Der Riss in der Kirche und seine Gründe Teil II[1]#
Ein psychologischer Grund für den kirchlichen Traditionalismus#
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 323/2020
Von
Heribert Franz Köck
mag auch das Verlangen nach einer gesicherten Grundlage sein, die den Traditionalisten nur die Lehre der Kirche geben zu können scheint. Denn nur sie stelle ein geschlossenes System auf der Grundlage der göttlichen Offenbarung dar, das nicht durch Überlegungen „von außen“ (z.B. aus der Philosophie, aus den Naturwissenschaften) „kontaminiert“ worden sei. Nun schafft zwar auch ein noch einmal über die kirchliche Lehre auf das Naturrecht hinausgreifendes Gewissen eine ebenso gesicherte Grundlage. Nicht nur, weil es ja direkt auf göttliches Recht (das so genannte ius divinum naturale) zurückgreifen kann, sondern auch, weil es sich ebenfalls in einem geschlossenen System bewegt, das allerdings neben dem positiven göttlichen Recht, das auf der Offenbarung beruht, auch dem gerade genannten natürlichen göttlichen Recht seinen gebührenden Rang zuweist. Der Unterschied zur „kirchlichen Lehre“ besteht nur darin, dass die Schlüssel zur richtigen Sicht nicht mehr „die Kirche“, d.h. aber: die „Amtskirche“, also der Papst, die Hierarchie, das Konzil usw., zuletzt auch die Glaubenskongregation in Rom, in der Hand hat, sondern der Einzelne mit seinem Gewissen. Dieses Gewissen nimmt ihn freilich auch in größere Verantwortung, weil er zuletzt selbst („autonom“) entscheiden muss, was recht bzw. Recht ist und was nicht.
Damit zeigt sich, dass es nach Auffassung der Traditionalisten letztlich gar nicht auf die Kirche als Volk Gottes, sondern lediglich auf die „Amtskirche“ ankommt.
Das „traditionalistische“ System#
Dieser Sicht liegt, etwas vereinfacht, aber durchaus korrekt dargestellt, das folgende Konstrukt zugrunde: An der Spitze steht der Christus Jesus, dem von Gott „alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden“ (Mt 28, 18). Jesus hat den Petrus als ersten Papst eingesetzt (vgl. Mt 16, 18 und Jh 21, 15-17), weshalb sich später für den Papst auch der Titel vicarius Christi, also Stellvertreter Christi auf Erden, eingebürgert hat). Die Bischöfe sind zwar „vom hl. Geist gesetzt“, dürfen ihr Amt aber nur in Einvernehmen mit dem Papst ausüben.
Die wichtigste Aufgabe des Papstes und der Bischöfe ist, die Lehre Jesu zu allen Völkern zu tragen; daneben kommt ihnen auch die Verwaltung der Sakramente zu, die sie geneinsam mit den Priestern den Mitgliedern des Volkes Gottes spenden. Dass die Lehre Jesu vom Papst und den Bischöfen unverfälscht weitergegeben wird, dafür sorgt der Heilige Geist, der durch sie, also die „Amtskirche“, die Kirche und ihre Lehre unfehlbar macht.
Dem Papst und den Bischöfen haben alle Mitglieder der Kirche (bzw. der Katholischen Kirche, wenn man sie allein als die wahre Kirche betrachtet) zu gehorchen. Ob dies nur für den geistlichen oder auch für den weltlichen Bereich gilt, war und ist auch unter den Traditionalisten noch nicht völlig geklärt. (Dem integralistischen Ansatz ist besonders Bonifaz VIII. mit seiner Bulle Unam sanctam [1302] angehangen, er konnte sich aber damit nicht durchsetzen. Im 20. Jahrhundert hat dann insbesondere Pius XII. dem integralistischen Ansatz gefrönt (unter undifferenzierter Berufung auf das Wort Jesu: „Wer Euch hört, hört mich!“ [Vgl. Lk, 10, 16]).
Da sich die Unfehlbarkeit der kirchliche Lehre nur auf das depositum fidei, also auf jenen Glaubensschatz, den Jesus hinterlassen hat, bezieht, könnte sich auch hier noch ein Loch im geschlossenen System auftun, indem Meinungsverschiedenheiten darüber auftreten, was nun wirklich zum depositum fidei gehört und wieweit die Unfehlbarkeit der kirchlichen Lehre daher reicht. Dieses Loch wird auf traditionalistische Weise dadurch gestopft, dass diese Unfehlbarkeit auch auf die Beantwortung der Frage ausgedehnt wird, was alles zum depositum fidei gehört. Damit kann der kirchlichen Lehre auch nicht vorgeworfen werden, sie habe ihre Kompetenz inhaltlich (ratione rei, d.h. sachlich) überschritten. So hängt alles von der Amtskirche und – aufgrund der Unterordnung der Bischöfe unter den Bischof von Rom – zuletzt vom Papst ab. Das hat in der Auseinandersetzung mit den Reformatoren soweit geführt, dass ein katholischer Apologet sich zur Behauptung versteigen konnte, alles, selbst die Evangelien, würden ihre Verbindlichkeit nur von der sie stützenden Autorität des Papstes ableiten.
Da – nach traditionalistischer Sicht – dem Papst alles zu glauben und in allem zu gehorchen ist, konnte die römische Kanonistik, ermutigt durch das Erste Vatikanische Konzil, das 1870 den Universalepiskopat des Papstes und seine Unfehlbarkeit in Fragen des Glaubens und der Sitte definiert hatte, in der Folge das gesamte Kirchenrecht auf den Satz reduzieren: „Papa omnia potest“ – der Papst kann alles machen.
Derartige in sich geschlossene Systeme, die sich und ihre Kompetenzen selbst definieren, gleichen freilich dem Versuch des Freiherrn von Münchhausen, sich selbst am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen. Jedes in sich geschlossene System muss nämlich an irgendeinem festen Punkt außerhalb seiner selbst „aufgehängt“ werden, um nicht mit allen seinen Ansprüchen „in der Luft zu hängen“. Das geschlossene System kann sich nämlich nicht selbst legitimieren; es muss von außen legitimiert werden.
Das geschlossene System braucht zu seiner Legitimierung also den Nachweis, dass es in allen seinen Aspekten wohlbegründet ist. Dieser Nachweis kann nicht durch eine (Selbst-) Behauptung des Systems (Zopf des Münchhausen!) geführt werden. Der Nachweis kann nur von außerhalb des Systems erbracht werden.
Die Traditionalisten müssen daher insbesondere überzeugend zeigen,
(a) dass Jesus den Petrus zum „Papst“ eingesetzt hat,
(b) dass Jesus dem Petrus alle jene Kompetenzen übertragen hat, auf die sich die kirchliche Lehre heute beruft,
(c) dass die römischen Bischöfe die Nachfolger des Petrus sind,
(d) dass der Papst schon als solcher, also allein, von Jesus die Vollmacht übertragen bekommen hat, die ganze Kirche zu leiten und das Glaubensgut unfehlbar darzulegen,
(e) dass die Bischöfe von Jesus die Vollmacht übertragen bekommen haben – wenn auch immer nur zusammen mit und unter dem Papst – als Kollegium die ganze Kirche (und als Einzelne insbesondere den Bereich ihrer spezifisch eigenen territorialen oder kategorialen Zuständigkeit) zu leiten und das Glaubensgut unfehlbar darzulegen,
(f) dass der Papst und die Bischöfe – letztere immer nur mit und unter dem Papst – von Jesus die Vollmacht übertragene bekommen haben, ihre eigenen Kompetenzen in unfehlbarer Weise „abzustecken“ (zu definieren), sodass man sich dagegen nicht auf die Schrift und/oder die Tradition berufen kann, und
(g) dass es allein dem Papst und den Bischöfen – letzteren immer nur mit und unter dem Papst – zukommt, zu entscheiden, ob an einer Erscheinung oder Nachricht (Gottes, Jesu, der Heiligen) „etwas dran ist“, sie also von den Gläubigen als „echt“ angenommen werden darf.
Tatsächlich ist aber keiner der gerade genannten Punkte theologisch unumstritten. (Hier muss auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen werden.) Dies gilt insbesondere für den Inhalt des Begriffes der Unfehlbarkeit. Bedeutet das mehr, als was Küng mit der Formulierung „Kirche gehalten in der Wahrheit“ gemeint hat?
Der naturrechtliche Ansatz#
Aus der bloßen Exegese der Schrift und der Beurteilung der Tradition kann nicht mehr abgeleitet werden, als das, was bei jeder Gemeinschaft ihrem Wesen nach gefordert werden muss, nämlich
- dass jede Gemeinschaft, also auch die Kirche, Strukturen braucht, die ihr Funktionieren gewährleisten sollen. Diese Strukturen müssen die Organe und deren Kompetenzen, aber auch die Verfahren festlegen, mit denen die Organe ihre Kompetenzen ausüben,
- dass in jeder Gemeinschaft, also auch die Kirche, schon als solcher das notwendige Minimum an Recht zumindest in seinen Grundsätzen besteht (ubi societas, ibi ius), und
- dass diese Grundsätze schon aus dem Wesen (der Natur) der betreffenden Gemeinschaft, also auch der Kirche, abgeleitet werden können bzw. müssen, sodass es keiner darüber hinausgehenden besonderen Stiftung und Ausgestaltung dieses Rechts durch einen Stifter bedarf.
Solche Strukturen bilden sich in der Regel zuerst auf dem Wege der Praxis heraus, also gewohnheitsrechtlich. Dabei genügt es, dass einzelne Personen oder Gruppierungen eine bestimmte Praxis setzen, weil sie dieselbe für notwendig oder doch zweckmäßig halten; durch die ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung der übrigen Personen oder Gruppierungen wird dann allgemeines Recht erzeugt, das soweit für Alle zustande kommt, als auch Alle einer entsprechenden Regelung bedürfen.
Hat man sich einmal auf die Art und Weise geeinigt, wie innerhalb dieser Strukturen (neues) Recht erzeugt werden kann, so kann dann diese Rechtserzeugung durch die dafür bestimmten Organe vorgenommen werden. Auf diesem Wege der Rechtserzeugung können die Strukturen auch weiter ausgestaltet werden, doch dürfen die rechtsetzenden Organe dabei ihre Kompetenzen nicht überschreiten.
Demokratie als Grundordnung#
Die „politische“ Ordnung jeder Gemeinschaft, also auch der Kirche, ist nach Naturrecht eine demokratische. Dagegen kann man sich nicht auf irgendein Führerprinzip berufen, gleichgültig, ob dasselbe nun behauptetermaßen vom Volk oder von Gott begründet sein soll. Auch wenn die Kirche Strukturen herausbilden sollte bzw. herausgebildet hat, die der demokratischen Mitbestimmung Aller keinen ausdrücklichen Platz einräumen, so kann dadurch das naturrechtlich verankerte demokratische Prinzip nicht außer Kraft gesetzt werden.
Gleiches gilt im Übrigen auch für den Staat. Selbst wenn derselbe (etwa im Zuge der strafferen Organisation) nicht-demokratische Strukturen entwickelt, bleibt doch dem Einzelnen sein Recht auf demokratische Mitbestimmung erhalten. Wieweit es dem Einzelnen freilich möglich ist, dieses Recht auf demokratische Mitbestimmung auch durchzusetzen, hängt u.a. vom Bewusstseinsstand der jeweiligen Gesellschaft ab, der kirchlichen wie der staatlichen. Auch im Staat ist das Recht auf demokratische Mitbestimmung erst im 19. und 20. Jahrhundert wieder entdeckt und politisch erkämpft worden, und das auch nur dort, wo das notwendige gesellschaftliche Bewusstsein ausreichend entwickelt war und ist. Dies ist selbst im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts nur bei den am höchsten zivilisierten Staaten (das sind die Staaten mit der Tradition des christlichen Abendlandes und der Aufklärung) der Fall, während sich die Demokratie weltweit bisher noch nicht durchgesetzt hat.
Menschenrechte#
In der Kirche ist als Strukturprinzip immer noch der Absolutismus herrschend, der – gerade als die Staaten im 19. Jahrhundert diesen Absolutismus (alle Macht konzentriert im Fürsten) überwanden – in der Kirche durch das Erste Vatikanische Konzil 1870 zugunsten des Papstes (Universalepiskopat, Unfehlbarkeit) einzementiert wurde. Das hatte zur Folge, dass bis heute in der Kirche die Menschenrechte – die ja Rechte des Menschen kraft seiner Natur sind und daher gegenüber allen Autoritäten, seien sie weltliche oder geistliche, gelten müssen – noch keine umfassende Anerkennung gefunden haben. Dies mit der doppelten, aber widersprüchlichen Behauptung, gegen eine von Jesus eingesetzte (und daher zuletzt göttliche) kirchliche Ordnung könne sich niemand auf „Menschenrechte“ berufen; überdies bedürfe es solcher auch gar nicht, weil die Rechte des Christen als Menschen ohnedies in der Kirche mit ihrer göttlichen Ordnung besser abgesichert seien als im Staat.
Auch solche für die Traditionalisten typischen Argumente sind unhaltbar. Die Menschenrechte sind nämlich im Naturrecht verankert und damit Teil des ius divinum naturale. Daher können sie selbst durch eine von Jesus gestiftete göttliche Ordnung in der Kirche weder außer Kraft gesetzt noch eingeschränkt worden sein. Auch hier wieder zeigt sich, dass die Struktur bzw. die Lehre der Kirche kein in sich geschlossenes System ist, sondern im Lichte des Naturrechts, zu dem der Einzelne und sein Gewissen einen unmittelbaren Zugang haben, interpretiert werden muss. (Zur Erinnerung: „Nichts, was von Natur aus erlaubt ist, kann durch das Evangelium verboten sein“. Dieser Satz gilt auch für die dem Menschen von Natur aus zustehenden Rechte; sie können ihm nicht durch Jesu Stiftung der Kirche und ihrer Ordnung genommen worden sein.)
Kann der Riss in der Kirche gekittet werden?#
Solange die Traditionalisten nicht bereit sind, den Progressisten bzw. Realisten die gleiche Daseinsberechtigung in der Kirche zuzugestehen, die sie für sich beanspruchen, wird der Riss nicht gekittet werden können. Insoweit muss man auf das Aussterben der Traditionalisten warten. Dieses „Aussterben“ muss nicht wörtlich genommen werden. Es genügt auch, wenn sie allmählich aus den Schaltstellen entfernt werden, an denen sie immer noch sitzen. Dafür müssen wir nicht auf ihren physischen Tod warten; es genügt schon, wenn sie von den Schaltstellen in der Kirche allmählich Abschied nehmen müssen, weil sie das Pensionsalter erreicht haben und auf ihre Stelle kein anderer Traditionalist nachrückt.
Gerade was die Amtskirche anlangt, ist da – solange der Absolutismus in der Kirche weiter besteht – der Papst gefordert.
Fußnote#
[1] Teil I erschien in Gedanken zu Glaube und Zeit, Nr. 322, vom 8. Februar 2020