten, ihre vorkonziliare Haltung als Festhalten am „bisherigen“, dem „alten“, Glauben auszugeben, während die „Neugläubigen“ ihrer Meinung nach von eben diesem „alten“, dem immer gültigen und daher „wahren“, Glauben abgefallen seien.[2] Vgl. Anm. 1. – Ich nenne die Progressisten auch Realisten, weil sie sich nicht von der Tradition daran hindern lassen wollen, in der Kirche einzufordern, was hic et nunc, also unter dem Umständen unserer Zeit in unserem Verstehenshorizont, notwendig ist.
- Teil II erschien in Gedanken zu Glaube und Zeit, Nr. 323, vom 14. Februar 2020